DIE NACHT IM MUSEUM

von

Andreas Scharff

 

»Das Ereignis, von dem ich euch nun berichten werde, meine lieben Freunde, liegt schon einige Monate zurück.«

Adam Knauff lehnte sich in seinem bequemen Ledersessel zurück, nahm ein paar Züge aus seiner Pfeife und blies einige Rauchkringel vor sich hin. Mit sichtlichem Vergnügen weidete er sich an der erwartungsvollen spannung in den Gesichtern seiner Zuhörer. Diese bildeten mit ihm zusammen den »Freitags-klub«, welcher sich jeden zweiten Freitag im Monat traf, um sich Gespenstergeschichten zu erzähle oder über unheinmliche und unergründliche Zwischenfälle zu diskutieren.

Der Klub bestand erst seit etwa einem Jahr und zählte vier Mitglieder. Zu Knauffs linker seite saß der Anwalt Karl Jonas, ihm gegenüber der Ingenieur Georg Schindler und schließlich zu seiner rechten der Tierarzt Martin Kranz, welcher eben genüßlich einen großen Schluck Kakao aus seiner Tasse schlürfte. Diesmal war Knauff an der Reihe mit erzählen, denn es galt die Regel, daß an jedem Abend ein anderes Mitglied einen Fall vortragen, oder eine Geschichte zum Besten geben mußte.

»Nun machen Sie es aber nicht so spannend, werter Knauff!« sagte der Ingenieur ungeduldig.

Also, die Sache ereignete sich, als ich vor einiger Zeit einen freund in Z... besuchte.

An einem schwülen, sonnigen Julitag verabredeten wir uns in der Stadtmitte uaf dem Marktplatz und machten einen kleinen Spaziergang. Plötzlich fragte er mich, ob ich schon einmal in dem neu eröffneten Wachsfigurenmuseum gewesen sei. Als ich dies verneinte, schlug er mir vor, gleich hinzugehen, da es ganz in der Nähe gelegen war.Und in der Tat, nach etwa einer Viertelstunde waren wir an einem großen altehrwürdig wirkenden Gebäude angelangt, welches erst vor kurzem renoviert worden war.

Nachdem wir durch das hohe eisenbeschlagene Holzportal in eine geräumige, etwas düstere Eingangshalle getreten waren, standen wir vor einer winzigen Portiersloge, die kaum größer war als eine Telephonzelle. Drinnen saß ein älterer Mann mit leicht ergrautem Haar, der auf seinem Pult zusammengesunken war und zu schlafen schien.

Ich räusperte mich vernehmlich und sagte: »Zwei Karten, bitte!« der Mann jedoch reagierte nicht im mindesten. er hatte offenbar einen sehr gesunden Schlaf. Ich war gerade im Begriffe, heftig an die scheibe des Häuschens zu klopfen, als ich hinter mit ein glucksendes Geräusch vernahm. Ich drehte mich um und sah meinen Freund, der sich vor Lachen den Bauch hielt.

Als er sich wieder einigermaßen gefaßt hatte, erklärte er mir den Grund seines Heiterkeitsausbruches: Der Pförtner schlief nicht etwa, wie ich angenommen hatte, sondern er war eine täuschen nachgeahmte Wachspuppe. Ich schien in diesem Augenblick kein sehr intelligentes Gesicht gemacht zu haben, denn mein Freund begann erneut zu lachen. Dabe sah er derart komisch aus, daß er mich ansteckte, und wir gemeinsam lachend durch einen schweren braunen Vorhang in das eigentliche Museum traten. Dort fanden wir auch den echten Pförtner, der uns schmunzelnd die Karten verkaufte.

Das Museum hatte drei Hauptabteilungen: eine historische, in der berühmte Persönlichkeiten aus verschiedenen Jahrhunderten ausgestellt waren, eine moderne, in der Schauspieler, Wissenschaftler, politiker und viele weitere bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu sehen waren und endlich, eine Abteilung mit allerlei Spuk- und Horrorgestalten.

Nach ungefähr zwei Stunden hatten wir die ersten beiden Abteilungen hinter uns und wollten gerade in die drite gehen, die sich im Untergeschoß befand, als mein Begleiter auf die Uhr schaute - es war gerdade halb fünf - und bedauernd feststellte, daß er mich leider verlassen müsse, da er noch eine wichtige Verabrtedung habe, welche er auf keinen Fall versäumen dürfe. So mußte ich mir die Gespenster-Abteilung eben allein ansehen.

Ich stieg vorsichtig die schwach beleuchteten Stufen hinab in das Kellergeschoß. Hier befanden sich zwar auch nicht übermäßig viele Besucher, aber dennoch mehr als in den oberen Abteilungen, wo man selten jemanden aus Fleisch und Blut antraf. Ich schlenderte an den einzelnen Objekten, deren Großteil ich nicht für besonders gelungen hielt, vorbei.

Da ich bereits den ganzen Nachmittag auf den Benen war, fühlte ich mich sehr müde und hielt Ausschau nach einer Sitzgelegenheit, um mich etwas auszuruhen, bevior ich nach Hause gehen wollte. (Ich wohnte für ein paar Tage in der Wohnung meines Freundes, der mir einen Schlüssel mitgegeben hatte, damit ich nicht auf ihn zu warten brauchte.)

In einer dunklen Nische, von einer Figurengruppe halb verdeckt, fand ich einen großen bequemen Sessel, in den ich mich sofort niederließ. Ich streckte meine müden Beine aus und lehnte mich erschöpft zurück. Ein Gefühl wohliger Müdigkeit durchströmte mich. Ich schloß für einen Moment die Augen.

Als ich sie wieder öffnete, war alles um mich herum dunkel. Ich brauchte einige Augenblicke um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Offensichtlich war ich eingeschlafen und wurde in meiner Ecke von niemandem bemerkt oder für eine Wachsfigur gehalten (!) Jedenfalls war das Museum geschlossen und niemand weilte mehr hier. Vielleicht käme noch ein Nachtwächter auf seinem Rundgang vorbei.

Ich griff in meine Rocktasche und zog mein Feuerzeug hervor. Im Scheine der kleinen Flamme suchte ich nach einem Lichtschalter. In der Nähe der Eingangstür, die ich zu meinem Unglück fest verschlossen fand, so daß ich nicht einmal in das erdgeschoß gelangen konnte, um auf den Nachtwächter zu warten, fand ich ihn endlich. Ich knipste das Licht an, mußte aber sofort geblendet die augen schlieMen. Nach einiger Zeit hatte ich mich jedoch an das, wie mir jetzt schien, nicht mehr so helle Notlicht gewöhnt. Ich schaute mich um. In der gespenstischen Beleuchtung erschienen mir die Figuren um einiges unheimlicher als noch am Nachmittag. Auch machte mir die drückende Stille etwas zu schaffen. Kein Laut war zu hören. Wo zuvor gedämpftes Stimmergewirr zu vernehmen gewesen war, war jetzt nichts, absolut nichts mehr zu hören.

Doch, halt! Just hörte ich etwas, was mir vorher nicht aufgefallen war; ein leises Geräusch: ein Ticken.

Ich ging dem Geräusch nach und stand bald vor einer großen alten Standuhr. Sie zeigte wenige Minuten vor zwölf Uhr. Ich stutzte. Hatte ich tatsächlich sechseinhalb Stunden geschlafen? Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr: Sie war um drei Uhr stehen geblieben. Ich mußte vergessen haben, sie aufzuziehen. Plötzlich begann die alte Standuhr zu schlagen. Es waren dunkle langsame Schläge, die laut und durchdringend durch den Saal hallten.

Auf einmal flackerte das Licht und erlosch mit dem letzten Schlag der Uhr. Ich war zu Tode erschrocken. Mein Herz schlug so laut, daß ich meinte es übertöne das Ticken der Uhr. Ich trat einen Schritt zurück und tastete nach meinem Feuerzeug, konnte es aber nicht finden. Irgendwo mußte ich es wohl verloren haben.

Während ich nächdachte, wo es vielleicht sein könnte, vernahm ich plötzlich ein Knarren. Wie wenn ein alter Schrank oder eine Truhe geöffnet wurde. Ich fuhr herum. Mein Herz schlug so heftig, daß ich dachte, es müsse zerspringen. Ich versuchte mir einzureden, daß das alles nur Einbildung sei. Aber es half nichts. Hinter mir, im Dunkeln, glaubte ich Schritte zu vernehmen. Leise, schwere Schritte, die sich langsam aber stetig in meine Richtung bewegten.

Da! Jetzt hustete jemand rechts von mir. Es war ein grauenhaftes, hohles, trockenes Husten. Panik ergriff mich. Ich wollte weg von hier. Aber ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Eine starke, entsetzliche Kraft hielt mich fest. Ich konnte meine Füße um keinen Zentimeter bewegen. Ich war unfähig etwas zu tun.

In diesem Augenblick griff eine harte Klaue nach mir und hielt mich eisern fest. Ich stieß einen gellenden Schrei aus. Lange, spitze Fingernägel gruben sich tief in meine linke Schulter. Ein entsetzlich schrilles Gelächter erscholl von allen seiten. Es drang durch Mark und Bein, bohrte sich durch meine Ohren bis tief in den Kopf hinein. Mir wurde schwindlig, ich begann zu taumeln. Wenn ich jetzt aufgab, wäre ich verloren.

Mit einem Male - ich wußte nicht wie - erwachte ich aus meiner Erstarrung und machte einen gewaltigen Satz in Richtung des Ausganges. Doch schon auf halbem Wege blieb ich erschrocken stehen. Das Licht war wieder angegangen. Und jetzt konnte ich sie sehen...

In einem engen Kreis standen sie um mich herum. Ihr Anblick raubte mir schier die Sinne. Gräßliche Schreckgestalten, die jeder Beschreibung spotteten, umringten mich. Eine uralte Wasserleiche mit bleicher grünlich aufgedunsener Haut grinste mich an. Sie hob ihren Arm und schwenkte dabei eine schwere stählerne Kette. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, daß auch die anderen - es mochten ihrer etwa ein Dutzend sein - mannigfaltige Mordwerkzeuge in Händen hielten und sie gemeinsam zu einem gewaltigen vernichtenden Schlag gegen mich erhoben. Einige der Gestalten sahen so bizarr aus, daß es fast zum Lachen gewesen wäre, aber eben nur fast.

In diesem Augenblick schlug dumpf die alte Standuhr die volle Stunde und ich wurde von einer tiefen Ohnmacht von der Teilnahme an den weitern Geschehnissen erlöst.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem Krankenhaus. Am Morgen, als das Museum wieder geöffnet wurde, fand mich ein Angestellter. Es dauerte zwei Wochen bis ich wieder einigermassen wiederhergestellt war. Und seit jener entsetzlichen Nacht ist mein Haar, das einst dicht und schwarz war, grau und spröde.«

»Nun, das war ja ein ganz hübsches Seemansgarn, das Sie uns hier vorgesponnen haben« meinte der Anwalt Jonas.

»In der Tat, diese Geschichte war wirklich etwas übvertrieben« pflichtete Martin Kranz bei.

»Aber meine Herren! Ich versichere Sie, diese Geschichte ist die reine Wahrheit. (Vielleicht mit Ausnahme, was die grauen Haare anbelangt, aber auch die wurden grauer, als sie es vorher waren.) Obgleich ich zu geben muß, daß sie etwas absonderlich klingt, bestehe ich auf ihrer Wahrheit. Auch habe ich einen Beweis.«

»So, welchen?« fragte Schildler interessiert.

»An der Stelle, wo mich das Ungeheuer ergriffen hatte, war am nächsten Morgen eine tiefe Kratzwunde zu sehen. Auch jetzt noch habe ich an der bewußten Stelle eine große Narbe.« Er knöpfte sein Hemd auf und entblößte seine linke Schulter. Und tatsächlich zogen sich in Höhe des Schlüsselbeines vier lange helle Narben über die Haut.

»Sonderbar, höchst sonderbar« murmelte Kranz.

»Was wurde eigentlich aus dem Museum?« wollte Jinas wissen.

»Soviel ich weiß, wurde es erst vor wenigen Wochen geschlossen.«

»Und es hat keine weiteren... hm...Zwischenfälle mehr gegeben?« fragte Schindler. »Nein, mir sind keine bekannt.«

Die Diskussion über diesen Fall wurde noch bis weit in die Nacht fortgeführt. Erst gegen ein Uhr trennte sich die Gesellschaft und ein jeder ging nach Hause.

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