Carlan
Carlan
war eine Kleinstadt nach unseren Massstäben bemessen. Für arkanische Verhältnisse
aber bedeuteten fünfzigtausend Einwohner fast schon eine Metropole, was diese
alte und bedeutende Handelsstadt in gewissem Sinne auch war. Schließlich zählte
selbst die Hauptstadt des Landes, die zugleich die größte war, nicht mehr als
zweihunderttausend Einwohner.
Carlan
war die südlichste Stadt Arkaniens. Sie lag am Ufer eines kleinen, für die Flußschiffahrt
aber völlig ungeeigneten Flusses, der zweihundert Meilen nordwestlich in den
Großen Strom mündete. Südlich der Stadt erstreckte sich ein weites, ödes
kaum besiedeltes hügeliges Land, das zu keiner Kultur taugte und hauptsächlich
von Schafherden bevölkert war, die sich von der trockenen Vegetation mehr
schlecht als recht ernährten. Die Ufergebiete des Flusses waren sumpficht und
wurden von der Bevölkerung gemieden. Wenn es einst gelänge, das Land trocken
zu legen, so wäre vielleicht eine der fruchtbarsten Kulturlandschaft gewonnen;
und demjenigen, der dies Wunder vollbrächte wären die größten Lorbeeren
sicher.
Nach
Südosten erhoben sich die ersten Vorgebirge, die westlichen Ausläufer eines
gewaltigen Alpenmassivs, das seine Fortsetzung in dem östlichen Riesengebirge
nahm, welches die äußerste, unüberwindliche Grenze des Reiches bildete. Im Südwesten
verliefen sich die Berge in einer öden, dürren, baumlosen Steppenlandschaft.
Dahinter erstreckte sich die große Wüste, welche die Südländer von Arkanien
trennte. Diese Wüste war bislang noch von keinem Menschen durchquert worden;
und so konnte niemand sagen, wie groß ihre Ausdehnung war. Wer in jene
geheimnisvollen Länder im Süden reisen wollte, mußte sich in Altara, der großen
Seefahrerstadt hundertfünfzig Meilen im Südwesten gelegen, auf ein Schiff
begeben und die Küste entlang segeln. Die Reise war lang und gefährlich, weil
die Küstengewässer von unzähligen Riffen und Sandbänken und winzigen
unbewohnten Inseln wimmelten. Nur wenige unerschrockene Kapitäne wagten die gefährliche
Überfahrt; und so war es nicht verwunderlich, daß die Waren aus jenen Ländern
— meist seltene Spezereien, Seidenstoffe und kunstvoll gepunzte Gefäße und
Gerätschaften aus Silber- und Goldblech — zu den teuersten Luxusgütern des
Landes gehörten.
Die
Stadt Carlan bildete ein gleichmäßiges Oval von kleinen und mittleren Bürgerhäusern,
einer Trutzburg für den Stadtkommandanten und den Generalgouverneur für die Ländereien
von Carlan. Seit Alters her gehörten der Stadt weite Teile des Umlandes, die
unter der Herrschaft des Gouverneurs standen. In früheren Zeiten soll Carlan
ein unabhängiges Fürstentum gewesen sein. Die Stadt war von hohen Mauern und
einem mächtigen Ringwall umgeben, der in der Vergangenheit mehrmals erweitert
worden war, wovon vereinzelte Reste im Innern der heutigen Stadt Zeugnis
ablegten. Die Mauer war von zwölf sechseckigen Spähtürmen bewehrt und vier
große Stadttore öffneten die Stadt nach allen Windrichtungen. Carlan war eine
sehr alte Stadt, deren Geschichte mehr als tausend Jahre zählte. Ihr größtes
Wachstum hatte die Stadt aber hinter sich und so bestand keine Gefahr, daß die
jetzige Stadtmauer bald zu klein würde; hatte ihr damaliger Erbauer doch in
weiser Voraussicht die Befestigungsanlagen so großzügig geplant, daß sie noch
heute — hundertachtzig Jahre nach ihrer Fertigstellung — weite Grünflächen
und öffentliche Gärten einschloß.
Tamina
hätte nur zu gerne einen Abstecher in die Stadt gemacht und auch Peter hätte
gern die Gelegenheit wahrgenommen, die Sitten und Gewohnheiten der Menschen in
diesem Landesteil genauer zu studieren, doch das Risiko war zu groß. Sminjans Männer
warteten vielleicht schon auf sie. So weit im Süden hätten sie nichts mehr von
den Behörden zu fürchten.
So
mußten sich die beiden Gefährten mit einem Blick aus der Ferne auf diese so
saubere und schmucke Stadt begnügen. Von der Kuppe eines Hügels aus schauten
sie über die Mauern und Türmchen auf deren Giebeln bunte Flaggen wehten,
hinein in die prachtvollen Straßen und schmalen Gäßchen voller pulsierenden
Lebens. Sie beobachteten die Menschen, die wie emsige Ameisen auf dem Marktplatz
wimmelnd ihren Geschäften nachgingen, vernahmen die Klänge der Signalhörner
der Türmer und sahen die polierten Rüstungen und Hellebarden der Wachen im
Sonnenlicht blitzen.
Von
ihrem Standort auf dem Hügel aus hatten sie eine hervorragende Rundumsicht.
Hinter der Stadt einige Meilen im Südwesten erblickten sie zum ersten Male die
legendären »Bienenkörbe«. Es handelte sich hierbei — soweit sie das auf
die Entfernung feststellen konnten — und etwa zwei bis drei Dutzend
bienenkorbartig gewölbte Steinhaufen. Dies mußte der ausgemachte Treffpunkt
sein. Bei ihrem Anblick schlug Peters Herz höher. Endlich waren sie am Ziel
angelangt.
Sie
beschlossen, einen weiten Bogen um die Stadt zu machen und hofften, so am späteren
Nachmittage in die Nähe der Steinhaufen zu gelangen.
Entgegen
Peters ersten Erwartungen langten sie schon viel früher bei den steinernen
Gebilden an — Peter hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, Entfernungen zu
schätzen. Von der Stadt aus waren sie nicht direkt zu sehen, da eine Kette
flacher Hügel die Sicht behinderten. Sucht man sich seinen Weg durch die
grasbewachsene Hügellandschaft, dann kann es leicht geschehen, daß man hinter
dem nächsten Buckel plötzlich gewaltige steinerne Ungetüme vor sich aufragen
sieht, wo man sie niemals vermutet hätte. Überrascht stellt man dann fest, daß
die Bauwerke sogar höher hinaufragen, als die umgebenden Hügel. Freilich kann
man sie dennoch nur aus einiger Entfernung erkennen, denn die grasbewachsenen Hügelchen
stehen wie Sandkuchen verstreut in der Ebene, so daß man nur von der Kuppe
eines derselben einen Überblick über die Ebene erhält. Da die Sandkuchen-Hügel
sehr steile Wände haben, ist es weniger beschwerlich, um sie herumzugehen, als
sie zu erklimmen.
Da
standen unsere beiden — will sagen drei — Freunde und schauten verwundert
auf die steinernen Kolosse. Gewaltig und geheimnisvoll der Witterung und dem
Zahn der Zeit trotzend blickten die Monumente auf die vergangenen Jahrhunderte,
vielleicht sogar Jahrtausende zurück.
Die
»Bienenkörbe« waren gänzlich aus massiven mannshohen Felsblöcken ohne Mörtel
nahtlos zusammengefügt. Sie hatten einen kreisförmigen Grundriß von neun bis
zehn Metern Durchmesser und reichten, sich nach oben verjüngend, gute fünfundzwanzig
bis dreißig Meter in die Höhe. Eine halbkugelförmige Kuppel bildete den
Abschluß. Die Außenseite war völlig glatt — abgesehen von einem dichten
Bewuchs mit Flechten in verschiedenen Farbtönen — und wies keinerlei Öffnung
auf. An der Basis der »Bienenkörbe« waren geheimnisvolle Schriftzeichen und
Symbole eingeritzt, die zu entschlüsseln bislang keinem gelungen ist. Die
Zeichen waren in einer Höhe von etwa zwei Metern eingemeißelt. Viele waren
aber so stark verwittert, besonders auf der Wetterseite, daß man sie kaum noch
erkennen konnte. Niemand weiß, wer sie erbaut hatte oder zu welchem Zwecke sie
einst gedient haben mochten. Der große arkanische gelehrte Allanto — sein
Standbild steht auf dem Marktplatz von Carlan — hatte die Theorie geäußert,
es möge sich um antike Grabstätten vorzeitlicher Könige handeln. Dem gegenüber
steht die Ansicht des Astronomen Lycallius, der behauptete, es handele sich bei
den »Zuckerhüten« — diese Bezeichnung ist fast treffender — um
Hilfsmittel zur Beobachtung der Gestirne. Die Menschen in der Gegend mieden den
Ort, denn sie glaubten fest, dort spuke es und in bestimmten Nächten
versammelten sich dort die bösen Geister zu einer Art von Hexensabbat.
Das
Geheimnis der »Bienenkörbe« — oder »Zuckerhüte« — sollte erst viel später
gelöst werden, und zwar von einem Manne namens Bition oder Bitius, wie er von
andren genannt wurde. (Aber das ist eine lange Geschichte und würde allein ein
ganzes Buch füllen.) Doch nun zurück zu Peter und Tamina.
Während
Peter voll wissenschaftlicher Neugier an den Steinen herumklopfte und kratzte
und nach einem geheimen Eingang forschte, blieb Tamina bei Mondenglanz stehen
und genoß es, deren weiche Nase zu streicheln. Ihr war dieser Ort unheimlich
und sie wollte so rasch wie möglich von hier verschwinden. Der Abendwind, der kühl
und feucht von Norden her blies, strich tönend über die glatten Flächen der Türme.
Das Geräusch hatte etwas klagendes und unheimliches. Peter war hinter einem der
Steinkegel verschwunden; Tamina fröstelte.
Oben
am Himmel schrieen die Krähen ihre heiseren Rufe der im Osten hereinbrechenden
Nacht entgegen. Wie Geier kreisten sie am grauen wolkenverhangenen Himmel; große,
schwarze Unglücksboten. Tamina schlang die Arme um den Hals des Pferdes. Das
weiche Fell, der warme, lebendige Leib und animalische Geruch gaben ihr ein Gefühl
der Geborgenheit an diesem düsteren Ort. Was mochte Peter nur so lange treiben?
»Peter!
Komm endlich! Es wird schon dunkel. — Peter?!«
Keine
Antwort. Sie zog Mondenglanz mit sich am Zügel um den Felsen herum. Kein Peter
war zu sehen.
Das
ungute Gefühl in der Magengegend verstärkte sich. Sie rief abermals, doch
wiederum erhielt sie keine Antwort. Was war geschehen? Hatte der Kerl sich
versteckt oder war ihm am Ende gar etwas zugestoßen?
Da.
Eine schwere Hand packt sie an der Schulter. Mit einem Schrei fährt sie herum
und in ihren schreckgeweiteten Augen spiegelt sich das grinsende Antlitz des
Teufels. Mit einem schweren Seufzer sinkt sie zu Boden.
Peter,
der nun selber höchst erschrocken war, warf den Rinderschädel, den er gefunden
hatte, von sich und kniete neben dem leblosen Mädchen nieder.
»Tamina,
Tamina! Hörst du mich? Wie geht es dir?« er hob ihren Kopf sachte auf und
klopfte ihr auf die bleichen Wangen. Sogleich schlug sie die Augen auf und
starrte ihn an.
»Gott
sei Dank! Du bist wider da«, rief er erleichtert. »Es tut mir leid. Ich wollte
doch nur einen kleinen Spaß machen.« Erhob sie auf die Beine, froh, daß sie
den Schrecken unbeschadet überstanden hatte. »Du hättest dein Gesicht mal
sehen sollen. Dir sind wahrhaftig die Haare zu Berge gestanden«, sagte er.
Die
einzige Antwort, die er erhielt, war eine schallende Ohrfeige.
»Tu
so was nie wieder«, sagte Tamina mit ruhiger Stimme. Die roten Flecken auf
ihren Wangen zeigten aber, daß sie innerlich kochte. So wütend hatte Peter das
Mädchen noch nie gesehen.
»Diese
Flecken stehen dir sehr gut. Sie geben einen hübschen Kontrast zu deinen
Sommersprossen und zu der Farbe deines Haares«, meinte er spaßhaft nachdem er
die Sprache wieder gefunden hatte. Er beeilte sich aber rasch einige Schritte
zurückzutreten. Ein heißes Ohr war genug für den Tag.
Tamina
warf ihm nur einen bitterbösen Blick, aus ihren leuchtend blauen Augen zu und
machte auf dem Absatz kehrt. Behend schwang sie sich auf Mondenglanzes Rücken
und im Galopp ging’s auf und davon.
»He,
Komm zurück! Du kannst mich doch nicht einfach hier zurücklassen«, rief er
hinterher, aber Tamina war längst außer Hörweite.
»Es
tut mir leid«, sprach er leise und mit einem Fußtritt beförderte er den am
Boden liegenden gehörnten Schädel an einen anderen Ort.
Peter
hatte keine Ahnung, wohin Tamina davon gestoben sein mochte, und so wanderte er
verdrießlich zu Fuß in die Richtung wohin sie verschwunden war. Wenig später
fand er Mondenglanz am Fuße eines kleinen Buckels, wo sie genüßlich das junge
Gras rupfte. Unweit davon saß Tamina auf der Erde und rieb sich mißvergnügt
den linken Ellenbogen.
Nicht
ohne eine gewisse schadenfreudige Genugtuung nahm Peter zur Kenntnis, daß
Taminens Reitkünste nicht besser waren als seine eigenen zu Anfang.
»Hast
du dir weh getan?« fragte er vorsichtshalber.
»Nein,
es ist nichts. Ich bin bloß — gestolpert.«
»So,
So, gestolpert«, murmelte Peter lächelnd und ließ es dabei bewenden.
»Ich
denke, wir sollten uns jetzt nach einer Unterkunft für die Nacht umsehen«,
schlug Tamina vor.
»Hier
muß irgendwo eine Herberge sein. Zumindest hat es ganz danach ausgesehen, als
wir zu den Stein-Türmen kamen. — Ja. Dort muß es sein«, meinte Peter und
wies auf eine Rauchsäule hin, die sich hinter einer Hügelkuppe aufsteigend,
vom leichten Nordwind abgetrieben, gegen den graublauen Himmel verlor.
Wenige
Schritte darauf sahen sie, als sie den Hügel hinter sich gelassen hatten, etwa
zweihundert Meter entfernt an der Landstraße nach Carlan ein schmuckes, weiß
getünchtes Gehöft mit einem malerischen Strohdach — was in dieser Gegend
selten war, wo die Häuser fast ausschließlich mit hellroten Ziegeln gedeckt
waren. Das Haus, der Garten und die Wirtschaftsgebäude dahinter machten einen
sauberen und gepflegten Eindruck. Dies war keine finstere Räuberhöhle. In
Gedanken verglich Peter das schmucke Anwesen mit dem düsteren, halb verfallenen
Wirtshaus in welchem Tamina gelebt hatte.
Tamina
mußte seine Gedanken erraten haben, denn in einem sehr traurigen Tonfall sagte
sie zu ihm: »So hat unser Haus auch einmal ausgesehen — als Mutter noch
lebte.«
»Laß
uns hineingehen. Ich habe einen Bärenhunger und du bestimmt auch«, sagte
Peter, dem das Mädchen plötzlich sehr leid tat und der sich bemühte, sie auf
andere Gedanken zu bringen.
»Du
hast recht. Ich könnte heut einen ganzen Ochsen verschlingen.«
Vor
dem Wirtshaus auf dem Hof standen einige gesattelte Pferde die auf ihre Reiter
warteten, die sich noch vor Einbruch der Dunkelheit auf den Weg in die Stadt
machen mußten, denn bei Sonnenuntergang wurden jeweils die gewaltigen, mit
riesigen Eisennägeln beschlagenen Stadttore geschlossen und erst wieder im
Morgengrauen geöffnet. Waren sie erst einmal zu, dann kam niemand mehr hinein
oder heraus, nicht einmal der Bürgermeister. So lautete das uralte Gesetz der
Stadt.
Peter
band Mondenglanz an einen der eisernen Ringe an der Wand, wo sie sich der
Gesellschaft ihrer Artgenossen erfreuen konnte.
Die
Wände des weiten Schankraumes waren mit Holz verkleidet, was dem Raum eine gemütliche
Atmosphäre verlieh. Zahlreiche Leuchter an der Decke und auf den Tischen
spendeten ein warmes Licht.
Der
Wirt war ein freundlicher Mann um die fünfzig, der aber einen beinahe
jugendlichen Elan versprühte. »Ihr habt Glück«, bemerkte er. »Um diese
Jahreszeit haben wir sehr viele Gäste. Die meisten sind Kaufleute, die jetzt im
Frühjahr ihre ersten Handelsreisen antreten.« er führte Peter und Tamina in
eine kleine, etwas düstere, ansonsten aber saubere und aufgeräumte Kammer.
»Ich
kann euch leider nichts besseres anbieten. Es ist das letzte freie Zimmer.«
»Für
uns reicht es schon«, beeilte sich Tamina zu sagen, die Peters Ansprüche in
Bezug auf Luxus und Eleganz bereits hatte kennen lernen.
»Wieviel
soll es denn kosten?« wollte Peter wissen und zückte seinen mittlerweile recht
dünn gewordenen Geldbeutel. Der Wirt nannte den Preis.
»Was?!
Und dabei heißt es noch, hier sei es billiger als in der Stadt.«
»So
ist es auch. Also, was ist nun? Nehmt ihr’s?«
»Gibt
es sonst keine Alternative?« fragte Peter, der um den tiefen Stand ihrer
Reisekasse besorgt war.
»Keine
was?«
»Altern…
— Ich meine, gibt es keine Möglichkeit etwas günstiger unterzukommen?«
»Ihr
könnt euch ein Strohlager im Stall machen. Das wäre erheblich wohlfeiler.«
Mit
einem Blick, der sich kaum beschreiben läßt, drückte Peter dem Wirt das Geld
in die Hand. Als sie alleine waren, mußte sich Peter nun den vorwurfsvollen
Blicken Taminens stellen.
»Ja,
ja. Ich weiß, daß unser Geld nur noch für drei Tage reicht. Aber ich werde
doch nicht etwa im Stall bei den Vieh nächtigen.«
»Aber
was sollen wir denn machen? wer weiß wie lange wir hier auf Alissandra warten müssen?«
Falls sie überhaupt kommt, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Mach
dir deswegen keine Sorgen«, sagte Peter. »Ich werde mir halt eine Arbeit
suchen müssen. Es kann ja für jemanden mit meiner Intelligenz und mit meiner
überdurchschnittlichen Bildung nicht allzu schwierig sein, eine einigermaßen
gut bezahlte Stellung zu bekommen. Ich werde mich heute Abend mal ein wenig bei
den Gästen umhören. Vielleicht sucht einer der Kaufleute einen Assistenten der
einen Sekretär für sein Kontor.«
»Hoffentlich«,
meinte Tamina, die in dieser Beziehung so ihre Zweifel hatte.
Das
Abendbrot fiel in Anbetracht der angespannten finanziellen Lage ziemlich
bescheiden aus. Daß dies nicht gerade dazu beitrug, Peters Laune zu heben, kann
man sich leicht denken. Aber wer ist schon fröhlich, wenn er die leckeren
Braten und edlen Weine nur an den Nachbartischen aus der Ferne bewundern kann
und selber mit Sparbrot vorliebnehmen muß. Nach einigen Bechern des billigsten
Weines, den Peter diesmal in weiser Voraussicht mit Wasser verdünnte,
verbesserte sich aber seine Stimmung zusehends, und so kamen er und Tamina bald
in ein angeregtes Gespräch mit ihren Tischgenossen; zwei Kaufmanns-Lehrlingen
und einem fahrenden Handwerksgesellen.
Die
Burschen — sie mochten ungefähr in Peters Alter sein — erzählten von ihren
Erlebnissen und Reiseabenteuern und Peter, der hierbei so einiges interessante
über Land und Leute erfuhr, gab seinerseits einige — natürlich frei
erfundene — Anekdoten zum Besten; Geschichten, wie er sie einst gelesen oder
aus dem Fernsehen kannte und die er dann nach eigenem Gutdünken sehr geschickt
ausschmückte und fortspann.
Tamina
sah dem Treiben bald belustigt, bald besorgt zu, denn sie konnte sich nur
schwerlich vorstellen, wie einer die tollen Erzählungen Peters nur für bare Münze
nehmen konnte. Jeden Augenblick fürchtete sie, einer seiner Zuhörer könnte
etwas merken und der dreisten Aufschneiderei ein böses Ende bereiten. Tamina
fragte sich bereits ob es vielleicht nicht sogar besser wäre, wenn Peter einmal
eine kräftige Abreibung erhielte. Nicht daß sie ihm übel wollte, aber
aufrichtig und wahrheitsliebend wie sie war, bereitete es ihr einige Sorge, zu
sehen wie dieser dreiste Junge ohne im mindesten zu erröten die schamlosesten Lügengeschichten
erzählte. So etwas konnte doch nicht angehen, ohne irgendeinen moralischen
Schaden zu verursachen.
Aber
nichts dergleichen geschah. Sei es, daß die Kaufmanns-Burschen nicht gerade die
hellsten waren, sei es, daß das von ihnen in reichlichen Mengen konsumierte
Bier bereits seine Wirkung tat. Auf alle Fälle waren sie alle in bester
Stimmung und die Schankstube war von Lachen und Grölen erfüllt; als zu guter
Letzt auch ein fahrender Spielmann eintrat und nach alter Sitte gegen einen
freien Becher Weines seiner Lieder vortrug, die er auf der Laute begleitete.
Sein Gesang war nicht gerade ein Ohrenschmaus — wahrscheinlich war dies auch
nicht das erste Wirtshaus, das er an diesem Abend besuchte —, dafür aber um
so lauter; kurzum alle hatten ihren Spaß daran.
Tamina,
die sich an den Gesprächen kaum beteiligte und nur selten das Wort ergriff,
schaute sich dafür um so aufmerksamer in dem Raume um. Hier waren so viele
verschiedene Menschen aus allen Teilen des Landes versammelt. Es gab so viele
verschiedene Sitten und Trachten zu beobachten. Sie lauschte Peters Erzählungen
nur mit einem Ohr, während sie versuchte, so viel wie möglich von den Gesprächen
der anderen Gäste aufzuschnappen. Im Laufe der Jahre hatte sie durch das
Beobachten der Gäste in der heimischen Wirtschaft eine gewisse Menschenkenntnis
erworben, so daß sie sich zutraute, durch aufmerksames Betrachten erkennen zu können,
was eines jeden Gastes Beruf, sein Temperament und Stimmung waren. Und wenn sie
auch nicht immer richtig lag, so war in der Tat war ihre Treffsicherheit
erstaunlich.
Da
war zum Beispiel die Gruppe wohlhabender Kaufleute, die an dem großen Ecktisch
mit den schweren Stühlen etwas abseits saßen. An der besonderen
Aufmerksamkeit, mit der sie der Wirt persönlich bediente und an den Sitzkissen
auf den Stühlen erkannte sie, daß es sich um reiche, spendable Stammgäste
handelte. Sie waren zu sechst und vertrieben sich die Zeit mir Rauchen und dem
Kartenspiel. Angesichts der Stapel von Münzen auf dem Tisch, mußten sie sehr
wohlhabend sein. Zum Glück hatte Peter nichts davon bemerkt, dachte Tamina. Der
wäre imstande, dort mitspielen zu wollen, in der Hoffnung auf das schnelle
Geld. Und damit hätte sie gar nicht mal so unrecht. Zum Glück aber wurde er
gar nicht erst in Versuchung geführt, denn er war augenblicklich vollauf damit
beschäftigt, den inzwischen recht beduselten Zechgenossen die Geschichte von
dem sprechenden Vogel zu erzählen, den er einem alten Seemann abgekauft hatte
und der dann eines Tages… — aber lassen wir das und wenden uns wieder Tamina
und ihren physiognomischen Studien zu.
Der
Dicke dort, der das meiste Geld vor sich liegen hat, spielt gerne den
unbeholfenen Tölpel, aber in Wirklichkeit ist er ganz gerissen, dachte sie. Es
sind die Augen, man muß sich nur die Augen und den Mund von jemandem anschauen,
vor allem wenn er sich unbeobachtet wähnt, dann kann man den Charakter am
besten erkennen.
An
einem anderen Tische, dort wo sich der Spielmann niedergelassen hatte, saßen
eine Menge junger Burschen; offenbar die Lehrlinge und Gehilfen jener spielenden
Kaufleute. Diese hatten selbstverständlich keine gepolsterten Stühle und ihnen
wurde auch keine Vorzugsbehandlung zuteil. Auch tranken sie nicht edlen Wein in
Flaschen aus Zinnbechern, wie ihre Herren, sondern den billigen vom Faß aus
einfachen tönernen Bechern und Steingutkrügen. Dafür aber war ihre Stimmung
ausgelassener und eine ganze Kompanie ungeschlachter Rekruten hätte nicht mehr
Lärm machen können.
An
den übrigen Tischen saßen fahrende Handwerker, einfache Reisende und Bauern
aus der Umgebung. Taminas Aufmerksamkeit erregten zwei Gestalten, die so gar
nicht zu den übrigen Gästen der Wirtschaft passen wollten. Der eine war ein älterer
Herr, der allerdings auf den zweiten Blick hin, gar nicht mehr so alt wirkte. Es
schien in der Tat unmöglich sein Alter auch nur annähernd zu schätzen. Sein
gleichmäßig von grauen Strähnen durchzogenes Haar und die leicht gebeugte
Haltung standen in krassem Gegensatz zu den glatten, fast jugendlichen Gesichtszügen
und der lebhaften Mimik. Die Tatsache, daß er ganz in Schwarz gekleidet war,
verlieh ihm ein würdiges aber durchaus düsteres und etwas geheimnisvolles
Aussehen. Seine Nase war schmal und lang, und stach scharf aus dem Gesicht
hervor. Der Mund war schmal, aber durchaus nicht unfreundlich. Das
faszinierendste waren aber seine Augen. Unter scharf geschwungenen Brauen
blickten zwei stechende mausgraue Augen, mit starren Pupillen. Unwillkürlich
lief es Tamina kühl den Rücken hinab, als er sie direkt ansah und sie
aufmerksam zu mustern schien.
Tamina
konnte sich keine Vorstellung machen, wer dieser geheimnisvolle Fremde war, der
allein an einem Tisch in der entferntesten Ecke saß. Wer hätte schon seine
Gesellschaft lange ausgehalten?
Als
ob er nur hergekommen ist, um die Leute auszuspionieren, dachte Tamina. Der
Platz in der dunklen Ecke — der Fremde hatte die Lampe, die vor ihm stand
ausgelöscht — erschien geradezu ideal um wenig Aufsehen zu erregend und den
ganzen Raum überblicken zu können.
In
der Mitte der Wirtsstube zwischen dem Schanktisch und ihrem eigenen Tisch saß
eine Gruppe junger Burschen — es mochten, ihrer Kleidung nach zu schließen,
vielleicht Studenten sein — von denen einer Tamina besonders auffiel. Anfänglich
hatte sie ihn gar nicht wahrgenommen, da er durch einen anderen Gast teilweise
verdeckt wurde.
Es
handelte sich um einen jungen Mann — er mochte Anfang zwanzig sein — der vor
einem großen Krug schäumenden Bieres saß und einen recht verdrießlichen
Eindruck machte. Seine Kleidung nach schien er ein Junker zu sein, wenn er auch
etwas heruntergekommen wirkte. Der Schwertgriff an seiner Seite bestätigte ihre
Vermutung, es handele sich um einen Edelmann, vielleicht einen fahrenden Ritter.
Allerdings schien er mehr zu der Sorte des verarmten niederen Dienstadels zu
handeln, wovon es in den letzten Jahren auf Grund der Politik des Regenten immer
mehr gab. Nicht einmal einen Knappen hielt er sich. Allerdings deutete ein
leerer Platz an seiner Seite auf einen abwesenden Begleiter hin. Tamina glaubte
sich undeutlich an einen schmächtigen blassen Jungen erinnern zu können, der
an jenem Tisch gesessen war. Der Junge würde — wenn er zu diesem Herrn gehörte
— bestimmt im Stroh nächtigen müssen; aber auch sein Herr schien nicht mit
den nötigen Mitteln für einen längeren Aufenthalt in einer Herberge dieser Güteklasse
versehen zu sein.
Tamina
rückte ihren Stuhl zur Seite, denn in diesem Augenblick war der Begleiter des
jungen Herrn an seinen Platz zurückgekehrt. Der Jüngling war recht schmal und
von zartem Wuchs. Sein dunkles Haar wurde von einer weichen Filzmütze fast gänzlich
verdeckt. Sanft geschwungene Augenbrauen, die sich in der Mitte trafen,
beschirmten die großen dunkel blitzenden Augen, welche die meiste Zeit unter
halb geschlossenen Lidern in die Ferne starrten, gaben ihm ein verlorenes, träumerisches
Aussehen. Das Kinn war weich und vorstehend, was auf einen eigensinnigen
Charakter schließen ließ.
Auf
der einen Seite schien er genau zu wissen, was er wollte, auf der anderen wirkte
er aber irgendwie verdrießlich, geradezu schmerzvoll bekümmert, grübelte
Tamina weiter. Vor allem aber wirkte er so merkwürdig vertraut, als wären sie
sich bereits einmal irgendwo begegnet, oder als wäre er mit jemandem verwandt,
den sie kannte. Auf jeden Fall schien er genau so wenig an diesen Ort zu gehören,
wie der graue Wolf in der dunklen Ecke — wie sie den geheimnisvollen Fremden
getauft hatte. Als sie in seine Richtung blickte, sah sie, daß der Tisch leer
und abgeräumt war. Der Fremde war verschwunden.
Der
Abend verflog rasch, die Stimmung war laut und heiter. Die Geschäftsherren
begaben sich zur Ruhe, nachdem sie beträchtliche Summen an den Dicken verloren
hatten, der Schwierigkeiten hatte, seinen mächtig angeschwollenen Geldbeutel in
der Rocktasche zu verstauen. Die Gehilfen taten es ihnen nach, denn sie würden
am nächsten Morgen noch vor ihren Meistern aufstehen, um alles für die Abreise
zu rüsten.
Peter
und Tamina verabschiedeten sich herzlich von ihren Tischgenossen, die sich für
die ausgezeichnete Unterhaltung höflich bedankten und, nachdem sie die beiden
ihrer besten Wünsche für die Fortsetzung ihrer Reise versichert hatten, sich
gegenseitig stützend in ihre Quartiere wankten.
»Geh
du nur schon voraus«, sagte Peter zu Tamina. »Ich will noch etwas frische Luft
schnappen gehen und nach dem Pferd schauen.« Mit etwas weichen Knien stand er
auf und machte Anstalten den Ausgang zu erreichen, wobei er sich die größte Mühe
gab, Taminen nicht merken zu lassen, daß er etwas zu tief ins Bierglas geschaut
hatte. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
»Aber
du schwankst schon ziemlich. Soll ich dich nicht besser begleiten«, fragte sie
mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis. Aber Peter winkte ab. Die kühle
Nachtluft würde ihn gleich wieder frisch machen, meinte er.
»Du
solltest nicht so viel trinken. Du weißt doch, daß dir das nicht bekommt.
Morgen wollten wir doch früh aufstehen und nach Alissandra forschen.«
»Ja,
ja, ich weiß«, brummte er unwirsch und stolperte hinaus. Die Erwähnung
Alissandras hatte seine gute Laune wieder etwas gedämpft. Nicht zuletzt
eingedenk seiner Anfälligkeit gegenüber geistigen Getränken und den Vorwürfen
die er sich deswegen machte. Wäre er in jener verhängnisvollen Nacht nüchtern
gewesen, so hätten sie Alissandra nicht verloren.
Er
sah ein Gebäude vor sich aufragen; unwillkürlich hatte er seine Schritte in
Richtung der Scheune gelenkt, wo die Reittiere der Gäste untergebracht waren.
Da er zufällig in der Nähe ein Geschäft zu erledigen hatte, beschloß er,
noch rasch einen Blick auf Mondenglanz zu werfen und zu schauen, ob das Pferd
auch wohl versorgt sei. Nachdem er sich also der überflüssigen Flüssigkeit in
seinem Körper entledigt hatte, betrat er leise den Stall.
Bei
seinem Eintreten in das von einer einigen auf Sparflamme gedrehten Laterne
erhellten, Gebäudes, wandten sich ihm zwei Dutzend glänzender Augen zu. Eine
leichte Unruhe entstand, ob der nächtlichen Störung. Peter brauchte nicht
lange, bis er die Schimmelstute gefunden hatte. Sie stand zuhinterst an der
Wand, rechts vom Mittelgang. Bei seinem Herannahen, hob sie den Kopf und
schnaubte leise. Peter streichelte sanft Mondenglanzes Nase, welche ausgiebig an
ihm zu schnuppern begann. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie seinen
Hosentaschen, wo sich aus Erfahrung stets der eine oder andere Leckerbissen
verbarg. Als sie nichts fand, stupste sie ihn sachte und gab ein leises Wiehern
von sich.
»Ach
so. Du riechst das Bier«, flüsterte Peter schmunzelnd, dem eingefallen war, daß
die meisten Pferde dem leckeren Gerstensaft durchaus zugetan waren.
»Nein,
mein Liebes. Ich habe dir keines mitgebracht. Morgen aber sollst du einen ganzen
Krug haben; das versprech’ ich dir. Erinnere mich ruhig daran, falls ich’s
vergessen sollte.« Mondenglanz sah in an mit einem Blick der zu sagen schien:
›Und ob ich dich daran erinnern werde!‹ Peter lehnte sich schläfrig an die
Wand. Dann griff er nach dem Kopf des Tieres und strich ihm durch die
Stirnfransen. »Du hast mich wohl schon ein wenig vermißt? Ich weiß, daß ich
dich in letzter Zeit etwas vernachlässigt habe.« Mondenglanz leckte ihm die
Handfläche. »Ich hatte in letzter zeit ziemlich viel Kummer. Weißt du, was
mich am meisten bedrückt?«
»?«
»Daß
es allein meine eigene Schuld ist, daß wir Alissandra verloren haben.«
»?«
»Weil
ich dummer Esel so viel von dem süßen Wein in mich hineingeschüttet habe, so
daß ich unterwegs eingenickt bin. Ich hab’ die Schuld dem Unwetter gegeben,
aber ich weiß, daß alles nicht geschehen wäre, wenn ich nüchtern gewesen wäre.
— Wo sie jetzt wohl sein mag. Ach! ich wünschte, sie wäre jetzt hier bei
uns.« das wünschte sich Mondenglanz auch, denn von Alissandra hatte sie oft
zur Belohnung süße Honigkuchenstückchen bekommen.
»Aber
deswegen mußt du nicht gleich die Ohren hängen lassen. Du hast ja noch mich.«
Er schlang seine Arme um den Hals des Pferdes und drückte sein Gesicht in das
warme Fell.
»Ich
verspreche dir, daß ich immer gut für dich sorgen werde. Du bist das liebste
Pferdchen, das ich jemals hatte.« Er gab Mondenglanz einen Kuß auf die
samtig-weiche Nase.
»!«
»Ich
muß jetzt gehen. Schlaf schön.«
»Chrrr…«
Mondenglanz schüttelte den Kopf und rieb ihn an Peters Bein.
»Psst!
Du darfst doch nicht mitten in der Nacht so einen Lärm machen. Was sollen denn
die anderen denken? Wenn du willst, daß ich bei dir bleibe, dann bleib’ ich
eben noch ‘ne Weile. Ich würde ja doch nur Tamina aufwecken, wenn ich jetzt
ins Bett ginge. Ich leg mich oben ins Stroh. Mach’s gut.«
Vorsichtig
und nicht ohne einige Mühe erklomm Peter die steile Leiter. »Knarre nicht so
laut! Du kannst auch leise zusammenbrechen«, ermahnte er sie, bevor er sich in
das knisternde und stachelige Dunkel der Tenne begab.
Ungeachtet
des harten und kitzelnden Strohs ließ sich Peter in die weiche Masse fallen. Er
spürte eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern. Nur wenige Augenblicke lang
vernahm er noch das Rascheln und das leise Klirren der Ketten, mit denen die
Tiere unten angebunden waren, dann versank er in einen tiefen Schlummer, aus dem
er erst viele Stunden später erwachen sollte.
Dann
allerdings war würde es an ihm sein, ein dickes Ausrufezeichen zu machen, wie
es selbst Mondenglanz nicht besser vermöchte…
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