Les Princes des Sept Cieux

 

Zweites Kapitel

Eine seltsame Begegnung

  Benjamin Schröder saß beim Frühstück und rührte gerade ziemlich mißmutig in seinem Birchermüsli herum, als sein Vater, der neben ihm am Küchentisch saß und wie jeden Morgen die Tageszeitung überflog, ein vernehmliches Grunzen ausstieß.

„Nun schau sich einer das an!“ sagte er und blickte über den Rand seiner Zeitung hinweg. „Schon wieder ein Überfall auf ein Juweliergeschäft in der Stadt. Diesmal haben die Kerle einen Laden außerhalb des Zentrums überfallen. Das muß eine Bande von Verrückten sein. Wie beim ersten Überfall letzte Woche haben sie nichts gestohlen, sondern alle Schaukästen aufgebrochen und den Panzerschrank geknackt. Es scheint so, als hätten sie es auf ein ganz bestimmtes Schmuckstück abgesehen, ohne zu wissen, was sie überhaupt suchen.“

„Das ist wirklich sehr seltsam“, meinte Benny geistesabwesend und befühlte vorsichtig mit der Zungenspitze das noch immer ziemlich schmerzempfindliche Zahnloch in seinem Oberkiefer. Vielleicht waren Haferflocken doch nicht das richtige, dachte er und verzog das Gesicht.

„Das allerseltsamste aber ist, daß niemand weiß, wer die Räuber sind, oder wie viele. Keiner der Verkäufer kann sich an etwas erinnern. Wahrscheinlich wurden sie betäubt. Aber dann müßten sie wenigstens wissen wer sie betäubt hat.“

„Vielleicht haben die Kerle ein Gas in das Geschäft geleitet“, mutmaßte Benny.

„Das hätten die Spezialisten von der Polizei bestimmt festgestellt“, entgegnete der Vater. „Aber sag mal, mußt du nicht langsam in die Schule? Oder tut dein Kiefer immer noch weh? Ich kann dir eine Entschuldigung schreiben.“

„Danke, Papa! Aber das ist nicht nötig. Ich kann doch nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen bleiben. Die Schule wird mich wenigstens etwas ablenken.“

Er stand auf, wischte sich den Milchschnauz ab und griff nach der Schultasche, die neben dem Tisch bereit stand.

„Tschüß, Papa!“ rief er und lief hinaus.

In der Schule waren die geheimnisvollen Raubüberfälle das Tagesgespräch. Ein jeder äußerte seine Vermutungen und abenteuerlichen Theorien.

„Vielleicht sind da Außerirdische am Werk. Ich habe einmal einen Film gesehen, wo die Außerirdischen ein ganz bestimmtes Mineral benötigt haben, um den Antrieb ihres Raumschiffes zu reparieren“, sagte Martin Delacroix. Er saß hinter Julien und war ein glühender Anhänger der UFO-Theorien. Er kannte fast alle Bücher und Filme über dieses Thema und war abgesehen von seiner Marotte ein ganz patenter Bursche.

„Ach! Geh fort! So ein Unsinn! Du hast zu viel ferngesehen“, spottete Benny und lachte, bis ihm der Kiefer weh tat. „Es gibt keine Außerirdischen. Jedenfalls keine, die uns hier auf der Erde besuchen. Das ist physikalisch gar nicht möglich. Außerdem wären die mit ihrer überlegenen Technik nicht darauf angewiesen, irgendwelche Diamanten aus einem Juweliergeschäft zu klauen. Die könnten sie nämlich selber synthetisch herstellen.“

„Vielleicht ist das ganze auch von einem genialen Super-Verbrecher geplant worden“, meinte ein anderer.

„Du meinst wohl, wie in dem James-Bond-Film, wo die Bösewichte einen Satelliten mit einer riesigen Laserkanone ausrüsten. Ihr spinnt doch alle!“ rief Julien ohne den Blick von seinem Matheheft zu heben, wo er gerade die letzten zwei Rechnungen der Hausaufgabe abschrieb.

„An deiner Stelle würde ich die Aufgaben lieber selber rechnen“, sagte Natalie, ein rothaariges Mädchen, das neben Martin saß, spitz. „Wenn du in der nächsten Prüfung wieder eine Fünf kriegst, dann könnte es leicht passieren, daß du die Klasse wiederholen mußt.“

„Das fehlte mir gerade noch. Dann käme ich ja zu deiner blöden Schwester in die Klasse“, erwiderte Julien giftig.

Der sich gerade anbahnende Streit wurde durch die Glocke und das gleichzeitige Eintreten der Französischlehrerin, Frau Bollinger, im Keime erstickt.

„Muß die alte Schachtel immer so pünktlich sein!“ zischte Julien leise. Benny stieß in mit dem Ellenbogen an und bedeutete ihm, zu schweigen. Das war auch gut so, denn Frau Bollinger besaß ein überdurchschnittlich gutes Gehör; besonders für Dinge, die sie besser nicht hören sollte. Dafür war sie aber ziemlich kurzsichtig, was auch wieder seine Vorteile hatte — besonders in den Prüfungen.

„Allons-y! Ouvrez vos livres. Nous sommes à la page 129.“

„Äh, Benny! Könnte ich vielleicht…“

„Hast du dein Buch schon wieder vergessen? Das nimmt noch mal ein schlimmes Ende mir dir, Jules.“

„Ja, ja, ich weiß!“ brummte Julien.

„Silence! S’il vous plaît, Julien! Je voudrais bien, que tu nous traduises le second paragraphe.“

„Äh! Oui, Madame! Avec Plaisir.“

Benny warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr und stellte fest, daß er es noch über vier Stunden hier drinnen aushalten mußte.

 

In der großen Pause saßen Julien, Benny und Martin zusammen auf der kleinen Bank neben dem Tor zum Schulhof. Während Julien genüßlich sein Pausenbrot verzehrte und Benny ihm neidisch dabei zuschaute — er hatte nur eine Apfelsine dabei, deren Saft scheußlich in der noch nicht verheilten Wunde im Zahnfleisch brannte — war Martin im Begriffe, voller Eifer seine neueste Theorie betreffend die mysteriösen Raubüberfälle darzulegen.

„Ich bin davon überzeugt, daß es nicht bei den beiden Überfällen bleiben wird. Das ist erst der Anfang einer ganzen Serie.“

„Ich weiß nicht. So unfähig ist die Polizei nun auch wieder nicht. Früher oder später werden sie die Kerle schon schnappen“, meinte Benny.

„Bestimmt haben sie den nächsten Überfall bereits geplant. Wahrscheinlich gehen sie nach einem ganz ausgeklügelten Plan vor. Wenn man den entschlüsseln könnte, dann wüßte man im Voraus, wann und wo sie das nächste Mal wieder zuschlagen werden.“

„Solange sie nichts stehlen und niemanden verletzen, ist es mir eigentlich egal, was die Spinner treiben“, sagte Julien kauend.

„Hat eigentlich einer von euch Lust, heute Abend den neuen Star-Trek-Film anzuschauen?“ fragte Martin.

„Warum eigentlich nicht? Ich war schon lange nicht mehr im Kino. kommst du auch, Benny?“

„Ich weiß nicht. Am Donnerstag ist doch die Geschichtsprüfung. Ich muß noch lernen und in Latein könnte es wieder eine Vokabelprobe geben“, wandte Benny zaudern ein.

„Jetzt sei kein Frosch! Du kannst doch das Geschichtsbuch bald auswendig. Und die paar Vokabeln, kannst du dir in einer Viertelstunde merken.“

„Du weißt ganz genau, daß man Vokabeln gründlich repetieren muß, damit sie ins Langzeitgedächtnis übergehen. Und… Ja, ja. Also ich komme auch mit. Wann fängt die Vorstellung an?“ Beeilte Benny sich zu sagten, als er Juliens grimmigen Gesichtsausdruck wahrnahm. Im Grunde war er eigentlich froh, daß Julien ihn ab und zu aus seiner Trägheit herausriß, sonst käme er wahrscheinlich kaum unter die Leute.

„Ich besorge uns die Karten. Wir treffen uns um viertel nach sieben beim Glockenturm“, sagte Martin erfreut. „Dann bis heut’ Abend!“

„Benny, Könntest du heute Abend kurz bei mir vorbeischauen? Ich komme mit dem neuen Spiel nicht klar. Ich glaube, das liegt am Speicher.“ Benny seufzte leise..

„Ja gut. Ich komme um sechs.“

„Dann kannst du auch gleich bei uns essen.“

 

Benny saß in Juliens Zimmer vor dem Computer. Er trug seine Brille und starrte auf den Bildschirm, während Julien in seinem Schrank wühlte und nach etwas passendem zum Anziehen suchte.

„Soll ich den dicken Pullover und die dünne Jacke anziehen? Oder lieber den ärmellosen Pullover und die dicke Jacke?“ fragte er. Benny grunzte etwas unverständliches. Nach einer Weile endlich hatte er den Fehler gefunden. Er schaltete den Computer aus, stand auf und streckte sich.

„Meine Güte, Jules! Du bist ja schlimmer als ein Mädchen! Zieh einfach irgend etwas an, und komm endlich. Sonst kommen wir noch zu spät.“

„Ja, ja. Martin wird bestimmt auf uns warten.“

„Ich komme nicht gern zu spät“, sagte Benny und schob Julien mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer.

„Julien! Du bist spätestens um halb zwölf wieder zu Hause!“

„Ja, Mama! Wiedersehen!“

„Du hast es gut“, sagte Benny draußen zu seinem Freund. „Ich muß um elf schon wieder zu Hause sein. Da versteht mein Vater keinen Spaß.“

Als die beiden sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle machten, war es schon beinahe finster. Die Lichter der Straßenlaternen leuchteten kalt und grell. Es war kühl und feucht und Julien fragte sich, wie es kam, daß zu dieser Jahreszeit die Nacht irgendwie viel unheimlicher und abweisender war, als zur Sommerszeit.

„Um diese Zeit bin ich gar nicht gern unterwegs“, sagte er zu Benny.

„Fürchtest du dich etwa im Dunkeln?“

„Unsinn! Im Sommer könnte ich die ganze Nacht lang durch die Stadt spazieren; aber jetzt sieht alles irgendwie anders aus. Man könnte fast denken, böse Geister gingen um.“

„Geister?“ Benny schüttelte den Kopf. Julien besaß einfach zu viel Einbildungskraft. „Die einzigen Geister, die um diese Zeit herumspuken, sind die in deinem Kopf.“

Sie erreichten die Haltestelle gerade rechtzeitig, als der kurze blau-weiße Straßenbahnzug einfuhr. Die Fahrt dauerte nicht lange. Nach gut zehn Minuten, hielt die Straßenbahn, vor dem Glockenturm, einem alten Stadttor aus dem Mittelalter, welches seinen Namen einer riesigen astronomischen Uhr verdankte, die außer den Stunden und Minuten auch das Datum und die Mondphasen anzeigte. Außerdem gab es eine kleine Galerie mit beweglichen Figuren und ein Glockenspiel, welches zu jeder vollen Stunde in Tätigkeit gesetzt wurde.

Martin stand an der Haltestelle und trat fröstelnd von einem Bein auf das andere. Gemeinsam setzten die drei ihren Weg ins Vergnügungsviertel der Stadt fort. Vor dem Hollywood-Filmpalast wartete bereits eine beachtliche Menschenmenge auf Einlaß.

„Seht ihr? Ich hatte doch recht, die Karten reservieren zu lassen“, meinte Martin und zog drei Karten aus der Tasche.

„Der Film scheint ja recht populär zu sein. Wovon handelt er?“ fragte Benny arglos. Die anderen starrten ihn entgeistert an. „Sag mal! Lebst du eigentlich hinter dem Mond?“ fragte Julien und schüttelte den Kopf.

„Naja. Ich gehe nicht so oft ins Kino. Aber wenn man in Betracht zieht, daß Martin den Film ausgewählt hat, gehe ich wohl nicht fehl in der Annahme, daß es sich um einen Science-fiction-Film handelt, nicht wahr?“

Sie betraten das prächtige Foyer. Während Julien am Erfrischungsstand anstand, ging Martin voraus, die Plätze zu besetzen.

„Benny! Komm endlich! Was suchst du denn da draußen?“ rief er ungeduldig.

„Gibt es hier keine Garderobe?“

„Wir sind hier nicht in der Oper. Dort drüben kann man seine Mäntel aufhängen. Aber davon rate ich dir ab.“

Das Filmtheater war bist auf den letzten Platz ausverkauft. Mühsam bahnten sie sich den Weg zu ihren Plätzen. Kurz darauf stieß Julien mit einer riesigen Tüte Popcorn hinzu. Der Abend versprach vergnüglich zu werden.

Der Film gefiel allen. Am meisten natürlich Martin; aber auch Benny zeigte sich erfreut.

„Was machen wir jetzt? Zum Nachhausegehen ist es noch viel zu früh“, sagte Benny.

„Von wegen. Morgen ist Schule. Außerdem ist es schon nach zehn Uhr“, sagte Martin.

„Wir könnten noch ins Urania-Café gehen und etwas trinken“, schlug Julien vor. Der Vorschlag wurde angenommen, und so flanierten sie über den hellerleuchteten Boulevard, vorbei an bunt glitzernden Fassaden von Kinos und Vergnügungslokalen, Neonreklamen und Schaufenstern.

Das Urania-Café war zu dieser Stunde ziemlich voll, aber es gelang ihnen noch einen kleinen Tisch zu ergattern. Das Café war modern eingerichtet und zog hauptsächlich jüngere Gäste an; nicht zuletzt auch wegen der durchaus erschwinglichen Preise. Benny schaute sich um. Er war noch nie hier gewesen und es gefiel ihm ganz gut.

„Mir scheint, unserem Bücherwurm gefällt es hier“, meinte Martin lachend.

„Fragt sich ob das an der geschmackvollen Inneneinrichtung liegt, oder daran, daß hier so viele hübsche Mädchen verkehren“, sagte Julien lachend.

„Julien hat recht. Hier könnte man auf seinen Geschmack kommen. Du solltest dir auch langsam eine Freundin zulegen, Benny.“ Der angesprochene errötete ganz leicht uns sagte: „Unsinn. Dafür habe ich gar keine Zeit. Schon gar nicht, jetzt, wo so viele wichtige Prüfungen anstehen.“

Sie verbrachten eine gute halbe Stunde in dem Café, bis Martin auf die Uhr schaute und erschrocken feststellte, daß er dringend nach Hause müsse. Julien und Benny verabschiedeten sich von ihm und verließen nach einer weile ebenfalls das Café.

„Eigentlich habe ich noch gar keine Lust, nach Hause zu gehen“, sagte Julien. „Wir könnten ja noch ein paar Schritte gehen. Außerdem sparst du das Geld für die Straßenbahn.“

„Ich habe eine Monatskarte, genau wie du“, erwiderte Benny. „Aber von mir auch. Nach der rauchigen Atmosphäre im Café habe ich auch Bedarf nach frischer Luft.“

Sie schlenderten durch die kühle Nacht und lenkten ihre Schritte dabei unwillkürlich und dunklere, unbelebte Straßen. Normalerweise ging Benny nachts nicht aus, aber langsam fand er gefallen an dem nächtlichen Spaziergang. Alles war so still und dunkel. Man konnte wunderbar nachdenken, oder auch einfach nur die Straßen entlang gehen. Auf einmal blieb Benny stehen und sah sich um.

„Was ist?“

„Ich weiß nicht. Ich habe auf einmal ein merkwürdiges Gefühl. Laß uns von hier weggehen!“

„Du spinnst doch. Hier ist keine Menschenseele und außerd…“

Ein heller Lichtblitz gefolgt von dem Geräusch splitternden Glases unterbrach ihn. Das Licht kam aus einer schmalen Gasse. Neugierige liefen Julien und Benny hin, um zu sehen was geschehen war.

Julien konnte schneller laufen und war als erster dort. Abrupt blieb er stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.

„Jules! Was ist los?“ fragte Benny.

„Ich — ich weiß nicht. Das war etwas.“

„Wo?“

„Jetzt ist es weg. Es — es sah aus wie… — ich kann es nicht beschreiben.“

„Komm fort von hier. Das waren bestimmt Einbrecher“, sagte Benny und zog Julien am Ärmel.

„Halt! Wer seid ihr? Und was habt ihr hier zu suchen?“ rief eine Stimme hinter ihnen. Die Stimme gehörte einem Mädchen. Es war ungewöhnlich groß gewachsen. Breitbeinig stand es da, wie ein Racheengel. Sein kurzgeschnittenes hellblondes Haar schimmerte beinahe weiß im Lichte der Straßenlaterne.

Benny wollte sich aus dem Staub machen, aber das Mädchen versperrte ihnen den Weg. Julien wollte sich an ihr vorbeidrängeln. Aber kaum war er auf ihrer Höhe, da fühlte er sich am Arm gepackt und einen Augenblick später lag er bäuchlings am Boden. Das Mädchen kniete auf ihm und drehte seinen rechten Arm auf den Rücken, daß es scheußlich weh tat und er vor Schmerz aufschrie.

„Aua! Laß mich los! Ich habe nichts getan!“ keuchte er.

„Ihr seid in das Geschäft eingebrochen“, sagte das Mädchen.

„Nein, das ist nicht wahr. Wir kamen hier zufällig vorbei, hörten den Lärm und gingen nachschauen“, sagte Benny.

„Ist das wahr?“ Julien nickte. Das Mädchen stand auf und ließ Julien aus. Im grellen Schein der Straßenlaterne konnte Julien erkennen, daß das Mädchen mindestens ebenso groß war, wie er selber. Es mochte ungefähr in seinem Alter sein.

„Wenn das so ist, dann habt ihr bestimmt nichts dagegen, mir den Inhalt eurer Taschen zu zeigen.“

„Wie kämen wir dazu? Bist du etwa bei der Polizei?“ fragte Benny entrüstet.

„Nein, aber die wird sicher gleich hier sein. Der kleine Laden dort drüben gehört meinem Großvater. Und ich lasse es nicht zu, daß irgendwelche Strolche bei ihm einbrechen.“

„Wir haben damit nichts zu tun, ehrlich!“ sagte Julien und zur Bekräftigung seiner Worte drehte er die Taschen seiner Jacke und Hose um. Er stieß Benny an und bedeutete ihm, es gleich zu tun.

„Also gut. Ihr wart es nicht. Dann macht euch jetzt davon!“ befahl das Mädchen. Julien drehte sich um und ging eilig fort, gefolgt von Benny, der sich nur widerwillig mitziehen ließ.

„Was soll das? Die hatte kein Recht, uns so zu behandeln“, protestierte er.

„Denk doch mal nach! Hast du vielleicht Lust, von der Polizei nach Hause gefahren zu werden?“ Da hatte Julien recht. Benny stellte sich die Gesichter seiner Eltern vor, wenn er in Begleitung zweier Polizisten nach Hause käme. Da könnte er gleich mit einem ganzen Monat Stubenarrest rechnen. Bestimmt hieße es dann, das alles läge an dem schlechten Einfluß von Julien.

„Zum Glück ist alles noch einmal gut ausgegangen. Es hätte auch schlimmer kommen können“, sagte er.

„Wieso?“

„Wir hätten den Einbrechern in die Arme laufen können. Vielleicht hätten sie uns über den Haufen geschossen oder niedergestochen oder…“

„Danke, das reicht!“ Julien schüttelte sich bei dem Gedanken. „Sehen wir zu, daß wir heimkommen!“

Julien hatte Glück. Als er zu Hause ankam, war es bereits still und dunkel im Haus. Seine Eltern schliefen wahrscheinlich schon. Das war auch gut so, denn es war bereits viertel vor zwölf.

Später, als Julien im Bett lag, mußte er immer wieder daran denken, was für einen winzigen Augenblick in jener schmalen, finsteren Gasse gesehen hatte, oder vielmehr gesehen zu haben glaubte.

„Ach! So ein Unsinn!“ sagte er leise zu sich selber. Wahrscheinlich hatten ihm seine Nerven einen Streich gespielt. Und dennoch ließ er in dieser Nacht die kleine Lampe auf der Wäschekommode brennen.

 

Irgendwie wirkte Benny am nächsten Morgen abwesend und nachdenklich, fand Julien. Für ihn, der sonst stets ein Vorbild an Aufmerksamkeit und Fleiß war, war dies in der Tat etwas höchst ungewöhnliches, so daß Julien ihn in der Pause auf die Seite nahm.

„Was ist denn heute mir dir los, Benny? Du bist ganz anders.“

„Es ist nichts“, erwiderte er und schaute auf den Boden.

„Jetzt red’ schon.“ Benny zuckte mit den Schultern. Er hob den Blick und sah Julien geradeheraus an.

„Ich muß dauernd an gestern Nacht denken“, sagte er endlich leise.

„Das mit dem Überfall? Ich gebe zu, das ganze war ziemlich unheimlich. Aber es ist ja niemandem etwas geschehen und…“

„Ich meine das Mädchen.“ Julien riß die Augen weit auf und starrte seinen Freund an, als ob er einen Schlag ins Gesicht bekommen hätte.

„Was schaust du so dumm?“ fragte Benny verdrießlich und konnte nicht verhindern, daß ein roter Schimmer über seine Wangen flog.

„Also, wenn du mich fragst, die ist nichts für dich. Außerdem ist sie viel zu groß — und zu brutal“, fügte er hinzu.

„Ich frage dich aber nicht!“ meinte Benny und wandte sich abrupt ab und lief ins Schulhaus hinein. Julien starrte ihm mit offenem Mund hinterher. So hatte er Benny noch nie erlebt. Den armen Kerl mußte es ganz schön erwischt haben, dachte er.

Während der restlichen Unterrichtsstunden sprachen die beiden nicht viel miteinander. Benny zog es vor, in sich gekehrt dazusitzen und aus dem Fenster zu starren, während Julien sich für einmal intensiv dem Unterricht widmete, was zur Folge hatte, daß ihn Frau Bollinger am Ende der Stunde fragte, ob er sich nicht wohl fühle.

„Ah, non, Madame! Moi je me sens très bien!“ antwortete er, einen flüchtigen Seitenblick auf Benny werfend.

Auf dem Nachhauseweg, den die beiden normalerweise gemeinsam über alles mögliche schwatzend zurücklegten, war Benny so schweigsam, daß es Julien fast schon mulmig wurde. So brachte er, weil ihm gar nichts anderes mehr einfiel, über das er hätte sprechen können, die rede auf das kleine Notizbuch, welches er am Vortag gefunden hatte.

„Wie sagtest du sah das Mädchen aus?“ fragte Benny.

„Sie war etwa einen Meter sechzig groß, zierlich, mit, langem glänzendem, schwarzen Haar, braunen Augen, helle Haut, ein asiatischer Typ, aber nicht reinrassig; alles in allem, ziemlich niedlich.“ Jetzt war es an Benny, Julien mit einem langen Blick zu mustern. Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er:

Ich glaube, ich kenne sie. Bei uns in der Nachbarschaft ist kürzlich eine Familie aus dem Ausland zugezogen. Sie wohnen in dem alten Allenberg-Haus. Du weißt schon, diese alte Bruchbude am Ende der Strößner-Allee. Die müssen eine Menge Kohle haben, denn sie haben das Haus von Grund auf renovieren lassen. Es sieht jetzt ganz schön edel aus. Ich kenne die Leute nur vom Sehen. Die Mutter ist Chinesin oder Japanerin, oder so etwas. Ihr Vater arbeitet glaub’ ich in der gleichen Firma, wie mein Vater. Wenn du willst kann ich das Buch ja mal vorbei bringen. Das ist für mich ja nur ein Katzensprung.

„Äh, nein, danke! Aber das mache ich lieber selber. Ich werde dort selber mal vorbeischauen, wenn ich zufällig wieder in der Gegend bin.“

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