Das Geheimnis des Mondsees

Fortsetzungsroman aus dem »BSRFPBPNE«-Magazin (Ausgaben Nº 1 bis Nº 7)

von

G.Owen

 

Es war gegen ein Viertel nach acht, als plötzlich mit ungeheurer Wucht die schwere Eingangstür zu den gar so alten und ehrwürdigen heiligen Hallen des ...Kollegs aufgestoßen wurde. Mit einem dumpfen Krachen prallte sie gegen den Heizkörper, der noch aus einer Zeit stammte, da die Kohle billig und das Verständnis vom Energiesparen in den Kinderschuhen steckte. Für einen kurzen Augenblick drang das laute und geschäftige Geräusch der Straße herein in die Stille der langen und hohen Gänge mit den grauen Wandleisten und den kugeligen Leuchtkörpern. Es roch nach Bohnerwachs und nassen Regenmänteln. Wie von fern vernahm man das gedämpfte Gemurmel von Stimmen und das Scharren von Stühlen auf dem abgewetzten Linoleum, das gespenstisch in den verlassenen grauen Gängen widerhallte.

George hatte indes keine Zeit für derlei Betrachtungen. Völlig durchnäßt, einem begossenen Pudel nicht unähnlich, stolperte er die breite steinerne Treppe hinauf. Sich das nasse Haar aus der Stirn wischend öffnete er sachte die Tür zum Saal IV, wohin der alte Prof. Hoskins seine Vorlesungen verlegt hatte, nachdem es im alten Hörsaal durch die Decke zu tropfen begonnen hatte.

»Ah! Siehe da! Lassen Sie sich auch mal wieder bei uns sehen! Was haben wir denn diesmal wieder füe eine Ausrede? Hem!?«

»Ich... äh,,, es hat geregnet... und ...«-

»Lassen wir das! Ich habe keine Zeit, mir Ihre albernen Geschichten anzuhören. Sie erhalten einen Verweis! Und das nächste Mal verhelfe ich Ihnen zu einer Audienz beim Direktor.«

Er spürte, wie ihm das allgemeine Gelächter der Klasse das Blut in den Kopf trieb.

»Sehr gütig, vielen Dank«, murmelte er verbissen.

»Wie, habe ich da etwas gehört?« dröhnte es von vorne, » Apropos, wo ist denn Ihre Arbeit?«

George wühlte in seinem Rucksack, den er unter dem Pult verstaut hatte und zog einige zerknitterte, hastig beschriebene Seiten hervor. Wortlos nahm Hoskins sie ihm ab. Sein graues Haar stand ihm in einer wilden Mähne vom Kopf ab und bildete zusammen mit seinem nicht minder wilden Vollbart ein geradezu drolliges Bild. Mit seinem scharfen Blick, der wie um ihn zu bannen auf George gerichtet war, glich er ein wenig Karl Marx, oder eher noch dem zürnenden Gott Wotan. Er nestelte in seiner Rocktasche herum, bis er den alten goldgerahmten Kneifer fand.

Er setzte ihn sich auf die Nase und bagann mit unglaublicher Geschwindigkeit den Text zu überfliegen. Dabei stieß er höchst sonderbare Grunzlaute aus, die von einigen »Hem«'s und »so,so«'s begleitet wurden.

George wurde es indes etwas mulmig. Er hatte zwar über einen Monat Zeit gehabt, den Aufsatz zu schreiben, es aber bis am Abend des Vortags aufgeschoben.

Ärgerlich nahm er die schadenfrohen Gesichter seiner Kommilitonen wahr, die ihn mit hämischem Grinsen anstarrten und abwechselnd ihn, abwechselnd Hoskins fixierten, in Erwartung seiner Reaktion.

Da geschah plötzlich etwas sehr merkwürdiges. Völlig unerwartet begann das Blatt in Hoskins' Händen zu zittern. Hoskins selbst war aschfahl geworden und eine unerklärliche nervöse Spannung lag in seinen Zügen; seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen jedoch waren zwei schwarze Stecknadelköpfe, die wie hypnotisiert auf das Blatt starrten. Im ersten Augenblick glaubte George, er könnte einen Wutausbruch bekommen, doch verwarf er den Gedanken wieder, denn er sah, daß mit Hoskins eine ungeheuerliche Veränderung von statten gegangen war.

Dieser war jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Stille in der Klasse war unerträglich; es lag eine elektrisierende Spannung in der Luft. Ganz gebannt starrten alle mit vor Schrecken und Erstarren weit geöffneten Augen auf Hoskins. Mit einem schier ohrenbetäubenden Krachen krampfte sich seine zitternde Hand um den Bogen Papier und knüllte denselben zusammen, so, daß die Knochen seiner Hand hart und weiß hervortraten. Sodann verließ er den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen oder irgendeinen Ton hervorzubringen.

Etliche Sekunden saßen alle starr und völlig verdutzt über das plötzliche, unerklärbare Verhalten ihres erst so grimmen, aber doch humorvollen Professors. Dann aber brach das allgemeine Getöse los. Alle sprachen durcheinander; jeder wollte wissen, was an seinem Aufsatz so entsetzlich war, das Hoskins beinahe der Schlag getroffen hätte.

»Ich habe wirklich keine Ahnung«, beteuerte George.

»Ach, erzähl mir doch keinen Unsinn«, entgegnete Paul, »das sollen wir dir glauben?« -

»Wenn ich es doch sage! ... Ach laßt mich doch in Ruhe; ich hab' euch alle satt!« rief er zornig und machte sich davon.

Draußen hatte es inzwischen aufgehört zu regnen. Die dichte Wolkendecke war aufgebrochen und einzelne Strahlen spiegelten sich im frischen Glanz der nassen Straßen. Der allmorgendliche Berufsverkehr hatte nachgelassen und aus dem nahe gelegenen Park drang lebhaftes Vogelgetzwitscher herüber; ein merkwürdiger Kontrast zu den grauen Häuserzeilen und dem geschäftigen Treiben einer mittleren Stadt. George betrat den Park und setzte sich auf eine Bank nahe einer knorrigen alten Eiche. Daß die so gemütlich aussehende, weißgestrichene Bank noch tropfnaß war, bemerkte er allerdings erst, als er schon darauf saß.

»Verdammt nochmal!« wetterte er. »Geht denn heute alles schief?«

Da er nun einmal einen feuchten Hosenboden hatte, blieb er auch gleich sitzen und betrachtete, seine innere Ruhe langsam wiedergewinnend, die wenigen Leute, die um diese Zeit -es mochte so gegen halb zehn Uhr sein- im Park spazierengingen. Ein paar alte Männer unterhielten sich auf auf der Rasenfläche, die warme Frühsommersonne genießend, einige Mütter schoben ihre Kinderwagen auf den kleinen Wegen vor sich her. Er lehnte sich zurück und streckte die Beine weit von sich. Er spürte, wie ihn eine gewisse Schläfrigkeit überkam. Er schloß die Augen und ließ sich die wärmenden Sonnenstrahlen aufs Gesicht scheinen.

Hierbei mußte er wohl etwas eingenickt sein, denn plötzlich spürte er einen unsanften Schlag gegen das Schienbein. Er riß die Augen auf. Vor ihm auf dem Weg lag ein Mädchen, das sich gerade wieder aufrappelte. Es mochte etwa 16 sein und hatte langes, blondes Haar, welches es zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Zornig fuhr es ihn an:

»Kannst du denn nicht aufpassen, wohin du deine Füsse streckst? Schau, was du angerichtet hast!«

Um sie herum lagen in direkter Fortsetzung ihrer Fallinie etwa ein halbes Dutzend Bücher nebst unzähligen einzelnen Blättern in weitem Umkreis verstreut.

George schaute sie an und wurde, er wußte kaum wie ihm geschah, sehr rot und verlegen.

»Oh! Ich ... äh... bitte sehr um Entschuldigung...« stammelte er, »ich habe dich gar nicht kommen sehen. Es tut mir sehr leid.«

Wie, was sagte er da? Er wollte das doch gar nicht sagen. Viel lieber hätte er ihr eigentlich geantwortet »Paß gefälligst besser auf, wo du hintrittst, blöde Gans.« Aber statt dessen bückte er sich und half ihr die Blätter wieder einzusammeln. Er erhob sich wieder und reichte ihr den Stapel. Ihre blau-grünen Augen, die ihn eben noch zornig angeblitzt hatten, schienen nun einen geheimnisvollen Ausdruck zu beinhalten. Sie lächelte und sagte:

»Eigentlich war es ja meine Schuld. Ich hätte besser aufpassen sollen, wo ich langging. Besuchst du das ...Kolleg?«

George nickte.

»Ich bin neu hier. Ich habe mich eben dort angemeldet. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder!« sprach sie und entschwand.

George stand noch eine Weile da und sah ihr nach. Dann machte er sich nachdenklich auf den Weg nach Hause.

 

* * *

 

Nach Hause, das hieß nicht zu seinen Eltern, denn die wohnten in einer anderen Stadt, mehrere Kilometer entfernt, wo sie ein kleines Fuhrunternehmen betrieben. George wohnte in einem Studentenwohnheim des Kollegs, wo er mit zwei weiteren Kommilitonen ein großes Eckzimmer im zweiten Stock bewohnte. Es war Freitag Nachmittag, kurz nach eins und die meisten der Zimmer waren voller lärmender junger Leute, die das Wochenende kaum noch erwarten konnten.

Kaum hatte George die Eingangstür aufgestoßen und machte sich am Ende des Flures daran, die Treppe zu ersteigen, als ihm von jeder Tür eine andere Musik entgegen schlug, von Boccherini über Schubert zu den Beatles und Michael Jackson war hier alles vertreten. Eines jedoch hatten alle gemeinsam: sie waren dröhnend laut.

George war vor der Nummer 26 angelangt, wo er wohnte. Er blieb vor der Tür stehen. Drinnen war es verdächtig ruhig. Vorsichtig öffnete er die Tür und erstarrte. War es möglich, daß sich ein Zimmer binnen wenigen Stunden derart verändern konnte? Es sah nicht aus, als hätten die Vandalen darin gehaust, auch nicht als hätte ein Berserker darin gewütet, nein, es machte den Anschein, als sei gleichzeitig ein Erdbeben und ein Zyklon ausgebrochen und eine Sturmflut obendrein.

Kleider, Bücher, Papier, ein kompletter Satz Farbstifte, Aktenordner, fliegende Blätter, ein halb geöffnetes Paket nebst den dazugehörigen Sägespänen, Zeitungen, Werkzeug, kurz, alles, was der Mensch an Nützlichem und Sinnvollem erfunden hatte, lag hier herum.

Und inmitten dieses allgemeinen Durcheinanders saßen Peter von Braun und Richard Allinson, vollauf damit beschäftigt, die Morgenausgabe der Tageszeitung auseinanderzurupfen und einige Artikel auszuschneiden. Für einen Augenblick war George sprachlos. Dann aber stieg langsam ein gewisser sich stetig mehrender Zorn in ihm auf. Es trug auch nicht gerade zu seiner Beruhigung bei, daß auf seinen Bett ein Kasten mit Wasserfarben, beziehungsweise dessen Inhalt verstreut lag.

»Seid ihr denn beide völlig übergeschnappt?!« brüllte er, denn es war schwierig gegen das ungeheure Getöse aus der Stereoanlage im Nebenzimmer anzukommen.

Beide starrten ihn verblüfft mit dem »Was-machst-du-denn-schon-hier«-Blick an, den er nur zu gut kannte.

»Wir dachten, du kämest erst gegen Abend«, meinte Richard, »wir waren gerade dabei...«

»Es interessiert mich nicht die Bohne, was ihr hier anstellt! Wenn ich heute Abend wiederkomme, will ich, daß es hier wieder so aussieht, wie heute Morgen! Ist das klar?!«

Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verließ den Raum, die Tür krachend ins Schloß werfend. Peter und Richard schauten einander entgeistert an.

Peter war etwa einen Meter achtundsiebzig groß, hatte glattes blondes Haar und pflegte stets eine glänzende, um nicht zu sagen gleißnerische Erscheinung an den Tag zu legen. Gut gekleidet, modisch, dynamisch mit geschniegelter Frisur und einer gewählten Sprache. Stets hatte er nur dasselbe im Kopf: die Mädchen, die er mit immer der gleichen Sammlung abgedroschener, aber nicht minder wirkungsvoller Sprüche in großen Mengen und immer wieder aufs Neue einzuwickeln verstand.

Er war, wie aus seinem Namen leicht zu erkennen, der Sprößling deutscher Einwanderer. Seine Ur-Großeltern waren noch vor dem ersten Weltkrieg eingewandert und hatten in Amerika ihr Vermögen gemacht. Aufgrund eines kaum mehr verständlichen Familienstolzes hatten alle Generationen stets an ihrem deutschen Namen festgehalten, trotz aller Kriege und den damit verbundenen Konsequenzen.

Heute ist Peter äußerst stolz auf seinen seltenen und von den meisten Leuten mit Aufmerksamkeit beachteten Namen, den er auch stets schwunghaft auf allen Schriftstücken wirkungsvoll anzubringen wußte.

Richard war wohl das genaue Gegenteil Peters. Er hatte keinen, oder sagen wir eher wenig Sinn für die Mädchen, machte sich nichts aus modischer Kleidung und war mehr der Lektüre und dem Studium angetan, als den abendlichen Vergnügungen und den Ausschweifungen des studentischen Lebens, welche allerdings in einer Kleinstadt wie der unseren viel bescheidener ausfallen, als vielleicht in den Metropolen.

Warum ausgerechnet drei so verschiedene Personen zusammen in einem Zimmer wohnen, scheint mehr als nur verwunderlich. Ihr Zusammentreffen basierte auf einem merkwürdigen Zufall, der einige Zeit zurück liegt. Da er für den weiteren Verlauf unserer Geschichte keine Rolle spielt, soll er an dieser Stelle auch nicht weiter erläutert werden.

Daß es die drei so lange miteinander aushielten und dabei doch so etwas wie Freunde wurden, liegt wohl darin begründet, daß sie sich gegenseitig wunderbar ergänzen.

Peter, der recht gutaussehend war und überall im Mittelpunkt stand, war den Wissenschaften nicht sonderlich zugetan und mogelte sich stets irgendwie - meist mit Richards Hilfe - durch die Prüfungen. Richard wiederum genoß es, hin und wieder auf Gesellschaften geschleppt zu werden und durch die weit verzweigten Beziehungen Peters nicht ganz den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren.

George wiederum, der das völlige Gegenteil der beiden war, wurde von beiden etwas ausgenutzt; Peter hielt sich gerne in seiner Nähe auf, weil er dadurch seine eigene Person in noch glänzenderes Licht getaucht sah, und Richard genoß es, ihn mit seinen überlegenen Kenntnissen schulmeisterhaft zu belehren. Beide aber konnten sich eines gewissen Neides nicht ganz erwehren; George hatte eine bestimmte Art, den Ereignissen gelassen entgegen zu sehen, sich kaum durch etwas wirklich erschüttern zu lassen, kurz er legte stets eine sorglose Unbefangenheit an den Tag, die den anderen manchmal recht auf die Nerven ging.

George selbst kümmerte das kaum, er verbrachte den größten Teil seiner freien Zeit damit, in alten Büchern zu schmökern und seinem etwas romantischen Naturell folgend, seinen Gedanken nachhängend irgendwo in der Gegend herumzuschlendern. Er war froh, überhaupt ein Zimmer gefunden zu haben.

Inzwischen war George auf dem weitläufigen Gelände des Kollegs herumspaziert, als er langsam in die Nähe der Mensa kam. Diese befand sich im Erdgeschoß des großen Kollegiengebäudes, einem altehrwürdigen Bau aus der Gründerzeit. Vor dem überragenden Eingangsportal befand sich eine breite steinerne Freitreppe, die jetzt, wie meistens am Nachmittage dicht besetzt war. Gedankenlos schritt er die Stufen empor, als ihm plötzlich eine vertraute Stimme ans Ohr drang, die seinen Namen rief. Und wirklich, es war das Mädchen aus dem Park von heute Morgen. Sie saß an eine der Säulen gelehnt.

Woher zum Teufel kannte sie seinen Namen, fragte sich George, während er sich einen Weg zu ihr hin bahnte.

»Oh, Hallo...äh...?«

»Juliette heiße ich! Ich hab' mich dir noch gar nicht vorgestellt«, sagte sie.

»Woher weißt du wie ich heiße?« fragte George und starrte sie mit unverhohlener Neugier an.

»Nun, ich hab' da so meine Quellen«, meinte sie verschmitzt und strich sich mit einer höchst anmutigen Bewegung das Haar aus der Stirn.

»Ich habe schon so manches über dich gehört. Du sollst es geschafft haben, einen alten Professor derart zu ärgern, daß er sich auf und davon machte, und keiner hat ihn darauf jemals wieder gesehen.«

»Na, na, so war das denn doch nicht. Und von wegen verschwunden; morgen werden wir ihn bestimmt wohlauf und in der gewohnten schlechten Laune, wie immer, antreffen.«

Doch da sollte sich George gründlich getäuscht haben; Eugene Hoskins sollte nie mehr erscheinen, denn er war bereits um diese Stunde tot und lag auf dem Grunde des Stillen Ozeans. Doch davon wußten unsere Helden noch gar nichts. Im Augenblick waren sie mit ganz etwas anderem beschäftigt...

 

* * *

 

Derweil an einem anderen Ort

 

»Habt ihr ihn?«

Eine kalte, schneidende Stimme hallte durch das feuchte Dunkel des Gewölbes, Von Ferne hörte man das Rauschen eines unterirdischen Stromes stinkenden, lauen Schmutzwassers, das sich durch die unzähligen Rohre und Kanäle wälzte.

»Nun, ich warte...!«

»Es...äh...hat einen kleinen Unfall gegeben mit dem Professor«, sagte Bruce, ein vierschrötiger Riese mit einem Vollmondgesicht und einer Knollennase, der in seinem zu engen und schlecht sitzenden Anzug eine fast lächerliche Figur abgab, wenn einem sein brutaler Gesichtsausdruck nicht das Lachen im Keime erstickt hätte.

»Einen Unfall? Was hat das zu bedeuten?!«

Die Stimme klang noch schärfer und um eine Spur eisiger durch die feuchte Kälte.

»Er hat Schwierigkeiten gemacht, der Alte... und da mußten wir ihn ein bißchen aufmischen. - Naja, und das ist ihm glaub' ich nicht so ganz bekommen«, meinte Al, der neben Bruce stand und verlegen seinen Hut in den Händen drehte. Al war ein kleiner dünner Mann mit listigen schmalen Augen, einem schmalen Oberlippenbärtchen, noch schmaleren Lippen und einem verschlagenen Gesichtsausdruck.

»Ihr verdammten Idioten!« hallte es vom anderen Ende des Ganges, wo eine schattenhafte große Gestalt, eben noch in einem Sessel sitzend, aufgesprungen war. »Ihr habt ihn erledigt. Davon war nie die Rede. - Wo ist sie? Ihr habt sie doch?! Na?«

»Nnnein...wir...wir haben überall danach gesucht, aber sie war nicht da... ich glaube, er hatte sie gar n...«

»Schweigt, ihr ----. Ihr habt jämmerlich versagt; und ihr wißt doch, was dann geschieht... Denkt an Hank oder an Custer, der mich über's Ohr hauen wollte. - Also geht und holt sie, bringt sie mir und wagt nicht eher zurückzukommen, als ihr sie habt! Doch denkt daran, meine Geduld währt nicht ewig! Und nun raus hier!!«

Bruce und Al machten sich schleunigst von dannen, während die Gestalt sich langsam in den Sessel fallen ließ und eine lange Cigarre in den Mund steckte. Ein Streichholz flammte auf und für eine Sekunde konnte man das Gesicht der Gestalt sehen, das vorher vom Halbdunkel und der breiten Krempe des tief in die Stirn geschobenen Hutes verdeckt gewesen war.

Zwei klare stahlgraue Augen, die eine grausame Kälte ausstrahlten, saßen über einer langen, beinahe aristokratisch anmutenden Nase; unter einem schmalen schwarzen Schnurrbart saß ein Mund, der die Augen fast im Ausdruck seiner Grausamkeit übertraf. Das schlimmste aber war ein rasiermesserscharfes Grinsen, das um seine Lippen spielte.

Lange saß die Gestalt noch dort und grinste vergnügt in sich hinein, dann erhob sie sich und ging mit langen geschmeidigen Schritten von dannen. Zurück blieben nur der Sessel und etwas blauer Cigarrenrauch, der sich langsam in der feuchten Luft verflüchtigte.

 

*

 

George und Juliette waren noch lange dort auf der Treppe gesessen und hatten sich unterhalten. erst noch etwas zögernd und gehemmt, dann aber immer freimütiger und gelassener. Schließlich lachten und scherzten sie lautstark, und als die Uhr schon lange acht geschlagen hatte und sie die einzigen waren, die auf der Treppe saßen, beschlossen sie, sich am nächsten Morgen gegen elf zu treffen.

George erbot sich, Juliette nach Hause zu begleiten, sie aber lehnte entschieden ab und meinte, dazu werde er ein andermal noch Gelegenheit haben. Beglückt und frohgemut über die Entwicklung seiner neuen Bekanntschaft machte sich George auf nach Hause.

Zu seiner großen Überraschung fand er das Zimmer wider aller Erwarten säuberlich aufgeräumt und in bester Ordnung.

Richard war nicht da, er besuchte einen Vortrag über südamerikanische Indianer im Regenwald. Peter saß am Pult und war damit beschäftigt, seine Photo-Sammlung zu ordnen.

»Na, hast du Blondchen nach Hause gebracht oder wollte sie lieber alleine sein?«

»Wie? Ich meine, woher weißt du...« stammelte George verlegen und kämpfte dagegen, bis zu den Haarwurzeln zu erröten.

»Ich muß sagen, sie ist wirklich recht niedlich. Du mußt sie mir einmal vorstellen; ich bin davon überzeugt, wir würden uns gut verstehen.«

»Erstens ist sie lediglich eine flüchtige Bekannte, zweitens geht dich das überhaupt rein gar nichts an und drittens laß die Finger von ihr!«

»Ja, ja, schon gut.«

»Augenblick, woher weißt du denn das nun schon wieder?«

»Als ich heut' Abend am Kollegiengebäude vorbeiging und euch dort so nett turteln sah, da habe ich mich zuerst ganz schön gewundert; ich meine, daß ausgerechnet du so etwas schnuckliges geangelt haben sollst, aber dann dachte ich mir, auch ein blindes Huhn...«

Weiter kam er nicht, denn da flog ihm schon ein Kissen an den Kopf. Für den Rest des Abends hatte George dann Ruhe, aber er konnte sich darauf verlassen, daß es am nächsten Tage keinen Menschen im Unkreis von einem Kilometer geben würde, der nicht die tollsten Klatschgeschichten über ihn gehört hätte. Aber wunderlicherweise störte ihn das überhaupt nicht...

 

An nächsten Morgen

 

Vor dem Saal von Professor Hoskins hatte sich eine Traube lärmender Schüler gebildet, die alle vor der geschlossenen Tür standen und und in einem fort schwatzten. Eigentlich hätte der Unterricht bereits vor zwei Minuten begonnen haben sollen, aber noch immer war die Tür geschlossen und aus den Innern drang kein Laut. Dies war umso ungewöhnlicher, als daß jedermann wußte, daß Hoskins in den letzten dreißig Jahren noch nie zu spät gekommen war, geschweige denn gefehlt hatte.

George drängte sich suchend zwischen den Schülern hindurch, in der Hoffnung, seiner neuen Bekanntschaft zu begegnen, doch zu seiner Enttäuschung war sie nicht darunter. Offenbar hatte sie in einem anderen Teil des Gebäudes Unterricht. Dafür aber fand er Richard im Gespräch mit zweien seiner Kollegen aus dem Literatur-Klub. Er schien recht aufgeregt zu sein, denn er redete wild gestikulierend auf die beiden ein.

Kaum hatte er George erblickt, löste er sich aus der Gruppe und kam auf ihn zu.

»Hast du schon gehört, Herrn Hoskins muß etwas zugestoßen sein!«

»Warum denn das? Wer sagt so etwas? Nur weil er einmal nicht ganz pünktlich da ist.«

»Hast du jemals erlebt, daß er zu spät kam? Nein, ich bin davon überzeugt, ihm ist etwas zugestoßen.«

»Weißt du was, wenn er bis heute Mittag nicht auftaucht, dann gehen wir ihn besuchen, jawohl!«

»Von mir aus«, murmelte George nicht sehr begeistert.

»Du könntest ruhig mal etwas guten Willen zeigen, das könnte sich vielleicht auch auf deine Zensuren auswirken.«

»Also gut, wir sehen uns ja dann wie üblich beim Mittagessen«, sagte George und ging, erfreut über einen halben freien Vormittag, ein Liedchen summend nach draußen. Er glaubte zwar nicht daran, irgend einen "guten Eindruck" auf Hoskins machen zu können, aber irgendwie mochte er den alten Brummbären trotz seiner etwas ruppigen Art.

 

* * *

 

[Beim Mittagessen lernt George Alice kennen, Peters Freundin, die ihn später noch beschäftigen wird. Am Nachmittag statten George, Richard und Julie dem alten Hoskins einen Besuch ab. Zu ihrer Bestürzung finden sie das Haus unverschlossen und sein Inneres durchwühlt. In einem Mauerloch, das die Einbrecher hinterlassen hatten, findet Richard eine kleine silberne Kapsel mit sonderbaren eingravierten Zeichen. Offensichtlich wurden die Einbrecher bei der Arbeit gestört. Am Abend erfahren sie die traurige Nachricht vom Tode des Professors.

Noch am selben Tage wird Julie von einem unbekannten Fremden angesprochen, der sie offenbar im Hause des Professors beobachtet haben mußte. Julie kann ihm entkommen. Inzwischen ist es Richard gelungen, die Kapsel zu öffnen. Im Inneren befindet sich ein Stück Papier, auf dessen Vorderseite eine Karte eingezeichnet ist. Der Ort ist nicht zu erkennen, da sämtliche Namen fehlen. Es muß sich aber um eine Gegend im Gebirge von C. handeln.

Auf der Rückseite befindet sich ein verschlüsselter Text in 10 Zeilen. Ein paar Tage später wird Georges Zimmer von Unbekannten durchwühlt. Offenbar weiß jemand, daß sie etwas besitzen, das von Wert sein könnte. George, Peter und Richard beschließen gerade, zur Polizei zu gehen, als Julie unvermittelt zu ihnen stößt; jemand hatte ihr aufgelauert...]

 

* * *

 

Nachdem sich Julie wieder etwas beruhigt hatte, begannen sie ihre Lage zu besprechen. Richard stand auf und zog die Vorhänge zu. Das Zimmer wirkte eng, aber gemütlich. Julie saß auf dem kleinen Sofa in der Ecke. Sie war noch etwas blaß und ihr blondes Haar war zerzaust und hing ihr ins Gesicht. George konnte ein leichtes Unmutsgefühl nicht unterdrücken, das langsam in ihm hochzusteigen begann, als er Peter mit etwas zu großer Anteilnahme den Arm um ihre Schulter legen sah. Sie ließ ihren Kopf auf Peters Schulter ruhen, ihre Augen aber ruhten allein auf George. Und der Blick aus diesen großen blauen Augen, die immer noch etwas ängstlich unter den langen Wimpern schimmerten, ließ jeden Anflug von Mißstimmung oder Eifersucht dahinschmelzen. Er versank geradezu in diesen Blicken, die ihm das Herz höher schlagen ließen und seine geheimsten Hoffnungen schürten.

»Also«, hub Richard an, »diese beiden Kerle müssen uns im Haus vom Professor gesehen haben und wissen, daß wir etwas besitzen. Sie wissen aber nicht was

»Nun, wie wir gesehen haben, schrecken die vor nichts zurück. Sie wissen, wo sie uns finden können und werden es sich mit Gewalt holen. Wir dürfen kein Risiko eingehen«, wandte George ein.

»Ich finde, wir sollten zur Polizei gehen«, meinte Julie, die sich Peters Armen entwunden hatte und aufgestanden war.

»Das hat doch keinen Sinn«, ließ sich Peter vernehmen, der ihr einen langen Blick hinterherwarf. »Die würden uns doch kein Wort glauben, wenn wir ihnen mit dieser Räuberpistole kämen. Glaubst du etwas, die gingen auf Schatzsuche? Außerdem hätten wir die Kerle nach wie vor am Hals.«

»Wir müssen den Ort auf der Karte finden«, schlug George vor und trat an den Tisch, wo das Papier ausgebreitet lag, neben einem Stapel anderer Karten und Atlanten.

»Vergiß nicht, Samstag in einer Woche beginnen die großen Ferien.«

»Na und?« mischte sich Julie ein. »Dann haben wir ja genug Zeit, uns auf die Suche zu begeben... Oh, das heißt... eigentlich fahr' ich für ein paar Wochen weg«, fiel ihr plötzlich ein.

»Stimmt« , sagte Peter. »Meine Eltern fahren für zwei Wochen nach Europa.«

»Und meine, wie jedes Jahr, ans Meer nach Kalifornien«, sagte Richard enttäuscht.

»Nun, ich habe nichts vor«, meinte George. »Aber allein macht es keinen Sinn, etwas zu versuchen. Wenigstens sind wir vor den Unholden sicher.«

Alle standen einen Moment lang enttäuscht da. Keiner hatte damit gerechnet, daß ausgerechnet die Semesterferien ihrer Suche einen Strich durch die Rechnung machen würden.

»Ha! Ich hab's!« rief Julie aufgeregt. »Ich habe doch gesagt, ich fahre weg.«

»Ja und?«

»Nun, ich hab' mich für ein Lager als Helfer angemeldet. Und was glaubt ihr, wo das ist?«

»Sag bloß, das Lager findet in der Nähe von C. statt?« fragte Richard ungläubig.

»Genau so ist es. Wir können uns also gemeinsam auf die Suche machen«, sprach sie zu George gewandt, der sie ein wenig skeptisch anschaute: »Wir? Wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht einfach mitfahren in das Ferienlager. Das ist doch etwas für die Kleinen.«

»Aber doch nicht als Teilnehmer, du Esel. Als Helfer natürlich. Ich werde das schon arrangieren können.«

»Ja, aber...«

»Kein aber! Wart's nur ab. Das wird schon alles klappen.«

Triumphierend blickte sie in der Runde umher. Noch ehe George sich gewahr wurde, war er bereits in das Abenteuer hineingezogen worden, und obgleich ihm der Gedanke, irgendwo im Gebirge herumzukraxeln nicht sonderlich gefiel, so konnte er sich mit der Aussicht, einige Wochen mit Julie ungestört im Ferienlager zu verbringen, äußerst gut anfreunden. Am frohesten war er besonders darüber, daß Peter nicht mitgehen können würde; hatte ihn dieser durch seine etwas zu penetrante Art Julie gegenüber schon etwas zu beunruhigen begonnen.

Auf jeden Fall beschloß er, das Beste daraus zu machen und sich möglichst wenig anmerken zu lassen.

In gänzlich anderer Stimmung waren Peter und Richard. Sie sollten bei diesem spannenden Abenteuer, in dem es vielleicht um geheime Pläne, Spionage, Schmuggel oder sonst etwas ging, nicht mit von der Partie sein, sondern irgendwo in Europa oder am Strand herumhängen.

»Auf was wir besonders zu achten haben, in den nächsten Tagen, ist, uns die Kerle möglichst weit vom Halse zu halten«, griff Richard das Gespräch auf. »Wir dürfen uns nur in Gruppen draußen bewegen und uns stets im Gewühle und an öffentlichen Plätzen aufhalten. Vor allem müssen wir das da gut verstecken!« sagte er und deutete auf die Kapsel und die Karte, welche vor ihnen auf dem Tische lagen.

»Am Besten stellen wir einige Kopien davon her«, schlug Peter vor, «damit nichts verloren gehen kann.«

»Gute Idee«, meinte Richard und machte sich sofort ans Werk, mit erstaunlicher Geschicklichkeit die Karte abzuzeichnen.

Inzwischen war es spät geworden; draußen schlug fern eine Turmuhr eins.

»Kann ich heut' Abend hierbleiben?« fragte Julie zaghaft.

»Was??« kam es gleichzeitig aus dreier Munde.

»Oh, schon gut. Ich gehe also jetzt lieber. Nein, ihr braucht mich nicht zu begleiten. Wer sollte mir schon etwas antun. Und wenn sie mich schnappen und foltern sollten, dann werde ich einfach...«

»Halt, halt! Das war ja nicht so gemeint. Natürlich kannst dur hierbleiben. Du kannst auf dem Sofa... äh, will sagen, ich kann ja auf dem Sofa schlafen und stelle dir mein Bett zur Verfügung«, wandte Peter ein.

»So, so. Das könnte dir so passen«, spottete George.

»Jetzt gebt endlich Ruhe!« entschied Julie belustigt. »Ich werde es mir auf dem Sofa bequem machen.«

 

Am folgenden Morgen erwachte die vier spät. Sie hatten eine aufregende Nacht verbracht und waren entsprechend verkatert. George, der als erster aufgewacht war, stand leise auf. Auf dem Weg zur Tür blieb er vor dem Sofa stehen. Unwillkürlich mußte er lächeln, als er Julie schlafend unter der Decke zusammengerollt sah. Sie sah sehr niedlich aus, fand er und bedauerte, daß er keinenPhotoapparat zu Hand hatte.

Nach kurzer gemeinsamer Absprache wurde beschlossen, dem Unterricht fern zu bleiben. Richard und Peter besorgten das Frühstück, das, etwas improvisiert, ausgiebig auf dem Zimmer eingenommen wurde.

 

Die folgenden Tage vergingen ereignislos. Von den beiden Unholden zeigte sich keine Spur, sodaß sich unsere Helden langsam wieder sicherer zu fühlen begannen.

Julie war es inzwischen gelungen, George bei den Lager-Veranstaltern anzumelden. Die Reise sollte am kommenden Montag beginnen. Je näher der Tag des Ferien-Beginnes heranrückte, desto bedrückter zeigten sich Peter und Richard. Immer wieder ermahnten sie George, ihnen regelmäßig zu schreiben und, sobald sich etwas neues ergäbe, zu telephonieren.

Endlich war es Freitag geworden. Die vier Freunde hatten vereinbart, sich gegen fünf Uhr im Park nahe des Kollegs zu treffen, um letzte Einzelheiten ihres Planes zu besprechen.

Die Sonne schien warm vom wolkenlosen Himmel herab und die Tauben im Park gurrten friedlich; Kinder spielten auf dem Rasen und nichts kündete von den dramatischen Ereignissen, die unseren Freunden noch bevorstehen sollten.

 

* * *

 

Ende des in der Zeitschrift "BSRFPBPNE" erschienenen Teiles des Romans.

[Anm.: Der vorliegende Text wurde als Fortsetzungsroman in einer Schüler-Zeitschrift veröffentlicht. Da die Zeitschrift inzwischen ihr Erscheinen eingestellt hat, blieb die Geschichte unvollendet.]

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