VI. KAPITEL

Sturm

 

Das Abendessen wurde wieder vom Wirt persönlich aufgetragen. Diesmal jedoch mußte er es beiden getrennt servie­ren. »Meine Tochter hat sich mit diesem Braten selbst übertrof­fen«, sagte er. »Und kostet erst von diesem herrlichen Gewürz­wein. Es ist der beste Tropfen in meinem Keller, nach einem alten Geheimrezept hergestellt. Er kommt aus dem Ausland. Ein ganz besonderer Genuß für ganz be­sondere Gäste.« Er ließ es sich nicht nehmen, Peter gleich einzuschenken. Dieser, einem guten Glase von je her nicht abgeneigt, ließ sich nicht zweimal bitten. Gierig schüttete er einen ganzen Becher des roten Rebensaftes in sich hinein. Der Wirt beobachtete ihn hierbei scharf und in seinen kleinen Äuglein glitzerte es listig, was von Peter freilich nicht bemerkt wurde. Um seinen Mund spielte ein hämisches Grinsen. Peter jedoch sah nicht auf den Wirt, sondern blickte tief in den Becher. Der Wein war süß, würzig und schwer, so wie Peter ihn am liebsten mochte. Er schickte den Wirt zum Teufel und goß sich einen weiteren Becher voll ein. Schon sehr bald spürte er, wie ihm der Wein zu Kopfe stieg, denn bei aller Vorliebe für geistige Getränke vertrug er doch kaum einen rechten Schluck.

Das Essen, obgleich es schmackhaft aussah und verlockend duftete, ließ er fast unberührt stehen. Nach dem zweiten Becher fühlte er bereits deutlich eine ange­nehm dumpfe Müdigkeit, die sich bleiern auf seine Glieder legte. Beim Versuch sich einen dritten Becher einzuschenken stieß er allerdings den Krug um, so daß der gute Wein statt in Peters Bauch auf dem Fußboden landete. Peter ärgerte sich darob sehr. Aber als er rasch aufstehen und noch retten wollte, was zu retten war, merkte er, daß er erhebliche Koordinationsschwierigkeiten hatte. Unter einiger Anstrengung schaffte er es, sich hinüber zum Bett zu schleppen, wo er sich so­gleich ausstreckte, und wenig später war er auch schon eingeschlafen.

Vielleicht sollten wir hier zu Peters Rechtfertigung erwähnen, daß die Becher doch recht groß waren und der Wein süß und stark war.

Wie dem auch sei, wahrend Peter sich selber außer Gefecht gesetzt hatte und nun friedlich schlummernd von warmen, sonnigen Gefilden und von Alissandra träumte, benahm sich diese doch weitaus vernünftiger. Alissandra trank eher selten Wein und konnte den schweren roten ohnehin nicht besonders leiden, und so hatte sie ihren Wein reichlich mit Wasser verdünnt. Der Braten hingegen schmeckte ihr ausgezeichnet. Als sie ihr ausgiebiges Mahl beendet hatte, begann sie, was davon übrig geblieben war, als Proviant für die Reise einzupacken. Nachdem sie alles zum Aufbruch gerüstet hatte, legte sie sich auf das Bett und ruhte ein wenig, sorgsam darauf bedacht, es sich nicht zu bequem zu machen, damit sie nicht etwa den Zeitpunkt des Aufbruchs verschlief.

Auch Tamina hatte im Augenblick alle Hände voll zu tun. Sie mußte nicht nur das Essen zubereiten, sondern auch die ganze Räuberbande bedienen, die sich lauthals singend und grölend in der Schankstube mit Bier und Wein betrank.

Aus dem Hinterzimmer neben der großen Schankstube rief Borg der Wirt nach ihr. Seufzend wischte sie sich mit einem Zipfel der Schürze über die Stirn. Sie eilte in die Küche und betrat kurz darauf mit einer Schüssel und zwei Weinkrügen das Nebenzimmer. Dort saßen Borg, der Räuberhauptmann Sminjan und zwei weitere Räuber — ihrer Kleidung und Aufmachung nach gehörten sie zum engeren Gefolge des Hauptmanns — beim Wein und waren in eine ausgelassene Unterhaltung vertieft. Der Wirt war eben im Begriffe Spielkarten zu mischen und in der Mitte des Tisches lag ein ansehnlicher Haufen von silbernen und goldenen Münzen.

»Na endlich kommt der Wein«, brummte Borg verdrießlich, denn er hatte gerade eine größere Summe an Sminjan verloren. »Hallo, mein schönes Kind! Wie wär's mit uns beiden, he?« fragte einer der jüngeren Räuber anzüglich. »Laß das Mädel in Ruh' Arno! Die ist nichts für dich«, sagte Sminjan grob. »Ich bin der feinen Dame wohl nicht gut genug«, entgegnete Arno gereizt. »Du bist der Dame zu besoffen«, entgegnete der andere, worauf die Runde in ein grölendes Gelächter einstimmte. »Jetzt gebt endlich eine Ruh' und laßt uns weiterspielen!« donnerte Sminjan und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Münzen klirrten. Während sich die Männer wieder ihrem Spiele zuwendeten, begab sich Tamina in die Küche, wo sie hastig allerlei Lebensmittel zusammenpackte und zu einem handlichen Bündel verschnürte. Dann schlich sie sich leise in ihre Schlafkammer und packte ihre wenigen Habe. Von den Gedanken an die ungewisse Zukunft aufgewühlt, ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Sie blickte versunken auf den Fußboden und zählte die Fließen. Das Zählen beruhigte sie. Immer, wenn sie nicht schlafen konnte, oder aufgeregt war, mußte sie irgend etwas zählen; da half am besten. Sie versuchte sich an frühere, bessere Tage zu erinnern, als sie noch ein kleines Mädchen war und die Mutter noch lebte und ihr Vater. Dies trieb ihr unwillkürlich die Tränen in die Augen, und so sehr sie sonst das Weinen verabscheute, wehrte sie sich nun nicht dagegen. Je mehr Tränen ihre glühenden Wangen hinabflossen, um so mehr wurden die bösen und schmerzlichen Erinnerungen aus ihrem Herzen fortgespült.

So verging Minute auf Minute, Stunde um Stunde. Bald wurde es ruhiger im Hause. Einer nach dem anderen war entweder trunken in sein Bett getorkelt oder unter den Tisch gesunken. So kehrte endlich, lange nach Mitternacht Stille ein in der Wirtschaft. Nur im Hinterzimmer der Schankstube saßen Sminjan und Borg, welcher für einmal großes Glück im Spiele gehabt hatte, wovon ein schöner Haufen dicker Münzen vor ihm auf dem Tische zeugte. Sminjan, der ihm gegenüber saß, machte ein verdrießliches Gesicht und starrte finster auf die Karten in seiner Hand. Die beiden jüngeren Räuber hatten sich längst, nachdem sie ihr Geld verspielt und obendrein noch in Streit geraten waren, zurückgezogen. So dauerte es denn auch kaum mehr als eine halbe Stunde, bis Borg, auf dem Tische, die Arme um sein gewonnenes Vermögen geschlungen selig eingeschlummert war, und nur noch Sminjan unruhig in seinem Bette wach lag und keinen Schlummer finden wollte. Trotz eines Reserve-Asses im Ärmel hatte Borg ihn ausgestochen und ihm eine empfindliches Loch in den Beutel geschnitten. »Warte Borg! Wie gewonnen, so zerronnen«, dachte er und zog sich die Decke bis ans Kinn.

Tamina, die lange gegen die Müdigkeit zu kämpfen hatte, stand auf und vergewisserte sich, daß alles im Hause schlief. Dann packte sie ihre Sachen und hüllte sich in ihren Wollenen Wintermantel. Leise, sorgfältig darauf bedacht, alle knarrenden Dielen zu umgehen, schlich sie auf Zehenspitzen in die Küche und schlüpfte zur Hintertür hinaus.

Draußen empfing sie ein eisiger Windstoß, der heftig an ihrem Mantel und ihren Haaren zerrte. Wie angenehm empfand sie dagegen die Lebendige Wärme des keineswegs beheizten , aber deutlich wärmeren Stalles. Einige der Pferde lagen in dem Stroh, alle Viere von sich gestreckt; andere standen mit hängenden Ohren und halb geschlossenen Augen dösend in ihrem Stand. Bei Taminens Eintritt hoben manche den Kopf und spitzten neugierig die Ohren.

»Hoffentlich kommen Peter und Alissandra bald«, dachte sie und machte es sich in einer Ecke auf dem Stroh bequem. Obwohl sie sich nur ein wenig ausruhen wollte, war sie wenig später eingenickt.

Alissandra schlug die Augen auf. Im Zimmer war es fast völlig dunkel, nur im Kamin glühte unter einer dicken Schicht Asche noch ein rötlicher Schimmer. Leise stand sie auf und zog sich an. Nachdem sie ihren Degen umgürtet hatte, nahm sie ihr Gepäck — zwei vollbepackte Satteltaschen — über die Schulter, vergewisserte sich, daß sie nichts liegengelassen hatte und ging zur Tür. Vorsichtig, Millimeter für Millimeter schob sie den eisernen Riegel, beiseite, der sonst verdächtig laut quietschte. Vorsichtig spähte sie hinaus. Auf dem Gang war alles still und dunkel. Als sie sicher war, daß niemand etwas bemerkt hatte, glitt sie geräuschlos hinüber zu Peters Zimmer. Die drückte die Klinke, aber die Tür war von innen verschlossen. Da sie nicht wagte zu klopfen, kratzte sie mit den Nägeln über das rauhe Holz, in der Hoffnung, Peter mochte sie hören. Keine Reaktion. Sie bückte sich, um durch das Schlüsselloch zu sehen, aber im Innern war es so finster, daß sie nicht einmal die Umrisse der Möbelstücke erkennen konnte. »Dieser Taps ist bestimmt eingeschlafen und merkt nichts«, dachte sie ärgerlich. Ein leiser Schrecken beschlich sie. Was sollte sie jetzt tun? Sie durfte keinen Lärm machen, aber sie konnte ihn auch nicht einfach hier zurücklassen. »Dieser Dummkopf! Es würde ihm recht geschehen, wenn ich ihn hier zurückließe.« Selbstverständlich dachte sie nicht ernsthaft daran, Peter im Stich zu lassen. »Na gut, dann eben durchs Fenster«, murmelte sie und ging zurück in ihr Zimmer. Sie öffnete das Fenster, was sich allerdings nicht ohne erhebliche Geräuschentwicklung bewerkstelligen ließ. Mehrmals fürchtete sie bereits, gehört und entdeckt worden zu sein, aber zu ihrer größten Erleichterung blieb alles dunkel im Haus.

Der Sturm trieb ihr körnige Schneeflocken ins Gesicht. Angestrengt versuchte sie mit zusammengekniffenen Augen geeignete Ritzen oder Vorsprünge zu finden, daran sie sich festhalten könnte. Es würde bestimmt eine knifflige Angelegenheit werden, in das angrenzende Zimmer zu gelangen. Sie fürchtete weniger die Gefahr eines Sturzes — das Fenster lag im ersten Stock und unten lag genug weicher Schnee — als vielmehr, daß, sollte sie einmal unten sein, sie nicht wieder hinauf käme. Auch war die Fassade sehr glatt und eben. Unter dem Fenster gab es einen schmalen Vorsprung, normalerweise gerade breit genug, sich bequem daran festzuhalten, jetzt aber zeigte er sich von einer Deichen Schicht körnigen Schnees bedeckt.

Der Stein war eiskalt und rasch wurden ihre Finger klamm und steif. Nach mehreren Beinahe-Abstürzen hatte sie es geschafft. Das Fenster war natürlich geschlossen. Zum Glück aber standen die Läden offen, so daß sie sich an den massiven Brettern festhalten konnte. Vorsichtig pochte sie gegen das Glas. Nichts geschah. Dann schlug sie fester zu. Immer noch keine Reaktion. Es blieb ihr nichts übrig, als die Scheibe mit möglichst wenig Geräusch einzuschlagen. Ein Unterfangen, welches sich schwieriger erwies, als erwartet, waren die einzelnen Glasscheiben verhältnismäßig klein und dick. Sie rammte ihren Ellenbogen gegen das Glas. Beim dritten, recht schmerzhaften Versuch gab die Scheibe nach und fiel geräuschlos hinein.

Jetzt war es kein Problem mehr, mit der Hand durch das Loch zu greifen und den Griff zu drehen. Sie schwang sich hinein und landete mit dem Fuß auf der Glasscheibe, die knirschend zerbarst. Unter dem Fenster lag Peters Mantel, der die Scheibe aufgefangen hatte. Sie blickte sich nach Peter um.

Peter lag vollständig angekleidet im Bett und schlief tief und zufrieden. Er lag auf dem Bauch und hielt sein Kissen mit beiden Armen fest umklammert. Ja, das sieht ihm ähnlich! dachte sie und weckte ihm mit ein paar heftigen Stößen zwischen die Rippen. »He! Was soll denn das?« murmelte er schläfrig. Als er Alissandra neben sich gewahrte, wurde er plötzlich hellwach. »Ich — muß wohl für einen Augenblick eingenickt sein.« Zum Glück konnte er im Dunkeln Alissandras Gesichtsausdruck nicht wahrnehmen.

Nachdem ihn die Prinzessin mit einigen nicht sehr prinzessinenhaften Ausdrücken — welche an dieser Stelle wiedergegeben zu werden mir nicht ratsam schien — bedacht hatte, zerrte sie ihn grob aus dem Bette und stieß ihn zu Fenster. Peter indes hatte noch immer etwas Mühe, gerade zu stehen und fingerte mißmutig an den Schnallen seiner Satteltasche herum. Er beugte sich hinaus und blickte in den Hof hinab. »Was? Da soll ich hinunter? Ohne Leiter?« fragte er bestürzt.

»Bitte nimm dich wenigstens für ein paar Minuten ein wenig zusammen.« bat ihn Alissandra entnervt. »Ich werde vorausgehen.« Sie befestigte das Seil an einem der Bettpfosten und warf das andere Ende aus dem Fenster. Flink wie eine Katze angelte sie sich an dem Seil hinab. Unten nahm sie das Gepäck in Empfang. Peters Kletterpartie glich mehr einem Absturz. Dennoch kam er einigermaßen unbeschadet an. Der Wind und die Kälte sorgten dafür, daß er rasch wieder munter und nüchtern wurde.

»Sag mal, wieviel von dem Zeug hast du eigentlich in dich hineingeschüttet?« wollte Alissandra wissen. »Also wirklich!« protestierte Peter. »Ich habe nur einen winzigen Schluck zu mir genommen.«

Wenig später standen sie bereits in dem dumpficht-kühlen Stall, wo die kleine Tamina ihrer bereits ungeduldig harrte. Es wurde wenig gesprochen, denn die Zeit drängte und man wollte so wenig Umstände wie möglich machen. Über dem ganzen Treiben lag eine nervöse Anspannung, die ein Übriges dazu beitrug, einen jeden mit sich selber beschäftigt zu machen. Im Handumdrehen waren die beiden Pferde gesattelt und bepackt. Galant zog Peter Taminen zu sich hinauf in den Sattel, nachdem ihm seinerseits Alissandra auf’s Pferd helfen mußte. Tamina, die noch nie auf einem Pferd gesessen war, klammerte sich an Peter fest, dem dies überhaupt nicht unangenehm war. »Du brauchst keine Angst zu haben, bei mir bist du völlig sicher«, sagte er. »Natürlich. Schließlich passe ich ja auf ihn auf«, brummte Alissandra trocken.

In der inzwischen recht dicken Neuschneeschicht machten die Pferdehufe kein Geräusch und die frischen Spuren würden in kurzer Zeit zugedeckt werden. Wegen der Dunkelheit und der schlechten Sicht, bedingt durch das dichte Treiben der Schneeflocken, mußten sie dicht hintereinander bleiben, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. Alissandra ritt voran. Sie trug den größten Teil des Gepäcks mit sich, wozu auch das große und recht sperrige Schwert Peters gehörte, um Mondenglanz, die zwei Reiter tragen mußte, zu entlasten.

Bald hatten sie den Wald erreicht. Der Wind und das Schneetreiben, die immer heftiger wurden, waren hier weniger stark zu spüren und behinderten das Vorwärtskommen weniger. Dafür wurde das Gelände unwegsamer, und die Reiter hatten Mühe, die eingeschlagene Richtung zu verfolgen, da sie den schmalen Pfad kaum mehr auszumachen vermochten.

Peter tat der eisige Wind gut. Er fühlte sich wieder munter und abenteuerlustig. Tamina hingegen, die hinter Peter auf der Kruppe des Pferdes saß – was für einen längeren Ritt nicht sonderlich bequem war, zumal man sich besser festhalten muß – fand ihre Lage nicht mehr sehr angenehm. Ihr war fürchterlich kalt und ihr Rücken schmerzte von dem ungewohnten Ritt. Sie schlang ihre Arme fester um Peter und drückte sich enger an seinen Rücken. Trotz aller Unbequemlichkeit fühlte sie eine bleierne Müdigkeit langsam in ihr aufsteigen. Das gleichmäßige Schaukeln des Pferdes tat ein Übriges. Die Augen fielen ihr zu und sie ließ ihren Kopf auf Peters Schulter sinken. Nach der ganzen Arbeit in Küche und Hof und der kurzen Dauer der Nachtruhe, die ihr vergönnt war, war es nicht verwunderlich, daß sie bald darauf in einen leichten Schlummer gesunken war. Wenn Peter sie nicht rechtzeitig festgehalten hätte, wäre sie vom Pferde gestürzt.

»Versuche bitte noch eine kleine Weile wach zu bleiben. Wir werden bald eine Rast machen«, rief Peter ihr zu. »Es hat ohnehin wenig Sinn noch länger durch die Finsternis zu reiten. Hauptsache, wir sind weit genug von der Schenke entfernt, so daß sie uns nicht mehr kriegen.« Er rief Alissandra zu, sie möge anhalten. Jedoch bekam er keine Antwort. Sehen konnte er sie auch nicht. Beunruhigt trieb er das Pferd an, doch noch immer war von ihr nichts zu sehen. Ein Schrecken ergriff ihn. »Halt dich fest!« rief er Taminen zu und ließ Mondenglanz angaloppieren. Aus voller Kehle rief er nach Alissandra. Keine Antwort. Seine Augen versuchten die flockige Finsternis zu durchdringen. Allein, er konnte nichts erkennen, was irgendwie nach einem lebendigen Wesen aussah. Er ließ Mondenglanz anhalten und sprang ab. Über die Erde gebeugt, suchte er nach Hufspuren, doch vor ihm lag nur unberührter Pulverschnee. Sein Herz klopfte rasend. Ein mächtiges Gefühl fuhr ihm durch den Leib; er hatte Angst. Wenn er Alissandra nicht wieder fände, so wären sie verloren. Sie allein besaß eine Karte und kannte sich in der Wildnis aus, sie allein verstand etwas von der Fährtensuche, wußte wie man Wasser und Nahrung fand, sich einen Unterstand baute, konnte ohne Streichhölzer Feuer machen.

Tamina, die inzwischen ebenfalls abgestiegen war, packte ihn am Arm und fragte: »Peter, sag’ mir, was ist geschehen? Wo ist Alissandra? Wir haben sie doch nicht verloren?« Peter gab keine Antwort. Er wußte nicht, was er zu der Kleinen sagen sollte. Sie hatte sich ihm anvertraut, und nun war sie dazu verdammt, mit ihm zusammen in der Wildnis zu verschmachten oder eher noch, zu erfrieren. Und alles war seine Schuld. Tamina stieß ihn an und rief: »Wir müssen uns beeilen, Ehe der Schnee die Spuren zudeckt.«

Zu Fuß eilten sie, ihren eigene Spur zurückverfolgend, durch die Nacht. Peter wünschte sich nichts mehr, als eine Lampe zu besitzen, oder wenigstens eine Fackel, aber ohne Streichhölzer oder Feuerzeug hätte er niemals ein Feuer anbekommen, schon gar nicht in vernünftiger Zeit. Immer wieder riefen er und Tamina Alissandras Namen, bis sie schließlich vor lauter Rufen ganz heiser waren. Aber alles war sie zu hören bekamen, waren das Pfeifen des Windes und das Ächzen der Bäume.

Je länger ihre verzweifelte Suche dauerte, desto mehr wuchs Peters Beklemmung. Immer schneller rannte er durch den zum Teil knietiefen Neuschnee, das widerstrebende Pferd hinter sich nachziehend, immer öfter strauchelte er und fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Endlich lag er völlig entkräftet und durchnäßt im Schnee. Sie hatten inzwischen ihre eigene Spur verloren oder der Schnee hatte sie zugedeckt. Er konnte nicht mehr weiter. Tamina sprang vom Pferd und half ihm auf. Sie säuberte seine Kleidung so gut es ging von Schnee und Eis. »Du mußt aufstehen«, sagte sie und zog ihn auf die Beine. Sie hatte recht. Es half nicht, sich jetzt gehen zu lassen. Er sah nach Mondenglanz, die zitternd und schwer atmend dastand. Er strich mit klammen Fingern über ihre Nase und sprach leise: »Tut mir leid, daß ich dich so gehetzt habe.«

»Wir müssen sie zudecken, sonst bekommt sie Fieber«, sagte Tamina, die obgleich sie nicht reiten konnte, sehr viel von der Pflege eines Pferdes verstand. »Da vorne können wir uns lagern«, meinte Peter. »Das sah mir nach einem Felsen aus.« Sie fanden einen großen Felsbrocken, der von Moos und Erde halb bedeckt, aus dem Waldboden ragte. Dahinter fanden sie eine flache, windgeschützte, beinahe schneefreie Mulde. Hier ließen sie sich nieder. Tamina nahm eine der beiden Wolldecken, die eigentlich zum Schlafen bestimmt war und legte sie über Kruppe und Lende des Pferdes. Sie lockerte den Sattelgurt und nahm den Zaum ab. Ein einfaches, aus einem Strick geflochtenes Halfter würde genügen. Sie wußte, daß Pferde nicht gerne allein im Wald herumliefen, sondern lieber im Schutze der Herde blieben.

Peter hatte derweil alle Hände voll zu tun, nach Tannenzweigen zu suchen. Er wünschte, er hätte sein Schwert dabei gehabt, so aber mußte er sich mit seinem Messer behelfen, um die trockenen Zweige von den Ästen abzuschneiden. Die Zweige würden einen guten Schutz gegen die Kälte geben, wenn man sein Lager damit auslegte. »Wenn wir jetzt noch ein Feuer hätten, könnten wir die Nacht ganz gut überstehen«, meinte Peter und betrachtete das ordentlich dicke Nest aus Tannenzweigen, welches er am Fuße des Felsens aufgeschichtet hatte. »Das mit dem Feuer könnte klappen«, meinte Tamina und kramte in ihrem Bündel. Schließlich brachte sie eine kleine Dose zum Vorschein. »Was ist das?« fragte Peter. »Hast du noch nie eine Zunderbüchse gesehen?« fragte Tamina erstaunt. »Wie macht ihr denn Feuer?« »Wir benutzen dazu Feuerzeuge, das sind kleine Behälter, in denen sich Benzin oder Flüssiggas befindet, welche mit Hilfe eines Feuersteins zum brennen gebracht werden. Oder wir benutzen Streichhölzer, das sind kleine Holzstäbchen, die mit einem Ende in eine Masse aus unterschiedlichen Zutaten, wie Antimonsulfid, Chlorat, Nitrat und anderen Chemikalien getaucht wurden. Reibt man damit über eine Reibefläche aus rotem Phosphor und Glassand, so beginnt die Spitze des Hölzchens heftig zu brennen. Ach, ich wünschte, ich hätte eine Schachtel davon hier.« Tamina, die mit dieser ausführlichen Schilderung nicht viel anzufangen wußte, nickte verständnisvoll und hielt Peter die Büchse vor die Nase. »Wir machen es hiermit«, sagte sie und öffnete die Büchse. Darinnen befanden sich ein Feuerstein, ein Stück Eisen und eine Menge einer dunklen, krümeligen Masse. »Jetzt brauchen wir nur etwas trockenes Reisig oder ein wenig Papier und natürlich Holz.« Peter besorgte ihr das Gewünschte und war gespannt zu sehen, wie man in Arkanien Feuer machte.

Tamina sammelte etwas trockenes Reisig und legte es an einer windgeschützten Stelle zu einem Häufchen zurecht, dann entnahm sie der Dose eine Priese Zunder. Mit Hilfe des Eisens schlug sie Funken aus dem Feuerstein auf den Zunder, der nach einigen Versuchen zu glimmen begann. Jetzt bestand die Schwierigkeit nur noch darin, dem glimmenden Zunder ein Flämmchen zu entlocken und damit das Reisig zu entzünden. Selbstverständlich gelang ihr das auch und so konnten die beiden nach kurzer Zeit sich an einem von dem stürmischen Wind heftig lodernden Feuer erwärmen.

So dicht es ging, ohne sich zu versengen, saßen sie, eng aneinander gedrückt unter der einzigen Decke, die ihnen geblieben war, an dem Lagerfeuer. Unter anderen Umständen hätte Peter es sicherlich sehr genossen, mit einem hübschen, blonden Mädchen eng verbunden zusammen zu sitzen. Jetzt aber beschäftigten ihn andere, dringendere Sorgen. Für den Augenblick waren sie vor den Räubern und dem Unbill der Witterung sicher, wenn sie aber nicht bald aus dem Walde herausfänden, so wären sie unausweichlich verloren. Nahrung hatte sie keine dabei. Wasser konnten sie aus dem Schnee schmelzen oder aus Bächen trinken. Das größte Problem blieben also der Hunger, vor allem aber die Kälte, da sie nicht für einen dauernden Aufenthalt im Freien gerüstet waren. Der sichere Unterstand und das wärmende Feuer jedoch hatten für Erste alle Verzweiflung weggewischt, und was der morgige Tag bringen würde, blieb in Ruhe abzuwarten. Tamina war bereits eingeschlafen; ihr blonder Schopf ruhte auf Peters Brust. Schläfrig blinzelte Peter ein letztes Mal in die Flammen und strich eine Strähne von Taminens Haar aus seinem Gesicht, bevor er ebenfalls in einen leichten Schlummer fiel.

Ein rötlich-goldener Schimmer am östlichen Horizont begann den Schnee und die silbern schimmernden Stämme der Buchen zu färben, als Peter die Augen aufschlug. Nach dem Sturm in der Nacht herrschte fast völlige Stille. Mit steifen und eiskalten Gliedern richtete er sich auf und schüttelte den Schnee von der Decke. Tamina wurde wach und lächelte ihn matt an. Sie war sehr blaß und es kostete Peter einige Mühe, sie zum Aufstehen zu bewegen. Er zwang sie, mit ihm zusammen einige Freiübungen zu machen, um das stockende Blut wieder etwas in Wallung zu bringen und den von der Kälte erstarrten Körper aufzuwärmen. Das Feuer war völlig herabgebrannt und die Asche war erkaltet. Da es kein brauchbares Brennholz in der Nähe gab, mußten sie auf ein neues Feuer verzichten. Sie hatten ohnedies nichts zum Kochen oder Braten gehabt. Außer einem steinharten Stück Brotrinde, die Peter für Mondenglanz aufbewahrt hatte, blieb ihnen nichts zu essen übrig. So kam es, daß alle, außer dem Pferd, das sich an grünen Fichtenzweigen gütlich tat, mit knurrendem Magen den neuen Tag beginnen mußten.

Hungrig und mit vor Kälte gefühllosen Gliedern stolperten sie stundenlang durch das verschneite Unterholz. Immer öfter mußten sie eine Rast einlegen und immer länger dauerte es, bis sie sich erneut zum Weitergehen aufrappelten. Schließlich waren sie am Ende ihrer Kräfte. Am Fuße eines mächtigen Eichenstammes sanken sie in den Schnee. Tamina war kaum mehr ansprechbar. Peter nahm sie in seine Arme und wickelte seinen Mantel um ihre Schultern. Sie nahm es kaum wahr. Er setzte sich neben sie und schlang seine Arme um sie. Leise flüsterte er: »Es tut mir leid, Kleines.« Dann überließ auch er sich der tauben Gefühllosigkeit. Leise rieselte eine Handvoll Pulverschnee von den Ästen auf ihre Köpfe herab.

Nicht weit davon entfernt schlängelten sich dünne Rauchfäden aus einem windschiefen Schornstein dem fahlgrauen Himmel entgegen. Wären unsere beiden Freunde nur wenige Hundert Schritte weiter gegangen, so hatte sich ihnen folgendes unerwartetes Bild geboten: Auf einer großen fast quadratischen Lichtung standen, von einer Palisade umgeben, vier größere Blockhäuser, sowie mehrere kleinere Vorratsschuppen. Daneben gab es Pferche und Ställe für Hühner, Schweine, Ziegen und anderes Vieh. Auf der Mitte eines kleinen Platzes, den die vier Häuser umsäumten, befand sich sogar ein hübscher, gedeckter Ziehbrunnen. Alles wirkte sehr still und friedlich, und wäre nicht der Rauch gewesen, der aus dem Schornstein der größten der Blockhütten quoll, so hätte man fast glauben können, die Siedlung wäre verlassen oder diente nur als Kulisse für eine Freilichtbühne.

Vorheriges Kapitel

Seitenanfang

Näch`es Kapitel

Titeleite/Inhaltsverzeichnis

Home

© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 01. August 2002 04:13