XX. Kapitel

Kri`aæ

 

 

Tamina brauchte nicht lange, um ihre wenigen Habseligkeiten zu einem handlichen Bündel zu verschnüren. Sie wußte, daß sie keine Zeit zu verlieren hatte. Sie hatte Peter zwar nicht sehen können, aber seine Stimme hatte ihr gar nicht gefallen. Lange würde er die Haft nicht durchstehen, und was mit Alissandra geschehen war, konnte sie sich auch nicht vorstellen. Armer Peter! Er tat ihr furchtbar leid. Aber sie konnte ihm im Augenblick nicht helfen.

Sie kramte in ihren Sachen bis sie die zusammengefaltete Karte, auf der Callidon die vermutete Lage des Blauen Kristalls eingezeichnet hatte, fand.

Tamina verstand nicht viel vom Kartenlesen, aber sie erkannte, daß die Gegend nicht sehr weit entfernt liegen konnte und begriff daher nicht, warum es so lange gedauert hatte, bis der Kristall aufgespürt werden konnte. Andererseits hatte sie schon einige Male davon reden hören, daß der geheimnisvolle Lichterwald nicht ganz geheuer sei, daß es dort Drachen und andere Ungeheuer gäbe und daß es nicht ratsam sei, sich dorthin zu begeben. Auch erzählte man sich Geschichten von Holzfällern und Jägern und Soldaten des Regenten, die in jenem Walde spurlos verschwunden waren, und von denen man nie wieder etwas vernommen hatte.

Tamina schüttelte den Kopf und versuchte an etwas anderes zu denken. Nach allem, was sie gemeinsam mit ihren Freunden erlebt hatte, wollte sie sich von ein paar alten Geschichten nicht irre machen lassen. Und nicht zuletzt besaß sie jetzt Peters Glücksbringer und Schutzzeichen. Sie betrachtete das schwere goldene Kleinod mit der wasserklaren Kristallkugel in der Mitte. Irgendwie fühlte es sich seltsam an. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das sich nicht beschreiben ließ. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, aber sie hatte das Gefühl, als trüge sie einen Fremdkörper am Hals, der nicht zu ihr gehörte, der zu seinem rechtmäßigen Eigentümer zurück strebte.

Sie hätte es nicht zulassen sollen, daß Peter sich von ihm trennte. Instinktiv spürte sie, daß Peter das Amulett brauchte.

»Sei standhaft, Peter! Ich werde so schnell wie möglich wiederkommen!« sagte sie leise zu sich selber.

Nachdem sie in einer der zahlreichen Schloßküchen ein paar Lebensmittel ›ausgeliehen‹ hatte, machte sie sich unverzüglich auf den Weg. Sie verließ den Palast durch das östliche Tor, von wo eine breite Allee schnurgerade durch die Stadt zum Osttor führte. Es gelang ihr ohne Schwierigkeiten das Tor zu passieren und die Hauptstadt zu verlassen.

Der Lichterwald war nicht sehr groß; das Gebiet war zwanzig auf fünfundzwanzig Meilen groß und lag eine gute Tagesreise von Tirania in östlicher Richtung entfernt.

Da sie weder Geld noch ein Fortbewegungsmittel besaß, mußte sie sich zu Fuß auf die Reise machen.

Glücklicherweise war die Landstraße aber sehr belebt und von Zeit zu Zeit fand sie einen freundlichen Bauern oder Fuhrmann, der sie auf seinem Erntewagen oder Ochsenkarren ein Stück Weges mitfahren ließ.

Auf diese Weise kam sie schneller und bequemer voran, als sie gehofft hatte, und es schien, als könne sie den Rand des Waldes noch am selben Abend erreichen. Das letzte Stück des Weges mußte sie allerdings zu Fuß bewältigen.

Kurz vor Einbruch der Nacht erreichte sie ein kleines Bauerndorf — eigentlich war es mehr eine Ansammlung von einigen Häusern — wo sie hoffte, jemanden nach dem Weg zu dem Berg mit der Höhle fragen zu können. Vielleicht kannten sich die Menschen hier am Orte auch im Walde aus, der ihr jetzt, da sie ihn in der Ferne sehen konnte, gar nicht unheimlich oder geheimnisvoll erschien.

Vor der Tür eines der uralten Häuser saß eine alte Frau auf einer kleinen Bank, deren ehedem dunkelgrüne Farbe von langem Gebrauche bereits an den meisten Stellen ganz abgewetzt war. Sie schien sich von ihrem Tagewerk auszuruhen und genoß gerade den letzten Abendsonnenschein.

Tamina grüßte sie artig und fragte nach einer günstigen Herberge oder einem einfachen Nachtlager. Die Frau blinzelte sie aus ihren runzligen Augen an und sagte: »Bist du ganz allein unterwegs, mein Kind?«

Tamina bejahte und stellte sich vor.

»Was für Zeiten, wo junge Mädchen allein in der Welt herumstrolchen«, brummte die Alte und schüttelte den Kopf.

»Na, komm mit ‘rein. Ich habe einen Kessel Suppe auf dem Herd stehen. Die langt auch für zwei, und in der Kammer steht auch ein Bett für dich parat. Da kannst du heut’ Nacht schlafen.«

»Habt vielen Dank. Ich will Euch gern ein wenig zur Hand gehen«, sagte Tamina mit einem reizenden Lächeln.

»Wo willst du denn hin, so ganz allein?« fragte die Alte, während sie ihr eine hölzerne Schale mit Suppe vorsetzte.

»Ich muß in den Lichterwald«, antwortete Tamina.

Die Alte ließ beinahe das Brot fallen. Sie starrte das Mädchen entsetzt an und sagte nach einer Weile: »Was um alles in der Welt willst du dort. Das ist kein guter Ort. Niemand geht in den Wald. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann kehre um und mach’ einen großen Bogen um den verrufenen Lichterwald.«

Tamina starrte die Frau erschrocken an.

»Aber warum ist der Lichterwald so gefährlich? Und woher hat er seinen Namen?«

Die Alte machte ein mißvergnügtes Gesicht. Sie schien keine Lust zu haben, die Frage zu beantworten. Aber als Tamina beharrlich blieb und ihre Frage wiederholte, erklärte sie schließlich: »In dem Wald gibt es Irrlichter. Sie leuchten in der Nacht und führen den Wanderer vom Weg ab, bis er sich hoffnungslos verirrt. So sind schon viele für immer verloren gegangen oder sind in den Sumpf geleitet worden, wo sie elendiglich versanken. Außerdem gibt es wilde Tiere, denen kein Jäger gewachsen ist. Erst vor wenigen Monaten kam eine Gruppe von Jägern hier vorbei. Sie wollten auf niemanden hören und lachten die Leute aus, die sie warnten — auch sie sind verschwunden und nimmermehr aufgetaucht.«

Tamina lief ein Schauer über den Rücken. Trotzdem fragte sie tapfer weiter: »Gibt es dort so etwas wie einen Berg oder einen Felsen mit einer Höhle?«

Diesmal war die Alte überrascht.

»Den gibt es in der Tat. Von weitem kann man ihn aus den Baumwipfeln herausragen sehen. Die Leute nennen ihn den Teufelszahn. Von einer Höhle weiß ich nichts. — Wenn du auf der Suche nach dem Schatz bist, dann mußt du verrückt sein.«

»Was für ein Schatz?«

»Es gibt eine alte Sage, wonach ein mächtiger Drache in dem Wald hausen soll und einen riesigen Schatz hortet. Aber das sind nur Geschichten. Niemand sollte so etwas wörtlich nehmen. Ich selber glaube nicht an Drachen. Aber wenn es tatsächlich welche geben sollte, dann leben sie bestimmt in diesem verwunschenen Wald. Vielleicht war es ein Drache, der alle die Narren gefressen hat, die unbedingt durch den Wald laufen wollten.« Sie stieß ein krächzendes Lachen aus, das noch lauter wurde, als sie Taminens schreckgeweitete Augen sah.

»Ich lege mich jetzt wohl lieber hin«, sagte Tamina und half der Alten noch beim Abwaschen des Geschirrs und beim Aufräumen der Küche.

Später, als sie allein in der winzigen Kammer neben der Küche lag und dem Knacken des Gebälks und dem Zirpen der Grillen vor dem Fenster lauschte, mußte Tamina immer wieder an die Worte der Alten denken. Sie hatte so viele Geschichten über Drachen und Ungeheuer gehört, und nach den wunderbaren Dingen, welche sie selber erlebt hatte, glaubte sie fest an Zauberei und Wunderdinge, so daß sie an der Existenz jener Fabelwesen nicht mehr zweifelte. Aber jetzt war es zu spät um umzukehren. Sie konnte nicht einfach sagen, daß sie Angst hätte und die Suche nach dem Blauen Kristall aufgebe.

Ihre Freunde hatte so oft mutig allen Gefahren getrotzt, daß sie jetzt nicht zurückstehen durfte. Sie hatte Peter versprochen, im den Kristall zu besorgen; und genau das würde sie jetzt auch versuchen, egal, wie unheimlich oder gefährlich es sein würde.

In dieser Nacht schlief sie schlecht. Sie träumte von großen, grünen Drachen und von dem Kristall. Im Traum stahl sie dem schlafenden Drachen den Kristall. Aber der Drache wachte plötzlich auf und verfolgte sie zischend und schnaubend. So schnell sie auch lief und so viele Haken sie auch schlug, blieb ihr der Lindwurm doch dicht auf den Fersen und ließ sich durch keine ihrer Listen abschütteln.

Als sie endlich wach wurde, klopfte ihr Herz rasend schnell, und es dauerte einige Minuten, bis sie sich wieder erholte. Draußen vor dem Fenster schien die Sonne hell und die Vögel zwitscherten fröhlich; ein wunderschöner Sommertag brach gerade an, und die heitere Stimmung vertrieb bald alle bösen Ahnungen.

Tamina verabschiedete sich bald von der gastfreundlichen Alten und machte sich auf den Weg.

Der Lichterwald wäre in seiner größten Ausdehnung in mehreren Stunden leicht zu durchqueren, wenn es eine gerade Straße oder einen gut befestigen Weg gäbe. Aber wie sie bald feststellen mußte, führten weder Wege in den Wald hinein, noch durch ihn hindurch. Das erschwerte die Sache ungemein, zumal sie keinen Kompaß oder irgend ein Mittel zur Orientierung besaß. Auch der Berg, der sich inmitten des Waldes steil erhob, war kein Wegweiser, da er nur aus großer Entfernung sichtbar war.

Unschlüssig wanderte Tamina am Waldrand entlang, der von dichtem Dornengestrüpp und mannshohen Brennesselstauden gesäumt war, ohne daß sie auf irgend einen Weg oder wenigstens einen Wasserlauf stieß. Es schien gerade so als, als versuchte der Wald sich gegen jedes Eindringen zu wehren.

Irgendwann gab sie es auf. Sie hatte nicht die Zeit, den ganzen Wald zu umrunden; das hätte bedeutet, über hundert Meilen weit zu wandern, ohne die Aussicht auf Erfolg.

Am Ende faßte sie einen schweren Entschluß. Sie ergriff das goldene Amulett, auf daß es ihr Beistand gewähre und marschierte geradewegs in den Wald hinein.

Die Dornen der Sträucher zerrten an ihrem Kleid und zerrissen ihre Strümpfe und die Brennesseln, welche besonders hoch und dicht wucherten, taten das ihre, um Taminas Fortschreiten zu hemmen.

Aber sie ertrug standhaft alle Unbill und klagte nicht, sondern kämpfte sich tapfer fürbaß. Irgendwie überwand sie diese erste Barriere ohne sich von den mannigfachen Blessuren aus der Ruhe bringen zu lassen. Vielleicht wirkte der Schutz des Talismans jetzt auch bei ihr, oder auch nur der Gedanke daran, ließ sie ihren Weg mit frischem Mute verfolgen.

Ohne recht zu wissen, ob sie auf dem richtigen Wege war und ohne die geringste Möglichkeit, das irgendwie festzustellen, marschierte sie stundenlang durch den Urwald, in dem seit Menschengedenken kein Holz geschlagen und kein Wild gejagt worden war.

Obgleich Tamina während ihrer Wanderung durch den Lichterwald weder Irrlichter noch Raubtiere oder ungeheuer begegneten, hatte sie dennoch das Gefühl, nicht in einem gewöhnlichen Walde zu sein. Sie konnte nicht sagen, woran es lag, aber auf eine besondere Weise lag das Geheimnisvolle, das Wunderbare beinahe zum Greifen in der Luft.

Nach einer kurzen Mittagsrast gelangte sie an einen kleinen Bach, dessen kristallklares, kaltes Wasser herrlich erfrischend war. Sie beschloß, eine Weile dem Wasserlauf zu folgen. Vielleicht führte sie der Bach an ihr Ziel. Viele Quellen entspringen im Gebirge.

Nach einer Dreiviertelstunde mündete der Bach plötzlich in einen Teich, dessen felsiger Grund sichtbar war. Das Auftauchen von Felsgestein deutete sie als ein gutes Zeichen. Sie beschloß, den Bach zu verlassen und sich weiter durch den sich ein wenig lichtenden Wald zu schlagen.

Der Boden wurde allmählich härter und trockener. Langsam begann der Laubwald sich in einen Mischwald zu wandeln. Immer häufiger traten vereinzelt aus dem Boden ragende, teilweise dicht mit Moos und Flechten bewachsene Felsbrocken auf. Das Gelände begann sanft anzusteigen.

Immer wieder glaubte Tamina, der gesuchte Berg müsse gleich vor ihr auftauchen, aber jedesmal ging es noch weiter bergauf. Zumindest aber schien die Richtung zu stimmen.

Derweil war es Abend geworden und für Tamina begann sich die Frage nach einem geeigneten Nachtlager zu stellen. Irgendwie hatte sie das nicht bedacht. Aber ein Zelt wäre ohnedies viel zu sperrig und zu schwer zum Tragen gewesen, besonders, da sie auf die Dienste eines Lasttieres verzichten mußte. Da es aber Sommer war und das Wetter heiß und trocken, wie es in Arkanien üblich war, machte es ihr nichts aus, im Freien zu schlafen. Allerdings war ihr der Ort nicht ganz geheuer. Sie hatte noch nie allein die Nacht im Wald verbracht, und schon gar nicht in einem verwunschenen Walde, wo schon so viele Leute auf unerklärliche weise verschwunden waren.

Taminas Unruhe begann zunehmend größer zu werden, je mehr sich die Sonne dem Horizonte näherte. Wenn sie wenigstens eine Lichtung oder eine andere geschützte Stelle fände, wo sie ein Lagefeuer anzünden könnte.

Bereits wollte sie eine andere Richtung einschlagen, als endlich vor ihr der langgesuchte Felsen im Abendrot auftauchte. Wenn sie sich beeilte, könnte sie noch vor Einbruch der Dunkelheit den Fuß der steil aufragenden Felswand erreichen.

Sie verdoppelte ihre Schritte, begann sogar zu laufen. Endlich lichtete sich der Wald. Tamina stand auf einer mit Steinbrocken und größeren Felsen übersäten Ebene. Vor ihr ragte dräuend die mächtige zerklüftete Felswand des Teufelszahn empor. Sie legte ihr Bündel am Fuße der Steilwand ab.

Die Abenddämmerung setzte gerade ein, als sie von einem furchteinflößenden Geräusch erschreckt wurde. Es hörte sich an wie ein mächtiges Rumpeln und Knirschen und schien direkt aus dem Herzen des Berges zu kommen.

Tamina sprang einige Schritte zurück und warf den Kopf in den Nacken. Vielleicht handelte es sich um einen Steinschlag oder gar einen Bergsturz. Wenn dies tatsächlich der Fall war, dann wäre dies hier ein äußerst gefährlicher Lagerplatz.

Bevor sie im Schlafe von einer Geröllawine erschlagen würde, zog sie es doch vor, im unheimlichen Wald zu nächtigen. Sie zog ein Stück weiter und wanderte an der Felswand entlang. Öfters mußte sie dabei über Felsvorsprünge und Geröllhaufen klettern, was bei der zunehmenden Finsternis kein Vergnügen war.

Auf einmal gewahrte sie in ungefähr hundert Schritt Entfernung einen dunklen Fleck in der hellen Felswand. Neugierig ging sie darauf zu, um bald darauf festzustellen, daß die dunkle Stelle im Fels der Eingang einer Höhle war.

Hatte sie es wirklich schon geschafft? War sie schon am Ziel ihrer Suche? es gab nur eine einzige Möglichkeit, um das herauszufinden. Sie mußte in die Höhle hineingehen. Ausgerechnet das! Höhlen hatten für Tamina seit je her etwas geheimnisvolles, unheimliches an sich. Sie war noch nie in einer Höhle gewesen. Aber aus Erzählungen wußte sie, daß sich dort allerhand übles Gesindel verbarg: Teufel, Drachen, ungeheuer, Zwerge, Räuber, Bären, blutsaugende Fledermäuse, usw.

Wenn jetzt wenigstens jemand bei ihr wäre. Alissandra hätte bestimmt keine Furcht einfach hinein zu marschieren, und Peter könnte ihr leicht erklären, daß eine Höhle ein ganz ruhiger, sicherer Ort sei.

Vorsichtig näherte sie sich von der Seite dem Höhleneingang, der ungefähr die Größe eines kleineren Scheunentores hatte. Mit angehaltenem Atem lauschte sie nach irgend einem Geräusch aus dem Inneren. War da etwas? Oder hörte sie nur die Geräusche des Waldes, die sich in dem Gewölbe vervielfältigten, oder das Pfeifen des Windes, der über die Felskanten strich?

Wenn sie wenigstens eine Waffe besäße. Aber außer dem kleinen Dolch, den Peter ihr einst geschenkt hatte, besaß sie nichts dergleichen. Obzwar es lächerlich war, mit einem kleinen Messer in der Hand einem Ungeheuer entgegen zu treten, holte sie trotzdem den Dolch hervor.

Wäre es nicht besser, bis zum Morgen zu warten? Ja, dachte sie, das wäre wirklich besser. Aber dann verwarf sie den Gedanken wieder und schalt sich für ihre Dummheit und Feigheit. In der Höhle war es am Tage genau so finster wie in der Nacht.

Tamina beschloß, ihr Lager beim Eingang der Höhle aufzuschlagen. Als erstes brauchte sie ein Lagerfeuer, und zwar ein großes.

Einerseits wüßte dann jeder im Umkreis von einigen Meilen, daß hier jemand lagerte, andererseits böte das Feuer vielleicht einen gewissen Schutz gegen wilde Tiere.

Im Wald lag eine Menge trockenen Holzes und Reisig herum, wovon sie eine Menge sammelte und zu einem riesigen Vorratshaufen auftürmte. Als ihr der Haufen groß genug erschien, um für die ganze Nacht ein entsprechendes Feuer am Brennen zu erhalten können, begann sie, Reisig und Äste so zu einem Haufen zu schichten, wie Alissandra es ihr gezeigt hatte.

Als alles vorbereitet war, ließ sie sich schwitzend und erschöpft ins dürre Gras vor der Höhle fallen, um eine Weile zu verschnaufen.

Dank ihrer Geschicklichkeit im Umgang mit der Zunderbüchse, gelang es ihr in kurzer Zeit, ein Flämmchen zu entfachen, mit dem sie das Reisig in Brand setzten konnte. Vorsichtig nährte sie das Feuer mit immer größeren Holzstücken, bis endlich ein lustiges Feuer seine zuckenden Schatten warf und einen angenehmen Lichtschein verbreitete.

Natürlich erleuchtete das Lagerfeuer nicht den Wald und auch nicht die Höhle, denn wenn man beim Feuer sitzt, dann ist alles um einen herum finster und unheimlich, besonders, da die flackernden Flammen unheimliche Lichter werfen.

Zuerst wollte Tamina etwas essen und warten, bis das Feuer richtig brannte, später würde sie einen Blick in die Höhle riskieren. Sie holte ihr Bündel und kramte darin herum, bis sie ein paar Kerzenstummel fand. Das war nicht gerade das richtige um eine Höhle zu erforschen, aber in Ermangelung hell brennender Pechfackeln oder einer guten Laterne mußte sie damit vorliebnehmen. Zur Sicherheit suchte sie sich aus dem Brennholzstapel einige längere Stöcke heraus, die sie vielleicht als Fackeln benutzen könnte, falls die Kerzen vom Luftzug ausgeblasen würden.

Zuerst aber stärkte sie sich mit dem Rest der Wurst, die sie aus der Schloßküche stibitzt hatte. Mit vollem Magen läßt man sich gelassener auf ein Abenteuer ein, dachte sie.

Nachdem Tamina ihr Abendbrot verspeist hatte, währendem sie weder den Höhleneingang noch den Waldrand aus den Augen verloren hatte, ohne allerdings irgend etwas verdächtiges zu hören oder zu sehen — außer vielleicht den Schatten und Ungeheuren, die ihre Einbildung gebar —, nahm sie allen ihren Mut zusammen und zündete zwei der Kerzen an. Die anderen beiden steckte sie in die Tasche ihres Kleides. Dann nahm sie noch einen Stock aus dem Feuer, dessen Spitze rotglühend war.

Die Kerzen brannten schlecht und dementsprechend war die Lichtausbeute gering. Aber weil dies die einzige Beleuchtung war, die ihr zur Verfügung stand, mußte sie sich wohl oder übel, damit begnügen. Der glimmende Stock war heiß und unhandlich. Sie steckte ihn neben dem Eingang in die Erde.

In der linken Hand die beiden Kerzen haltend, mit der rechten den Talisman umklammernd trat sie mit gemischten Gefühlen in die finstere Höhle ein. Der Eingang war breit und ließ einen sich allmählich sich verbreiternden Felsengang erahnen. Die Wände bestanden aus glattem Felsgestein, ebenso wie der leicht abschüssige Boden, der an manchen Stellen so glatt war, daß sie sich vorsehen mußte, um nicht auszugleiten. Behutsam, die Lichter weit nach oben haltend, um möglichst weit sehen zu können, schritt sie tapfer fürbaß, obgleich ihr Herz pochte und ihre Hände feucht wurden.

Der Gang machte eine leichte Biegung und Tamina konnte sofort spüren, wie die Luft kühler und etwas feuchter wurde.

Sie war kaum zehn Meter tief in die Höhle eingedrungen, als sie auf einmal über ihrem Kopf ein heftiges Flattern wahrnahm. Im nämlichen Augenblick schossen mehrere winzige schwarze Gestalten auf sie zu und über ihren Kopf hinweg, hinaus ins Freie.

Tamina stieß einen Schrei aus, der von einem dumpfen Echo mehrere Male wiederholt wurde. Sie warf sich auf den Boden. Dabei gingen die Kerzen aus und sie schürfte sich Hände und Knie auf. Kaum waren die Gestalten verschwunden, da rappelte sie sich wieder auf und stolperte im Dunkeln hinaus, wobei sie sich an der Wand entlang tastete.

Draußen lehnte sie sich an die kühle Felswand und mußte erst eine Weile verschnaufen, bis sie sich von dem Schrecken erholte. Sie zog die beiden Kerzen aus der Tasche und zündete sie an. Zum Glück hatte niemand gesehen wie sie wegen ein paar harmlosen Fledermäusen derart die Beherrschung verloren hatte. Ein weiteres Mal würde sie nicht kneifen.

Zurück in der Höhle suchte sie als ersten die beiden Kerzen, die sie in ihrem Schrecken hatte fallen lassen. Der Gang bog nach einigen Metern wieder ab; diesmal in die andre Richtung. Tamina fragte sich wie tief die Höhle in den Berg hinein führen mochte, als sie auf einmal weiter hinten, die Umrisse einer riesenhaften Gestalt ausmachte.

Ein leichter Luftzug fuhr durch die Höhle und ließ die Flammen kurzzeitig flackern. Sie holte die restlichen Kerzen hervor und zündete sie ebenfalls an. Im hellen Schein der vier Flämmchen erschien die Gestalt eines riesengroßen, grauen Drachens keine sechs Meter vor ihr.

Taminas Herzschlag schien auszusetzen. Sie stand wie angewurzelt, war unfähig sich zu rühren oder die Flucht zu ergreifen. Nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, gewann sie endlich die Herrschaft über ihren Körper wieder. Ihr erster Gedanken war instinktiv die Flucht. Sie wollte einfach nur weglaufen. Aber dann setzten sich Vernunft und Neugier durch.

Der Drache schien zu schlafen. Er lag auf dem Bauch, den großen Kopf mit der breiten Schnauze und den riesigen runden Nüstern auf die Vorderpfoten geschmiegt — wenn man die kurzen Vorderbeine mit den fünffingrigen, beinahe zierlichen Händen so nennen durfte. Er war völlig regungslos. Sein von lebkuchengroßen Schuppen bedeckter reptilienartiger Leib besaß die Farbe des umliegenden Gesteins. Das verwunderte Tamina sehr, hatte sie doch stets angenommen, Drachen seien grün.

Ob das Monstrum schlief? Aber es waren keine Atmengeräusche zu vernehmen. Das einzige was sie hören konnte, war das leichte Flackern der Kerzenflammen und das heftige Pochen ihres eigenen Herzens. Sie schlich auf Zehenspitzen zu dem Ungeheuer hin.

Auf einmal hellte sich ihre Miene auf und sie brach in ein ungezügeltes, lautstarkes Gelächter aus. Dieser Drache war gar nicht lebendig. Er bestand aus Stein; ein riesengroßes, steinernes Standbild. Er war perfekt gearbeitet und zeugte von großer Meisterschaft des Steinmetzen. Tamina hatte noch nie ein so lebensechtes Standbild gesehen. Jede Schuppe, jede Kralle, war einzigartig und von einer geradezu unheimlichen Naturtreue.

Wo aber befand sich der Blaue Kristall? Bei dem Steindrachen war er nicht. Tamina zwängte sich an dem Drachen vorbei, welcher beinahe die ganze Breite der Höhle ausfüllte. Zu ihrer Enttäuschung aber stellte sie fest, daß der Gang wenige Meter hinter der von drei Stacheln bewehrten Schwanzspitze des Drachens abrupt endete. Nur noch ein etwa handbreiter Spalt, durch den säuselnd der Wind zog, führte weiter.

Tamina war müde und enttäuscht. Sie kehrte zu ihrem Lager zurück. Nachdem sie noch etwas Holz ins Feuer gelegt hatte, wickelte sie sich in ihre Decke und legte sich zwischen Feuer und Felswand zum Schlafen hin. Bald darauf war sie eingeschlafen und träumte wunderliche Dinge von Drachen und schwarzen Ungeheuern.

Ein schauerliches Knirschen und ein dumpfes Grollen, das die Erde erbeben ließ, weckten Tamina jäh auf. Als sie erschrocken die Augen aufschlug, sah sie, das es gerade Morgen wurde und die ersten Sonnenstrahlen über die Baumwipfel fielen.

Blitzgeschwind sprang sie auf und stürzte noch etwas steif und schläfrig in Richtung Waldrand. Sie hatte Angst von einem Steinschlag getroffen und unter Tonnen von Geröll begraben zu werden.

Aber nichts dergleichen geschah. Sie erinnerte sich daran, daß sie am Abend zuvor das gleiche Geräusch schon einmal vernommen hatte. Sie fragte sich, ob dies wieder ein Felssturz war, nur auf der anderen Seite des Berges. Aber das konnte nicht sein, denn dann hätte es nicht so einen Lärm gemacht.

Sie streckte sich und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann lief sie einige Schritte in beiden Richtungen, konnte aber nirgends Spuren eines Steinschlags finden. Ohnehin hatte das Geräusch irgendwie anders geklungen.

Tamina wollte gerade wieder zurück zum Lager gehen, um nach dem Feuer zu sehen, als sie verdutzt stehen blieb. Kam da nicht ein Geräusch aus dem Inneren der Höhle?

Sie brauchte nicht lange nachzuforschen, was oder wer der Urheber des Lärms sein mochte, denn jener kam just aus dem Berg herausgestürmt und sah recht verdrießlich aus.

Tamina machte den Mund auf, aber sie brachte keinen Ton hervor. Statt dessen schwanden ihr die Sinne und sie stürzte ohnmächtig zu Boden.

Vor ihr im Höhleneingang stand leibhaftig und quicklebendig ein riesiger graugrüner Drache. Seine schuppige Haut glänzte wie die einer Schlange, seine großen hervorstehenden Augen hatten die Farbe von polierten Rubinen, seine Nüstern waren weit gebläht und vibrierten bei jedem schnaufenden Atemzug. Allerdings kam weder Rauch noch Feuer heraus. Entgegen der landläufigen Meinung können Drachen kein richtiges Feuer speien — jedenfalls nicht die arkanischen. Wenn ein Drache aber etwas zuviel von den in manchen Höhlen oder Kratern — Dachen lieben die heißen Vulkankrater und manche ziehen diese sogar einer gemütlichen Berghöhle vor — in Mengen vorkommenden Schwefelkristallen genascht hatte, dann konnte es schon mal geschehen, daß er ein Wölkchen übelriechenden, brennbaren Schwefeldampfes ausstieß.

Die arme Tamina lag also besinnungslos auf der Erde und der soeben zum Leben erwachte Drache, der arglos aus seiner Wohnhöhle hervorkam, war nicht minder erschrocken.

Zuerst stand er etwas unbeholfen und blöde da und warf ängstliche Blicke in die Runde. Waren da etwa noch andere Menschen? Vielleicht solche bösartigen Zeitgenossen, welche mit Lanzen und Schwertern gerne Jagd auf unschuldige, harmlose Drachen machten? Als er außer dem ohnmächtigen blonden Mädchen niemanden entdecken konnte, trat er vorsichtig auf Tamina zu und mit einer Behutsamkeit, die man der plumpen Gestalt nicht zutrauen würde, hob er sie mit seinen im Vergleich zu den kräftigen Hinterbeinen etwas zu kurz geratenen Armen auf und bettete sie vorsichtig auf ein weiches Moospolster. Mit dem mächtigen Schweif fächelte er ihr frische Luft zu, was aber eher der Wirkung eines Flugzeugpropellers entsprach.

Endlich, nach mehreren Minuten bangen Wartens und Fächeln kam Tamina wieder zu sich. Sie war noch ganz blaß. Als sie den gigantischen Drachenkopf über sich gebeugt sah, begann sie am ganzen Leib zu zittern. Mit halb erstickter Stimme flehte sie: »Bitte, Bitte! — Tue mir nichts!«

Der Drache räusperte sich mehrmals, was wie das Brüllen eines Löwen klang und Tamina in Erwartung ihres bevorstehenden Endes die Augen zukneifen ließ.

Der Drache schüttelte sein schuppiges Haupt und sprach mit leiser Stimme — oder mit dem was er unter leise verstand: »Habe keine Furcht, Mädchen! Ich werde dir kein Leid antun. Obzwar ich in meiner Jugend manche Jungfrau gefr… äh… erschreckt habe, brauchst du dich vor mir nicht zu fürchten. Was führt dich in meinen Wald?«

Tamina atmete tief durch und versuchte, sich etwas zu besinnen. Im Augenblick wußte sie wirklich nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Sprechende Drachen aus Stein, die lebendig werden und junge Mädchen fressen. Sie versuchte aufzustehen, mußte aber feststellen, daß ihre Knie weich wie Pudding waren. Sie mußte sich an einem Baumstamm festhalten.

»Ich, ich bin auf einer wichtigen Suche«, sagte sie schließlich. Sie griff nach dem goldenen Talisman, das sie unter ihrer Bluse trug. Mochte es ihr Mut verleihen und sie beschützen.

Dem Drachen entging diese Bewegung nicht.

»Was hast du da?« fragte er.

Tamina zog die Kette mit dem Amulett hervor. Der Drache reckte seinen langen Hals. Dann geschah etwas unerwartetes: Der Drache wich zurück und begann zu jammern und mit weinerlicher Stimme zu klagen.

»Oh weh! Ich Ärmster! Ich habe gewußt, daß dieser Tag einmal kommen würde. Jetzt ist es aus mit mir!« Er fiel auf die Knie und rang seine kleinen Hände.

Tamina mochte ihren Augen und Ohren nicht trauen. Machte das Ungetüm sich etwa lustig über sie? Aber nein! Jetzt quollen sogar Tränen aus den roten Augen des Drachens. Sie bildeten zwei kleine Sturzbäche, die über die breite Schnauze rannen und plätschernd ins Gras fielen, wo sie alsbald eine richtige Pfütze bildete.

»König Brunnar schickt dich, nicht war? Er ist also zurückgekehrt!« sagte der Drache und fuhr schluchzend fort: »Es tut mir ja so leid! Aber er hat mich einfach überlistet. Ich kann wirklich nichts dafür… — Aber natürlich ist es allein meine Schuld. Ich bin ein schlechter Wächter…«

Tamina wurde aus diesem Gerede nicht schlau. Trotzdem empfand sie plötzlich Mitleid mit diesem unglücklichen Drachen. Wäre er nicht so riesengroß, hätte sie ihre Arme um ihn gelegt und ihn getröstet.

»Bitte hör auf zu weinen! Du machst noch das ganze Gras naß. Ich will dir auch zuhören und ich bin dir bestimmt nicht böse. — Ich komme nicht von König Brunnar; der ist doch schon lange tot.«

»Nicht?« Der Drache hörte auf zu weinen und sah Taminen mißtrauisch an. Aber in seinen Augen glomm eine Spur von Hoffnung auf.

»Das ist richtig. Ich bin hier im Auftrag von Prinz Peter, dem rechtmäßigen Nachfolger von König Brunnar. Ich bin auf der Suche nach dem Blauen Kristall. Weiß du, wo…«

»Owehoweh! Also doch!« Erneut fing der Drache an zu heulen.

Tamina wurde es langsam zu bunt.

»Hör endlich auf zu flennen wie ein kleines Kind! Du bist ein Drache und kein Baby!« rief sie streng und bereute im selben Augenblick ihre harschen Worte. Immerhin sprach sie mit einem richtigen ausgewachsenen Drachen. Es wäre nicht klug, ihn zum Zorn zu reizen.

»Jetzt erzähle mir alles von Anfang an!« befahl sie ein wenig freundlicher.

Der Drache nickte und hub an zu erzählen:

»Vor einiger Zeit kam König Brunnar zu mir und vertraute einen winzigen blauen Kristall meiner Obhut an…«

»›Vor einiger Zeit‹? das war vor über vierhundert Jahren!« platzte Tamina heraus. Der Drache sah sie mit einem unterwürfigen Blick an.

»Ja, wie die Zeit vergeht! Der König sagte mir, daß dieses Steinchen eine ungeheure Zauberkraft besäße und daß ich ihn hüten und ihn mit allen Mitteln beschützen müsse. Er wußte natürlich, daß wir Drachen seit je her gewohnt sind, Schätze zu hüten und daß es in ganz Arkanien keinen gab, der besser für diese Aufgabe geeignet war, als ich.« Bei diesen Worten richtete er sich wenig auf und in seinen rubinroten Augenbällen glomm ein leichter Schimmer auf.

Ein strenger Blick Taminas ließ ihn sofort die Augen niederschlagen. Er fuhr fort: »König Brunnar sagte, daß dieser winzige Stein die Macht besäße, das Schicksal Arkaniens zu bestimmen. — Ich konnte mir das gar nicht vorstellen, denn der Kristall war so winzig, daß ich ihn kaum zwischen zwei Fingern halten konnte.« — In Wirklichkeit hat der Blaue Kristall die Größe eines Hühnereies — »Ich versprach dem König aber, den Kristall zu hüten und ihn nur ihm selber oder demjenigen, der das goldene Zeichen trägt, auszuhändigen. Kurz darauf beging ich … hm… einen Frevel und wurde dafür hart bestraft. — Du mußt verstehen, ich war damals noch jung und… — Jedenfalls bestand meine grausame Strafe darin, daß ich jede Nacht zu Stein erstarren muß — jeweils von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.«

»Du armer! Aber so schlimm scheint mir diese Strafe nicht zu sein. Ich meine in der Nacht schläft man doch sowieso«, sagte Tamina.

»Wir Drachen aber nicht. Wir schlafen am Tag und nicht in der Nacht.«

»Oh! Das habe ich nicht gewußt. In dem Fall ist das natürlich schlimm. Gibt es kein Mittel, um dich zu erlösen?«

»Doch, mein Kind. Das gibt es wohl«, sagte der Drache traurig. »Aber die Sache ist nicht einfach. Das einzige Mittel, um den Bann zu brechen, ist die magische Blaue Blume. Sie wächst nur an einem einzigen Ort in Arkanien und sie blüht nur kurze Zeit.«

»Ich verstehe. Aber warum suchst du sie nicht? Oder ist sie zu weit entfernt?«

»nein, sie wächst hier im Wald auf einer Lichtung. Aber ihre Blüte öffnet sich nur in der Nacht beim Vollmondschein.«

Aha! Jetzt verstehe ich«, sagte Tamina. Der arme Drache! Sie konnte sich nicht vorstellen, was für einen Frevel er begangen haben mochte und sie wagte auch nicht darnach zu fragen, aber diese Bestrafung war wirklich sehr grausam.

»Wenn du mir den Kristall gibst, dann will ich versuchen, dir zu helfen«, sagte sie. Der Drache schaute sie mit hoffnungsfrohem Blick an.

»Wenn du mir die Blaue Blume bringst, dann sollst du den Kristall bekommen«, antwortete er vorsichtig.

Tamina sah ein, daß es keinen Sinn hatte, mit dem Drachen zu handeln.

»Also gut. Aber ich habe nur wenig Zeit.«

»Das macht nichts. Die Blume wird bei Vollmond blühen. Genauer gesagt, blüht sie nur drei Nächte lang im Sommer. Du mußt sie pflücken und sofort zu mir bringen, noch ehe der Morgen anbricht, sonst ist ihre Wirkung vorbei.«

»Wo finde ich sie?«

»Du mußt von hier aus geradeaus nach Osten gehen, dann kommst du nach einer kurzen Strecke auf die Lichtung. Du hast aber nur drei Nächte Zeit. Morgen beginnt die erste.«

»Da hast du ja großes Glück gehabt, daß ich ausgerechnet jetzt vorbei komme«, sagte Tamina.

»Nichts geschieht ohne Grund«, entgegnete der Drache und zwinkerte geheimnisvoll. Dann gähnte er herzhaft, wobei er sein kolossales mit unzähligen spitzen, dreieckigen Zähnen bestücktes Maul aufriß und eine lange, leuchtend rote, am Ende gespaltene Zunge sehen ließ.

»Ich so müde. Ich muß schlafen«, murmelte er und watschelte zurück in die Höhle.

Bevor er drinnen verschwand, machte er kurz halt und wandte sich noch einmal zu Tamina um.

»Das wichtigste hätte ich beinahe vergessen«, sagte er. »Du mußt mich mit der Blume berühren, während ich versteinert bin. Aber hüte dich davor, mit der Blüte vorher irgend etwas anderes zu berühren. Die Blume wirkt nur einmal. Vergiß das nicht!«

Dann verschwand er in der Höhle und wenig später konnte man ein leises Schnarchen hören.

»Unglaublich«, murmelte Tamina vor sich hin. »Nachts ist er aus Stein und tagsüber schlaft er wie ein Murmeltier. Armer Drache!«

Tamina mußte ihm helfen, wenn sie an den Kristall herankommen wollte, den sie so dringend brauchte. Aber wahrscheinlich würde sie ihm auch so helfen. Schließlich begegnet man nicht jeden Tag einem friedlichen Drachen, der in Bedrängnis war. Sie fragte sich, ob ihr irgend jemand diese Geschichte glauben würde.

Der Drache ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken. Tamina fragte sich, ob er jemals etwas essen mußte, und falls ja, was, oder wen?

Den Nachmittag über versuchte sie ein wenig zu schlafen, um für die kommende Nacht gerüstet zu sein.

Tamina lag im Halbschlaf, als eine sanfte Hand sie sachte an der Schulter berührte. Es war der Drache. Er war inzwischen aufgestanden.

Tamina erhob sich. Die Sonne war schon hinter den Baumwipfeln verschwunden und bis zum Sonnenuntergang und zur Verwandlung des Drachens war es nicht mehr weit.

»Es ist gleich so weit«, sagte der Drache zu ihr. »Würdest du bei mir bleiben — während es geschieht? Ich war immer allein dabei.«

Tamina nickte. Sie schritt langsam hinter dem Drachen her.

»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte sie. »Ich heiße Tamina; und wie ist dein Name?«

Der Drache sah sie aus großen Augen lange an, dann sagte er leise: »Ich habe keinen Namen; das ist bei uns Drachen nicht üblich.«

Er legte sich im hinteren Teil der Höhle nieder und legte den Kopf auf die Vorderbeine, so wie Tamina ihn in der vergangenen Nacht gefunden hatte. Sie setzte sich neben ihn und legte einen Arm um seinen Hals.

»Tut es weh?« fragte sie.

»Nein, das nicht. Aber angenehm ist es nicht.«

Der Drache seufzte leise. Tamina spürte irgendwie, daß es im nächsten Augenblick so weit wäre.

Der Drache lag ganz still mit geschlossenen Augen da. Er wirkte wie tot. Auf einmal fühlte Tamina, wie sein Leib kalt und hart wurde. Alle Farbe wich langsam aus dem massigen Leib. Die Schuppen verloren ihren Glanz und wurden grau und stumpf. Dann vernahm sie das bekannte Knirschen und Poltern. Es hörte sich an, als würde ein schwerer Felsblock bewegt.

Die Verwandlung dauerte nur wenige Sekunden. Der Drache lang jetzt kalt und hart und durch und durch versteinert da und war völlig leblos.

»Du Ärmster!« flüsterte Tamina. »Ich werde dich erlösen.«

Sie verließ die Höhle und nutzte die Abenddämmerung aus, um sich gleich auf den Weg zu machen.

Sie lief durch den Wald in der angegebenen Richtung. Bald aber mußte sie eine Pause einlegen, da es stockfinster wurde. Bis zum Mondaufgang dauerte es noch eine Weile. Tamina setzte sich auf einen moosüberwachsenen, umgestürzten Baumstamm, um sich ein wenig auszuruhen und über alles nachzudenken.

Um sie herum war es sehr stille. Das Vogelgezwitscher hatte aufgehört und bis auf ein gelegentliches Rascheln im Unterholz und den einsamen Ruf eines Nachtvogels war nichts zu hören. Die Luft roch feucht und würzig nach Harz und Laub.

Tamina starrte angestrengt ins Dunkel. Mit der Finsternis waren auch die vielfältigen Schatten und Gespenster wieder aufgetaucht, welche unsichtbar die Nacht bevölkerten und ihr Gemüt in Aufregung versetzten. Natürlich wußte sie genau, daß alles nur Einbildung war. Aber je länger sie da saß, desto schwerer fiel es ihr, die Ruhe zu bewahren.

Die Tatsache, daß man weiß, daß alles in Ordnung ist, bedeutet eben noch lange nicht, daß man in seinem tiefsten Inneren auch daran glaubt.

Tamina schloß die Augen, aber das half freilich nichts, denn im Dunkeln spielt es keine Rolle, ob man die Augen offen hat, oder nicht; die Schatten bleiben die selben.

Die Zeit bis zum Mondaufgang floß träge dahin. Für Tamina war dies eine recht unerquickliche Zeit voller Ängste und Selbstvorwürfe.

Endlich wurde es ein wenig heller, so daß sie weitermarschieren konnte.

Nach ungefähr zwei Stunden Umherstolperns im Walde gelangte sie tatsächlich auf eine ziemlich große, kreisrunde Lichtung, welche nicht etwas von mannshohem Gras und Gestrüpp überwuchert war, sondern sich als eine schöne sattgrüne Wiese voller Blüten präsentierte — das satte Grün freilich konnte Tamina nur erahnen, denn bei dem Mondlicht sah alles ziemlich grau aus.

Der Drache hatte ihr die Blaue Blume genau beschrieben, so daß sie glaubte, diese rasch finden zu können. Wie groß aber war ihr Schrecken, als sie feststellen mußte, daß die Wiese von hunderten, vielleicht sogar Tausenden blauer Blumen übersät war, die in unregelmäßigen Abständen locker über die Grasfläche verteilt standen. Hatte der Drache nicht gesagt, es gäbe nur eine einzige Zauberblume?

Tamina brauchte eine Weile, um sich zu fassen. Sie kam zu dem Schluß, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: entweder hatte der Drache sich geirrt und es gab viele dieser Wunderblumen, oder aber von den unzähligen Blumen auf der Wiese war nur eine einzige zauberkräftig.

Tamina ging vorsichtig über die Wiese, sorgfältig darauf achtend, daß sie nicht aus Versehen eine der in Abständen von ungefähr einer Armeslänge wachsenden Blumen abknickte oder zertrat.

Alle Blumen sahen gleich aus. Sie waren ungefähr so groß wie Tulpen, nur daß ihre Blütenblätter in einem zarten Hellblau schimmerten und die Stengel von kleinen rundlichen Blättern bestanden waren. Die Blüten hatten in etwa die Form und Größe von Margeriten. Tamina konnte zwölf Blütenblätter und vier Kronenblätter zählen.

Enttäuscht ließ sie sich am Waldrand, wo keine Blumen waren ins Gras fallen. Bestürzt starrte sie auf die Lichtung hinaus. Sie hatte sich alles so einfach vorgestellt; und bislang hatte auch alles reibungslos geklappt. Sie hatte den Lichterwald und die Höhle auf Anhieb gefunden, war von Ungeheuern und wilden Tieren verschont geblieben. Sogar der Drache, der den Kristall bewahrte, war freundlich und mußte nicht erst im Kampfe besiegt werden. Und jetzt das! Wie sollte sie nur die richtige Blume finden? Sie hatte nur drei Nächte lang Zeit, dann würde die Blume verblühen und sie müßte ein ganzes Jahr warten. Ohne Blume kein Kristall. Der Drache war der einzige, der wußte, wo sich der Kristall befand. In der Höhle hatte sie ihn jedenfalls nicht entdecken können. Wahrscheinlich hatte er ihn irgendwo versteckt.

Während sie so da saß und ihren verdrießlichen Gedanken nachhing, vernahm sie auf einmal ein ganz leises Geräusch auf der anderen Seite der Lichtung. Sie horchte angestrengt in die Richtung. Irgend etwas bewegte sich dort im Unterholz. Jetzt konnte sie sogar etwas sehen. Sie kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit. War da nicht ein heller Fleck gewesen, der sich bewegt hatte?

Auf einmal trat wachsam und beinahe lautlos eine weiße Gestalt aus dem Walde heraus.

Tamina hielt die Luft an und starrte mit offenem Mund auf die Lichtung. Die weiße Gestalt, die soeben aus dem Wald gekommen war, sah aus wie eine Mischung aus Pferd und Ziege. Das Tier war von zierlicher Gestalt. Es besaß den eleganten Körperbau eines edlen Pferdes, die gespaltenen Hufe einer Ziege und hatte die Größe einer Hindin. Vielleicht war es auch ein wenig größer; das ließ sich bei der Entfernung und dem schwachen Licht schwer abschätzen.

Das auffälligste aber war das lange, spitze, schraubenartig in sich gedrehte Horn, welches dieses seltene Wundertier mitten auf der Stirn trug. Was Tamina leibhaftig vor sich stehen sah, war ein richtiges Einhorn; eines jener ungemein seltenen Wundertiere, welches sie nur aus Märchen und Erzählungen kannte. Tamina wagte kaum zu atmen. Sie hatte gehört, daß diese Tiere äußerst scheu seine und die Gesellschaft der Menschen mieden.

Stimmten die Märchen und Legenden tatsächlich, in denen von Drachen, Einhörnern und anderen Wundertieren die Rede war? Was mochte es hier suchen? War es am Ende ebenfalls wegen der Zauberblume hier? Tamina beobachtete aufmerksam jede Einzelheit.

Das Einhorn hob den Kopf und spitzte die Ohren, als wenn es ein Geräusch vernommen hatte. Langsam trabte es auf die Mitte der Lichtung.

Jetzt, wo es näher gekommen war und im vollen Mondlicht stand, konnte Tamina es genauer beobachten. Es besaß große, runde, helle, wahrscheinlich blaue Augen mit langen, im Gegenlicht schimmernde Wimpern. Mähne und Schweif waren ungewöhnlich lang und von viel feinerer Beschaffenheit als bei einem Pferd. An den Fesseln trug es einen langen bis auf die Erde reichenden Kötenbehang. Der Kopf war eher zierlich und edel. Das Horn war von einem hellen Elfenbein und schraubenförmig im Gegenuhrzeigersinn gedreht. Es mochte gut eine Elle messen und war am Ende so spitz, daß es eine gefährliche Waffe darstellte.

Das Einhorn blieb vor einer der großen Blüten stehen und senkte den Kopf. Tamina war ganz aufgeregt. Was wäre, wenn es die Blume auffräße?

Aber das Einhorn war nicht zum Fressen auf die Lichtung gekommen. Es schnupperte an der Blume, dann trat es einen Schritt zurück.

Tamina frohlockte. Jetzt war sie ganz sicher, daß dies die gesuchte Blume war. Sie prägte sich die Blume genau ein, was nicht ganz einfach war, aber dort, wo das Einhorn stand, war das Gras niedergedrückt. Diese Stelle würde sie später leichter wiederfinden.

Sie fragte sich gerade, was das Einhorn als nächsten tun würde, als etwas völlig unerwartetes geschah.

Das Einhorn öffnete den Mund und begann zu singen. Seine Stimme war hell und klar und hatte den Klang eines kristallenen Glockenspiels. Es sang keine Worte und die Melodie war ebenso fremdartig, wie wunderschön.

Tamina meinte, ihr müsse das Herz zerspringen, beim Klang dieses Gesangs. Unwillkürlich schloß sie die Augen und lauschte verzückt diesen mächtigen Tönen, welche ihr Herz berückten und direkt in ihre Seele drangen. Noch nie im Leben hatte sie so etwas wundervolles gehört und sie war sicher, daß sie auch nie wieder etwas ähnliches hören würde.

Alle ihre Sorgen, ihr ganzer Schmerz war wie weggeblasen. Die Töne schienen sie auf magischen Schwingen emporzuheben und weit fort zu tragen. Sie fühlte sich unendlich ruhig und entspannt.

Die Melodie veränderte sich ein wenig, wurde mal lauter, mal etwas leiser; und doch war es immer irgendwie das gleiche; eine unendliche Variation desselben Themas.

Das Lied des Einhorns dauerte eine nicht bestimmbare Zeit lang. Während es sang, schien selbst die Zeit anzuhalten, um zu lauschen.

Irgendwann verklang leise das Lied und das Einhorn lief mit erhobenem Haupt leichtfüßig, beinahe schwerelos über die Lichtung und verschwand im Wald. Aber zu dieser Zeit lag Tamina längst in tiefen Schlummer versunken da. Ein Lächeln umspielte noch im Schlafe ihre Lippen.

Als Tamina aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Die Lichtung sah jetzt ganz anders aus. Die blauen Blumen waren alle verschwunden. Nur noch dicke, fest verschlossene, grasgrüne Knospen standen da und hoben sich kaum von dem Grase ab.

Tamina sprang erschrocken auf die Füße. Was war mit ihr geschehen? Sie erinnerte sich an die Nacht und an das Einhorn. Hatte sie das alles nur geträumt? Ein singendes Einhorn? Das war in der Tat sonderbar genug, um in einem Traum vorzukommen. Wahrscheinlich war sie von dem ungewohnten späten Aufbleiben und der nächtlichen Wanderung so müde gewesen, daß sie einfach eingeschlafen war. Aber das mit den Blumen auf der Wiese hatte sie bestimmt nicht geträumt. Vielleicht war der Traum mit dem Einhorn ja auch ein Zeichen, wo sich die gesuchte Blume befand.

Sie stand eine Weile unschlüssig am Rande der Wiese und versuchte, sich zu erinnern, wo das Einhorn gestanden hatte, aber es wollte ihr beim besten Willen nicht gelingen.

Die erste von drei Nächten war vertan. Jetzt im hellen Sommersonnenschein konnte sie nichts unternehmen. Die Blüten waren alle geschlossen, und wenn sie auf der Wiese herumliefe, dann könnte sie leicht eine davon übersehen und beschädigen.

Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als bis zur Nacht zu warten, bis die Blüten sich wieder auftaten. Irgendwie müßte sie es dann aber schaffen, die richtige herauszufinden.

Jetzt aber wollte sie sich zuerst einmal stärken. Sie holte ihr letztes Stück Brot hervor und aß es auf.

Beim Herumschweifen im Walde entdeckte sie einen kleinen Bach, aus dem sie trinken und sich waschen konnte. Am Ufer des Baches fand sie mehrere Sträucher mit süßen Beeren und im Unterholz entdeckte sie sogar einige der aromatischen kleinen Walderdbeeren.

Der arme Drache war zu dieser Tageszeit wieder lebendig und wartete bestimmt auf ihre Rückkehr. Aber den weiten Weg durch den Wald zu laufen, nur um von ihrem Mißerfolg zu berichten, erschien ihr sinnlos. Sie hatte sich fest vorgenommen, erst dann zurückzukehren, wenn sie die Blume hatte, oder endgültig versagt hätte; also spätestens in drei Tagen. So lange müßte sie sich aber von Wasser und Waldbeeren ernähren, denn Proviant besaß sie keinen mehr, und auf die Jagd gehen konnte sie auch nicht.

Ungeduldig wartete sie auf den Einbruch der Nacht. Als es endlich so weit war, begab sie sich erneut zu der Waldlichtung, wo sie sich hinter einem Gebüsch niederließ.

Von hier konnte sie die ganze Wiese überschauen. Sie hoffte, daß, sobald die Blumen sich öffneten, das Einhorn wieder käme, sonst sähe es schlecht für sie aus.

Im Augenblick aber tat sich noch nichts. Tamina mußte gähnen. Hoffentlich schliefe sie nicht wieder ein. Aber sie hatte sich den Tag über geschont und so war sie guten Mutes, daß ihr heute nicht dasselbe Mißgeschick widerführe.

Als es völlig dunkel und stille geworden war, stand Tamina auf und trat aus ihrem Versteck hervor. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und so konnte sie kaum etwas erkennen. Die Zauberblumen standen noch immer mit geschlossenen Blüten da, aber irgend etwas hatte sich verändert und diese Veränderung war noch nicht abgeschlossen.

Da sich die Blüten erst im Mondlicht öffneten, mußte sich Tamina irgendwie solange die Zeit vertreiben. Sie begann leise alle Gedichte aufzusagen, die sie kannte und alle Lieder zu summen. Zwischendurch versuchte sie sich auszumalen, wie sie Peter mit Hilfe des Blauen Kristalls retten und Arkanien befreien würde.

Ein lautes Rascheln wie von weichem Papier riß sie aus ihren Gedanken. Sie schaute auf die Wiese, über der hoch am Himmel der Mond stand. Sie wunderte sich sehr, denn noch nie hatte sie den Mond so rasch aufgehen gesehen.

Alle Blumen waren jetzt voll erblüht und beinahe im selben Augenblick, da sie die Blütenpracht bewunderte, nahm Tamina einen intensiven, süßen Duft wahr. Dieser Duft, der sie an keine ihr bekannten Blumen erinnerte, war ihr in der vergangenen Nacht nicht aufgefallen. Vielleicht lag es daran, daß heute Vollmond war und die Mondblumen, wie sie diese getauft hatte, erst jetzt ihre volle Blüte erreichten.

Gespannt wartete sie auf das Erscheinen des kleinen Einhorns. Dann würde sich zeigen, ob sie in der letzten Nacht nur geträumt hatte, oder ob ihr Erlebnis Wirklichkeit gewesen war.

Tamina strengte ihre Augen an. War da nicht ein weißer Schemen? — Nein, sie hatte sie getäuscht.

Aber jetzt sah sie wirklich etwas. Das war keine Täuschung. Dort auf der Lichtung, nahe am Waldrand bewegte sich etwas. Es war das Einhorn. Es kam langsam näher. Immer wieder reckte es witternd die Nase in die Luft. Auf einmal schien es eine Witterung aufzunehmen, denn es trabte zielstrebig auf die Mitte der Wiese zu. Dort blieb es vor einer besonders großen und schönen Blüte stehen und schnupperte lange und ausgiebig daran.

Tamina bekam einen Schrecken. Gestern hatte das Einhorn an einer anderen Blume gerochen. Das war am Rande der Wiese und nicht in deren Mitte gewesen. War das am Ende gar nicht die gesuchte Zauberblume? Oder konnte diese Blume am Ende gar ihren Standort wechseln?

Aber so etwas war völlig unmöglich. Blumen wandern nicht einfach umher. Auch Zauberblumen stecken mit ihren Wurzeln fest in der Erde. Oder war es doch die Möglichkeit?

Tamina streckte den Hals um besser sehen zu können. Da fing das Einhorn erneut an zu singen. Und wieder erstarrte Tamina. Dies Mal klang das Lied des Einhorns anders. Die Melodie war eine rasch wechselnde. Die Töne waren hell und voll und das Lied klang fröhlich, beinahe festlich.

Tamina atmete ruhig und tief. Sei fühlte eine nie gekannte Kraft und Stärke in sich. Diese Musik war so unbeschreiblich schön und mächtig, daß es in ihrem Herzen zu klingen begann. Sie fühlte die Freude und Lebenskraft des Einhorns in ihrem Innersten. Irgend etwas in ihrem Gemüte schien sich durch die Musik zu verändern. Erneut hatte sie den Eindruck zu schweben. Ihr war als glitte sie schwerelos durch den Raum, und die Zeit verlor alle Bedeutung.

Jetzt erreichte das Lied seinen Höhepunkt. Tamina fühlte sich unendlich stark und unsterblich. Ihre Furcht und alle Zweifel verschwanden, machten einer alles durchdringenden Hoffnungsfreude Platz.

Langsam klang das Lied aus und wiederum fiel eine bleierne Müdigkeit über sie und obwohl sie versuchte, dagegen anzukämpfen, fielen ihr schließlich die Augen zu.

Als Tamina die Augen wieder aufschlug, war es heller Tag. Die Mondblumen waren verschwunden, und sie Waldlichtung sah aus wie am Tage davor.

Tamina sprang auf. Sie war wütend und verzweifelt. Sie wollte Schreien und Weinen zugleich. Die zweite Nacht war vertan. Jetzt blieb ihr nur noch eine letzte Chance.

Wenngleich Hunger und Durst sie plagten, achtete sie nicht darauf, sondern machte sich den ganzen Tag lang nur Gedanken, wie sie es schaffen könnte, beim nächsten Mal wach zu bleiben.

An Schlaf war während des ganzen Tages nicht zu denken. Tamina war viel zu aufgeregt und nervös. Alle Hoffnungen Arkaniens lasteten auf ihr. Wenn sie es nicht schüfe, heute Nacht in den Besitz der Blauen Blume zu gelangen, dann wäre alles verloren. Der Drache würde weiterhin jede Nacht zu Stein erstarren, Alissandra würde den Sohn des Regenten heiraten, Peter würde im Kerker verschmachten und Wilo und seine Kampfgefährten hätten keine Chance gegen die mächtigen Armeen von Tiras.

Der Tag verging, es wurde Nacht. Kaum war der Mond am Himmel erschienen, da vernahm sie wieder das raschelnde Geräusch, mit dem sich die Blüten der Mondblumen öffneten. Sofort sprang sie auf die Füße. Diesmal wollte sie die ganze Zeit über stehen bleiben. Im Stehen konnte man nicht schlafen. Ein dicker Baumstamm bot ihr genügend Deckung. Inständig hoffte sie, daß das Einhorn ein drittes Mal erscheinen und ihr die Zauberblume zeigen würde.

Taminas inständiges Flehen wurde erhört. Auch in dieser Nacht fand sich das Einhorn am gegenüberliegenden Rand der Lichtung ein. Tamina drückte sich eng an die borkige Rinde des Baumstammes.

Das Einhorn benahm sich genau so wie in den vorausgegangenen Nächten. Es schnupperte und lief dann zu einer der Blumen. Heuer befand sich die betreffende Blume ganz in Taminens Nähe. Von ihrem Versteck aus konnte sie die Blume genau erkennen. Sie war größer und auffälliger als die anderen. Es wäre ein leichtes, sie später wieder zu finden, dachte sie.

Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, einfach auf die Lichtung zu stürmen und die Blume herauszureißen. Aber etwas hielt sie zurück. Sei es, daß sie von dem Anblick des sanftäugigen Geschöpfes zu sehr berückt war, oder das sie sich vor dem Zorn des mit dem spitzen unzerstörbaren Horne bewehrten Tieres fürchtete. Sie mochte sich nicht rühren.

Und wieder stimmte das Einhorn sein Lied zu Ehren der Blume an. Wieder fühlte Tamina eine unbeschreibliche Macht von sich Besitz ergreifen.

Heute klang das Lied des Einhorns ganz anders. Es hatte einen tiefen, schwermütigen, fast klagenden Klang. Es war unendlich traurig und schön zugleich. Tamina spürte, wie ihr Herz überlief. Eine unbeschreibliche Traurigkeit erfüllte sie. Es war als zerrisse der Schmerz ihr Herz. Mit der letzten ihr verbleibenden Willenskraft bezwang sie sich und praßte die Hände fest auf ihre Ohren. Allein, es half nichts. Die Musik schien durch alle Poren ihres Körpers einzudringen. Auf einmal wußte sie, daß sie nicht dagegen ankämpfen konnte und daß sie bald wieder in tiefen Schlaf versinken würde. Dieser Gesang war einfach zu mächtig.

Eine so große Traurigkeit erfüllte ihr Herz, daß sie es nicht mehr aushalten konnte. Am Anfang liefen ihr nur stille Tränen über die Wangen, dann aber konnte und wollte sie sich nicht mehr bezähmen. Sie fing an zu weinen, und je mehr sie weinte, desto trauriger wurde sie. Aber indem sie weinte, ging es ihr gleichzeitig besser. Sie fühlte eine unerschöpfliche Traurigkeit und gleichzeitig einen ungeheuren Trost. Es war ein unbeschreibliches Durcheinander und Nebeneinander von Gefühlen.

Auf einmal verstummte abrupt der Gesang des Einhorns. Nur Taminens heftiges Schluchzen war im Walde zu vernehmen.

Mit dem Ende des Gesanges wich der Zauberbann von ihr und ihre Tränen versiegten. Tamina wischte sich mit der Hand über das heiße Gesicht, als sie eine sanfte, samtige Berührung spürte.

Verdutzt blickte sie auf und erkannte, daß das Einhorn direkt vor ihr stand und sie sanft mit der Nase anstubste. Tamina war so verblüfft, daß sie sich rücklings ins Gesträuch setzte.

Das Einhorn betrachtete sie und sprach leise zu ihr: »Warum weinst du?« Seine Stimme klang wie Kristall. Tamina wagte nicht zu sprechen. Das Einhorn kam einen Schritt näher und legte sich hin. Es bettete seinen Kopf in Taminens Schoß. Unwillkürlich begann sie das seidige Fell zu streicheln. Langsam glitten ihre Finger über den Schopf, bis sie die Basis des weißen Hornes berührten. Es fühlte sich hart und kühl an. Dennoch spürte sie, wie es ihr siedend heiß durch ihre Finger und ihren Arm fuhr.

Tamina vergaß ihre Scheu und fing an alles zu erzählen, von Anfang an. Sie berichtete von ihrem Leben, von Peter und Alissandra, von ihren gemeinsamen Abenteuern. Sie erzählte von dem verwunschenen Drachen, der der Blauen Blume zu seiner Erlösung bedurfte.

»Komm mit!« sprach das Einhorn und stand auf. Es führte Tamina bis zu der Blume.

»Pflücke sie!« sagte es und berührte die Blume mit seinem Horn.

»Ich kann nicht. Wo sie dir so lieb ist«, antwortete Tamina leise.

Das Einhorn lachte hell und fröhlich.

»Fürchte dich nicht, Tamina! Diese Blume besitzt wahrhaftig große Zauberkraft, aber morgen Früh beim ersten Sonnenstrahl wird sie verblühen. Im nächsten Jahr wird eine neue Blume entstehen, so wie im vergangenen Jahr und in dem Jahr davor. So lange wie dieser Wald besteht, wird es die Blaue Blume geben.«

Tamina faßte sich ein Herz. Sie ergriff den langen Stengel der Blume und knickte ihn ab. Vorsichtig befestigte sie die Blume an ihrem Kleid, wobei sie peinlich acht gab, die Blütenblätter nicht zu berühren.

Das Einhorn beobachtete sie dabei aufmerksam. Plötzlich senkte es den Kopf und stieß mit dem Horn nach Taminens Hand. Das spitze Ende riß eine kleine Wunde, aus der einige Blutstropfen quollen und auf die erde fielen.

Tamina wich erschrocken zurück. »Warum hast du das getan?« fragte sie und sah das Einhorn ängstlich an.

»Ich mußte es tun. Ich bin der Hüter dieser Blume und aller anderen Geschöpfe des Lichterwaldes. Niemand darf ungestraft einem der Lebewesen ein Leid zufügen; so lautet das Gesetz. Ich mußte dich bestrafen. Dein Blut ist der Preis für das Leben der Blume. Kannst du das verstehen?«

Tamina nickte, obschon sie nicht genau verstand, was das Einhorn meinte. Die paar Tropfen Blut waren bestimmt nur eine symbolische Strafe für das Ausreißen der Blume, welches ihr von dem Einhorn ja auch gestattet worden war. Aber was war mit den anderen Menschen geschehen, die in den Lichterwald eingedrungen waren? Schaudernd dachte sie an die Jäger und Holzfäller, die spurlos verschwunden waren.

Auf einmal erkannte sie, daß das Einhorn nicht einfach ein niedliches, harmloses Märchentier war.

»Fürchte dich nicht, Tamina! Alles wird gut. Du mußt dich sputen. Es wird bald Tag.«

Tamina nickte. Sie dankte dem Einhorn für deine Hilfe.

»Folge den Lichtern. Sie weisen dir den Weg«, sagte das Einhorn, dann warf es den Kopf in den Nacken und sprang in die Luft. Ohne sie noch einmal umzudrehen trabte es davon und verschwand zwischen den Bäumen im Wald.

Tamina seufzte. Was für ein Geschöpf« Sie blickte sich um. Das Einhorn hatte von Lichtern gesprochen, und tatsächlich glitzerte etwas im Dickicht. Sie ging darauf zu. Das Glitzern erlosch und erschien einige Meter weiter erneut. Das glitzernde Licht glich dem Leuchten von Glühwürmchen, war aber viel heller und zugleich kleiner.

Sie folgte dem Licht, dessen Ursprung sie nicht erkennen konnte. Kaum hatte sie es erreicht, da verlosch es, um gleich darauf einige Schritte entfernt wieder aufzuleuchten. Meistens blieb es in Bodennähe, zuweilen aber hüpfte es in die Luft oder erschien im Geäst eines Baumes.

Gleichwohl es hier im Wald stockfinster war, konnte Tamina ziemlich schnell gehen, denn ihr leuchtender Wegweiser führte sie auf sicheren Pfaden an allen Hindernissen vorbei.

So gelang es ihr, in kurzer Zeit den Weg zurück zum Teufelszahn zurückzulegen.

Kaum erschien der schwarze Felsen vor ihr, da stoben die Lichtfünkchen auseinander und verschwanden im Nachthimmel.

Tamina ging noch einige Schritte in der Richtung weiter und gelangte so an den Eingang der Höhle. Sie fand einen der Kerzenreste am Eingang. Rasch zündete sie ihn an und ging hinein. Zielstrebig lief sie zum Ende, wo der Drache in seinem versteinerten Zustande lag.

Sie fand ihn genauso daliegend vor, wie sie ihn zuletzt verlassen hatte. Er wirkte so einsam und verlassen, daß sie keinen Augenblick zögerte und behutsam die Blume in die Hand nahm.

Tamina berührte den Kopf des Drachens mit der hellblauen Blume. Mit einem feinen Geräusch, wie wenn ein dünnes Glas zerspringt, veränderte sich die Blume. Sie verlor ihre kräftige Farbe und nahm ein fast durchsichtiges Blaßblau an. Zugleich wurde sie hart und starr. In demselben Augenblick, da sich die Blaue Blume in zartesten Alabasterstein verwandelte, erbebte die Höhle und ein gewaltiges Donnern erscholl wie ein Paukenschlag. Sand und kleine Steinbrocken fielen von der Decke herab. Tamina sprang erschrocken einige Schritte zurück. Der Drache gewann augenblicklich seine lebendige Farbe und Gestalt zurück. Er schlug die Augen auf und schaute verwirrt nach allen Seiten.

Als er Taminen sah und die versteinerte Blume in ihrer Hand, begriff er endlich, was geschehen war.

»Du bist frei. Die Blume hat gewirkt!« rief Tamina und lief zu dem Drachen und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»JA, endlich bin ich erlöst und kann in meine ferne Heimat hinter dem großen Felsengebirge zurückkehren. Ich danke dir, Mädchen! Ich wünschte, ich könnte es dir irgendwie vergelten.« Er sah sie traurig an und ließ den Kopf hängen.

»Das brauchst du nicht. Es reicht, wenn du mir den Blauen Kristall gibst«, sagte Tamina voller Rührung.

Der Drache seufzte laut und sagte daraufhin: Es tut mir so leid, aber ich kann dir den Kristall nicht geben.«

»Wie bitte? warum nicht?« Tamina verstand die Welt nicht mehr.

»Weil ich ihn nicht mehr habe. Er wurde mir gestohlen, während ich versteinert in der Höhle lag, so wie alle meine anderen Schätze auch. — Aber ich weiß, wer ihn besitzt, und werde dir helfen, ihn zurück zu bekommen«, fügte er rasch hinzu, als er sah wie Taminas Miene sich verdüsterte und ihre Augenbrauen sich zornig runzelten.

»Du hast mich schändlich belogen und ausgenützt, du Vieh!« schrie sie.

»Bitte sei nicht böse! Ich kann dich verstehen, aber ich habe so lange warten müssen — da konnte ich es nicht darauf ankommen lassen, daß … — Hättest du die Blume gesucht, wenn du es vorher gewußt hättest?«

»Ja!« gab Tamina trotzig zurück. Sie fragte sich, wie viele Rückschläge sie noch zu erleiden hätte, bis sie endlich den Kristall in Händen hielte. Derweil mußte der arme Peter im finsteren Kerker ausharren.

»Führe mich sofort dorthin!« befahl sie dem Drachen, der im Begriffe war, genüßlich alle Glieder zu strecken.

»Was? Jetzt?!«

»Ja!«

Der Drache setzte sich in Bewegung. Tamina ging voraus. Als sie vor dem Höhleneingang standen, sah sie ihn fragend an.

»Nun?«

»Laß es mich dir erklären. Wir Drachen sind nicht die einzigen, die gewohnheitsmäßig Schätze horten…«

»Komm zur Sache!«

»Es war der Greif, der oben auf der Spitze von dem Berg sein Nest hat. Er hat den Kristall gestohlen.«

Ein Greif? Ein richtiger Greif? Tamina verdrehte die Augen. Hört das denn niemals auf? dachte sie. Drachen, Einhörner, Greifen — mit wie vielen Ungeheuern bekäme sie es denn noch zu tun?

»Und wie komme ich dort hinauf?« fragte sie.

Der Drache sah sie erschrocken an.

»Willst du das wirklich? Du mußt wissen, ein Greif ist ziemlich gefährlich und sehr schlau…«

»Gefährlicher als ein Drache?«

Der Dache wand sich.

»Ja — ich meine, nein. Ach … — also gut, ich werde dich hinaufbringen. Ich muß erst ein wenig üben. Ich bin lange nicht mehr geflogen.«

Geflogen? Tamina starrte ihn ungläubig an. Können Drachen fliegen?

Jetzt erst sah sie, daß der Drache tatsächlich zwei kleine Flügel besaß, die er geräuschvoll entfaltete und mit einem gewaltigen Knattern hin und her schlug. Es hörte sich an, wie wenn ein Windstoß in die Segel eines Schiffes fuhr.

»Geh du nur schlafen! Bis morgen für bin ich wieder in Form«, sagte der Drache.

Tamina hätte ihm nur zu gern bei seinen Flugversuchen zugeschaut, aber sie merkte auf einmal, wie müde sie war. Sie legte sich daher beim Höhleneingang auf ein weiches Moospolster, und wenig später schlief sie bereits tief und fest.

Derweil übte sich der Drache mehr oder weniger anstellig im Fliegen. Natürlich verlernt man das Fliegen, wenn man es denn einmal beherrscht, nicht, ähnlich wie das Radfahren, aber wenn man es ein paar hundert Jahre nicht mehr ausprobiert hat, dann braucht man eben einige Übungsstunden.

Nach den aufregenden Erlebnissen der vergangenen Tage, oder besser gesagt Nächte, mußte Tamina viel Schlaf nachholen. Als sie aufwachte, war es später Nachmittag. Sie hatte einen riesigen Hunger und fühlte sich ganz schwach. Sie stand auf und rief nach dem Drachen. Aber sie bekam keine Antwort und konnte ihn auch nirgends entdecken. Dafür aber fand sie neben ihrem Lager einen großen Haufen mit Früchten, Beeren, Wurzeln und Blättern. Offensichtlich war das für sie bestimmt. Allerdings schien der Drache nur eine verschwommene Vorstellung davon zu haben, was ein Mensch zum Essen brauchte. Wenigstens fand Tamina weit mehr genießbares, als sie in einer Woche vertilgen konnte.

Nachdem sie sich gestärkt hatte, saß sie ungeduldig neben dem Höhleneingang und wartete auf die Rückkehr des Drachens. Sie hoffte, daß er Wort halten würde und wieder zurückkehrte.

»Hallo Tamina! Hier bin ich wieder!« erscholl eine dröhnende Stimme über ihrem Kopf. Tamina hob den Blick gen Himmel und sah den Drachen ungefähr fünfzehn Meter hoch in der Luft an ihr vorbeiflattern. Sie glaubte nicht recht zu sehen, aber auf irgend eine wunderbare Weise vermochte es der Drache tatsächlich, sich vermittels seiner beiden lächerlich kleinen Flügel in der Luft zu erhalten.

»Aus der Bahn! Ich lande jetzt«, rief er. Und schon kam er im Sturzflug herangerauscht. Tamina hatte gerade noch Zeit, sich in die Höhle zu retten, da kam er auch schon herunter.

Die Landung verlief — gelinde gesagt — ein wenig holperig. Aber mit der Zeit würde sich das schon bessern, beeilte er sich ihr zu versichern, als er ihre skeptischen Gedanken von ihrem Gesichte ablas. In der Tat malte sich Tamina bereits in den grellsten Farben aus, wie sie an der Bergspitze zerschellten.

»Bist du bereit? Dann kann es von mir aus losgehen«, sagte er und schnaufte wie eine Güterzugslokomotive.

Tamina nahm ihren ganzen Mut zusammen und kletterte auf den Rücken des Drachens, wo sie sich am Halsansatz rittlings hinsetzte, was sich übrigens als äußerst unbequem erwies, ragten doch vom Halse an abwärts, bis zum Schwanzansatz, spitze Hornschilde senkrecht empor.

»Halte dich gut fest!« rief er ihr zu und begann, heftig mit den Flügeln zu schlagen. Gleichzeitig nahm er einen ziemlich langen Anlauf, was angesichts seiner kurzen, dicken Beine und dem hin und her schwingenden Schwanz einen recht komischen Anblick abgab.

Tamina verging ob des gewaltigen Flügelschlagens beinahe Hören und Sehen. Sie klammerte sich mit beiden Händen fest an den Hals des Drachens und kniff vorsichtshalber die Augen zu.

Nach einer Weile endlich riskierte sie einen Blick und sah, daß sie sich bereits hoch in der Luft befanden. Sie konnte unter sich die dunklen Baumwipfel erkennen.

Der Drache flog in einer weiten Spirale rings um den Berg, wobei er sich langsam, aber beharrlich in die Höhe schraubte. Dabei keuchte und schnaufte er, daß Tamina manchmal Angst und Bange wurde. Hoffentlich hielt er durch, sonst sähe es für beide böse aus, denn der Berg war so steil und abweisend, daß es nirgends einen Landeplatz für eine Zwischenrast gab.

Beim Anblick der weit unter ihnen liegenden Landschaft wurde es Tamina ganz flau im Magen. Der Drache redete über die schöne Landschaft und die weite Sicht auf das unter ihnen liegende Land, aber Tamina hatte im Augenblick keinen Sinn für die Schönheiten der Landschaft. Sie zog es vor, möglichst wenig zu reden. Statt dessen hoffte sie, daß diese schreckliche Luftreise bald zu Ende wäre.

»Wie sind bald da. Schau!« rief er ihr gegen das Brausen des Windes zu.

Er hatte recht; jetzt konnte Tamina bereits die Spitze des Berges erkennen, die sich dunkel gegen den tiefblauen Himmel abzeichnete.

Nach einigen weiteren Minuten endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. In einer engen Schlaufe flog der Drache um die abgeplattete Bergspitze.

»Wir haben Glück!« rief er. »Er ist nicht da. Wir müssen uns beeilen.«

Tamina sah genauer hin und erkannte erst jetzt ein gewaltiges, struppiges, dunkles Gebilde.

»Was ist das?«

»Das ist sein Nest.«

Tamina schluckte leer. Wenn das ein Nest war, dann mußte sein Besitzer mindestens so groß sein, wie ein Drache.

»Kannst du dort landen?« fragte sie.

»Ich will es versuchen.«

Der Drache verlangsamte das Tempo und mußte heftig mit den Flügeln schlagen. Er konnte nicht in der Luft stehen bleiben, wie ein Hubschrauber, und so mußte er genau zielen, um den Gipfel nicht zu verfehlen. Stolpernd kamen sie zum Stehen. Tamina sprang herab.

»Bitte mach schnell! Mit einem Greif ist nicht zu spaßen«, mahnte er und schaute sich ängstlich nach allen Seiten um.

Tamina lief über das von kopfgroßen Felsbrocken übersäte Hochplateau, welches ungefähr dreißig Meter im Quadrat maß. Das Greifennest hatte die Form und Beschaffenheit eines Storchennestes, nur war es etwa zehn Mal so groß. Es bestand außen aus Ästen und größeren Zweigen, welche ihm Stabilität verliehen und aus feinerem Reisig und Schilfrohr im Inneren.

Die erste Schwierigkeit bestand für Tamina darin, überhaupt hinein zu gelangen, denn der Nestrand war gute zweieinhalb Meter hoch. Die Äste boten wenig Halt beim Hochklettern, und so hatte sie alle Hände voll zu tun, um nicht abzustürzen.

Nach mehreren Fehlschlägen stand sie endlich ziemlich verschrammt aber glücklich auf dem Rand des Nestes.

Der Anblick, der sich ihr von da oben bot, war unglaublich. Vor ihr lagen Berge von den ungewöhnlichsten Gegenständen. Gold, Silber, Kupfer, glänzende Steine und Minerale, riesige Perlen und andere wertvolle Dinge lagen mehr oder weniger nach Farbe und Glanz geordnet auf Haufen. Aber auch andere, weniger wertvolle — zumindest nach menschlichen Maßstäben bemessen — Dinge, welche sich dafür durch ihren Glanz oder ihre auffällige Farbe auszeichneten, waren vorhanden. So gab es Glaskugeln, polierte Töpfe und Schüsseln, blanke Soldatenhelme und einen roten Wetterhahn und andere Dinge mehr. Sie alle lagen dort und stellten den Greifenhort dar.

Tamina war sprachlos. Etwas ähnliches hatte sie noch nie gesehen. Gleichzeitig aber machte sich eine tiefe Bestürzung breit, angesichts der Unmenge von Gegenständen, welche der Vogel in den vergangenen Jahrhunderten gesammelt hatte. Wie sollte sie in dem Durcheinander den Blauen Kristall finden? Es könnte Stunden, wenn nicht Tage dauern. Sie stieg hinab und watete durch die angehäuften Schätze. Leider konnte sie nicht viel sehen, denn es wurde schon wieder dunkel. Wenn sie nur nicht so lange geschlafen hätte, dann bliebe ihr jetzt mehr Zeit zum Suchen.

Ein ohrenbetäubendes Kreischen ließ sie erschrocken zusammenfahren.

»Hülfe! Jetzt ist es aus!« hörte sie den Drachen schreien, dann erschien ein riesiger schwarzer Schatten über ihrem Kopf. Messerscharfe Krallen griffen nach ihr, zerfetzten ihr Kleid und warfen sei zu Boden.

Der Eigentümer war nach Hause gekommen. Unter schrillem Kreischen landete der Greif mitten in seinem Nest. Sofort ging er auf Tamina los. Verzweifelt versuchte sie den Hieben des riesigen gekrümmten Schnabels auszuweichen. Sie wollte weglaufen, sich verstecken, aber sie strauchelte und fiel rücklings zu Boden.

»Nein! Bitte nicht!« Tu mir nichts!« flehte sie und hob schützend die Arme vor das Gesicht. Das war bestimmt ihr Ende, dachte sie. Mit einem einzigen Schnabelhieb würde der Monster-Vogel sie zerfleischen.

Aber der tödliche Hieb blieb aus. Statt dessen stimmte der Greif andere Töne an und zog sich etwas zurück. Tamina richtete sich auf und sah, was der Grund für ihre Verschonung war: Peters goldenes Amulett war aus ihrer zerrissenen Bluse hervor gerutscht und hatte die Aufmerksamkeit des Vogels erregt.

Erst jetzt konnte sie ihren Angreifer näher in Augenschein nehmen. Zu ihrer nicht geringen Überraschung stellte sie fest, daß der Greif kein richtiger Vogel war, sondern nur Kopf und Hals und die mächtigen gefiederten Schwingen eines Adlers besaß, der Rest aber glich dem Leib eines großen, dunkelbraunen Löwen.

»Bitte höre mich an, o mächtiger Greif!« sagte sie mit leiser, etwas brüchiger Stimme. »Ich bin gekommen, um im Namen des Königs von Arkanien den Blauen Kristall zurück zu fordern. Du hast ihn dem Drachen in der Höhle unten gestohlen.«

Der Greif drehte unwillig den Kopf nach allen Seiten. Aber er reagierte nicht. Was ihre Schätze anbelangt, sind Greifen noch empfindlicher als Drachen. Was sie einmal in ihren Klauen haben, das geben sie freiwillig nicht wieder her.

»Ich biete dir einen Tausch an«, sagte Tamina. »Wie ich sehe, sammelst du seltene und schöne Dinge. Wenn du mir den Blauen Kristall gibst, dann schenke ich dir diese blaue Mondsteinblume.«

Sie zog die schimmernde Mondblume hervor, die wie durch ein Wunder nicht beschädigt worden war und hielt sie dem Greifen entgegen.

Der Greif kam einige Schritte näher und beäugte die versteinerte Blume mit gierigem Glanz in den schwarzen Augen. Er gab einen schrillen Laut von sich und schnappte sich die Blume, die er mit ungeahnter Geschicklichkeit und Behutsamkeit im Schnabel forttrug, um sie an einem bestimmten Platz im Nest zu verstauen. Zielbewußt begab er sich sodann in die Mitte des Nestes, wo er in einem Haufen verschiedener Steine und Mineralien stöberte.

Mit einem winzigen Gegenstand in seinem großen Schnabel kehrte er zu Tamina zurück und ließ etwas rundes in ihren Schoß fallen.

Tamina griff sofort darnach und in dem selben Augenblick, da sich ihre Finger um den Kristall schlossen, wußte sie daß die endlich am Ziel ihrer Suche angelangt war.

Sie dankte dem Greifen und machte sich schleunigst von dannen; das heißt, sie kletterte aus dem Nest. Um vom Berggipfel fortzukommen, bedurfte sie der Hilfe des feige geflohenen Drachens.

»Drache, du Feigling! Wo bist du?« rief sie in den schwarzen Nachthimmel.

»Ich bin hier! Du lebst noch? das ist erstaunlich!« ließ sich die Stimme des Drachens aus einiger Entfernung vernehmen.

»Hol mich gefälligst hier ab!« rief Tamina, die es dem Angsthasen sehr übel nahm, daß er sie einfach im Stich gelassen hatte. Früher hatte sie immer geglaubt, Drachen seine grausame, furchteinflößende Geschöpfe, aber dieses Exemplar konnte nicht einmal eine Maus erschrecken — ganz im Gegenteil.

Tamina mußte alle ihre Überredungskünste aufbieten, um den furchtsamen Drachen zur Landung in der Nähe des Greifennestes zu bewegen.

Als sie endlich wieder auf seinem Rücken saß, und die beiden durch die Nacht flogen, konnte Tamina sich den Blauen Kristall im Mondschein betrachten.

Der Kristall sah wie ein gewöhnlicher geschliffener Edelstein aus. Er war durchsichtig und von tiefblauer Färbung. Er war lupenrein — was Tamina bei dem schlechten Licht natürlich nicht feststellen konnte — und härter als Diamant. Äußerlich war ihm seine Zauberkraft nicht anzusehen, aber wer ihn berührte, spürte sofort, die gebändigte Kraft, die in ihm ruhte, gleichwohl es nicht zu beschreiben war. Es lag wohl daran, daß man die Macht des Kristalls nicht körperlich sondern rein geistig spürte.

»Wohin fliegst du?« fragte sie den Drachen.

»Wohin du willst, und danach will ich in meine Heimat zurückkehren, wo die anderen leben.«

»Wie sieht das Land aus, das hinter dem Riesengebirge liegt?« wollte Tamina wissen.

»Es ist wunderschön. Es gibt feuerspeiende Berge und Krater voller Schwefel und Salpeter und Springquellen von kochendem Wasser,« sagte er und seine roten Augen wurden feucht.

Das klang allerdings nicht besonders vielversprechend, aber für einen Drachen mochte es wirklich schön sein. Daher sagte Tamina nicht, was sie davon hielt, sondern wünschte ihm, daß er seine Freunde und Verwandten bald wiedersehen möge.

»Ich muß so schnell wie möglich zu Peter«, sagte sie. »Kannst du mich in die Hauptstadt zum Herrscherpalast fliegen?«

»Wenn du mir den Weg zeigst. Das liegt doch irgendwo im Westen am Meer, nicht wahr?«

»Nicht ganz. Aber der Kristall kann uns vielleicht führen«, meinte sie und hielt den Kristall fest in der Hand.

»Führe mich zu Peter!« befahl sie leise.

Sogleich legte der Drache an Tempo zu, als würde er von einer unsichtbaren Hand vorwärts geschoben.

Tamina fing an stark zu frieren, so schnell sausten sie durch die Luft. Auch dem Drachen wurde es unheimlich. Was geschah da mit ihnen, fragte sich Tamina, als sie unter sich die Lichter der Hauptstadt vorüberziehen sah. Warum flogen sie an der Stadt vorbei? Aber der Kristall zog sie unentwegt weiter nach Westen. Die Geschwindigkeit erhöhte sich noch mehr, und Tamina fürchtete ernstlich, sie könnte herunterfallen, so sehr zerrte der Wind an ihren Kleidern und ihrem Haar. Sie mußte sogar die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen, um bei dem scharfen, kalten Wind etwas sehen zu können. Wenn sie noch schneller flögen, dann könnte sie sich bald nicht mehr festhalten.

Der Drache seinerseits flog schon seit geraumer Zeit mit fest geschlossenen Augen, und das rührte nicht vom Wind her.

Diese atemberaubende Luftreise dauerte über drei Stunden lang, als endlich das Tempo nachließ. Ein ungewöhnlicher Geruch lag in der Luft, den Tamina noch nie wahrgenommen hatte.

»Wo sind wir?« fragte sie den Drachen. Dieser machte vorsichtig die Augen wieder auf und sagte dann verblüfft: »Wir sind am Meer. Schau, dort unten ist der Strand.«

Das konnte unmöglich stimmen. Waren sie wirklich so ungeheuer geschwind geflogen? Aber der Drache hatte recht. Tamina konnte das helle breite Band des Sandstrandes und die weißschäumend brechenden Wellen sehen.

»Dort ist ein Schloß!« rief sie. »Es wird belagert. Siehst du die vielen Feuer und die Zelte? Vielleicht halten sie Peter jetzt dort gefangen. Kannst du auf dem Turm dort landen?«

»Ich will es versuchen«, brummte der Drache.

Ohne von irgend jemandem entdeckt zu werden, kreiste der Drache einige Male um die von Zinnen bewehrte Turmspitze der alten Burg herum und landete zuletzt mit einem dumpfen Plumps! der den alten Turm bis in seine Grundfesten erbeben ließ.

»Lebe wohl, lieber Drache!« sagte Tamina zum Abschied. »Du hast mir mit dem Kristall einen wertvollen Dienst erwiesen. Ich will hoffen, daß ich nicht zu spät komme, um Peter zu befreien.«

»Du wirst das bestimmt schaffen, Tamina«, erwiderte der Drache mit einem Augenzwinkern. »Denke immer daran: wer auf einem Drachen geritten ist, ein Einhorn berührt hat und im Nest des Greifen gesessen hat, der kann alles schaffen, was er sich vornimmt und braucht sie vor nichts mehr zu fürchten.«

Tamina umhalste den Drachen und drückte ihn noch einmal zum Abschied.

»Wenn du mal in das Land hinter dem großen Gebirge kommst, dann besuche mich!« rief er ihr hinterher, als er sich mit knatternden Flügelschlägen vom Turm erhob und wie eine gigantische Fledermaus im sternenübersäten Nachthimmel verschwand.

Wie sollte sie jemals über das Riesengebirge kommen, dachte Tamina. Aber das sollte sie eines Tagen wirklich schaffen und auch den Drachen sollte sie irgendwann wieder sehen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Tamina wartete, bis der Drache verschwunden war und das Geräusch seiner Schwingen verstummte. Sie winkte ihm nach und wünschte ihm alles Gute.

 

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