Viertes Kapitel

 

Eine Zivilisation in Gefahr

 

 

Kirina sank zitternd und schwer atmend in den Pilotensitz ihres Raumgleiters. Ihr war übel, und wenn sie die Augen schloß, hatte sie das Gefühl sich schnell im Kreise zu drehen. In ihrem Kopf schienen tausend Farben zu explodieren. Das Blut hatte aufgehört zu fließen, aber ihr Haar sah furchtbar aus; feucht von Schweiß und geronnenem Blut klebte es in filzigen Strähnen und halb aufgelösten Zöpfen zusammen.

Sie fühlte sich ziemlich elend. Und das lag weniger an ihren Verletzungen, als an der Tatsache, daß ihre Mission so gut begonnen hatte und jetzt in so einem Desaster endete. Sie hatte für den Flug zur Erde weniger als sechs Stunden benötigt. Nach dem Einschwenken in eine niedrige Umlaufbahn war es ihr auf Anhieb gelungen, den gestohlenen Raumgleiter auf der Nachtseite des Planeten zu orten und einen Landeplatz in der Nähe zu berechnen. Dank der Tarnvorrichtung konnte sie im Tiefflug über dem vorgesehenen Landeplatz kreisen. Eine größere Stadt lag in der Nähe. Fasziniert betrachtete sie die unzähligen glitzernden Lichter. Gerne hätte sie die Stadt aus der Nähe besichtigt, aber sie durfte nicht riskieren entdeckt zu werden. Die Bewohner des Planeten sahen zwar beinahe genau so aus wie sie, aber sie verfügte weder über die entsprechende Kleidung noch kannte sie sich in der Kultur dieses Volkes aus.

Ein unbebautes Gelände vor der Stadt bot einen ausgezeichneten Platz zum Landen. Das kleine Raumschiff hatte einen Durchmesser von knapp zwanzig Metern. Kirina hatte es fertig gebracht, ohne allzuviel Staub aufzuwirbeln, in einer flachen Mulde zu landen, so daß die Wahrscheinlichkeit gering war, beim Ausschalten der Tarnvorrichtung entdeckt zu werden. Zum Ein- und Aussteigen mußte die Tarnvorrichtung kurzzeitig ausgeschaltet werden; das war der kritischste Moment. Aber auch das gelang ohne Zwischenfall. Das Meßgerät zeigte eine Aktivität in der Peripherie der Stadt an. Der ARCON konnte also noch nicht weit sein. Mit Hilfe des Meßgerätes hatte sie bald ein Gebäude ausfindig gemacht …

 

Ihr Kopf sank auf die Konsole. Die Berührung mit dem kühlen Metall tat ihr wohl.

»Kirina, du siehst furchtbar aus. Was ist geschehen? Bleibe still liegen. Ich werde sofort das Notfall-Diagnose-Programm starten.« Das war die Stimme von ALDO, dem Computer-Navigator des Raumgleiters. Ihn hatte sie zuvor mit den mitgebrachten Datenchips gefüttert. Er verfügte nicht nur über eine beachtliche Rechenkapazität, sondern auch über eine Menge Persönlichkeit, was bei einem Computer seiner Klasse recht ungewöhnlich war. Kirina war froh, daß er da war. So hatte sie wenigstens jemanden, mit dem sie reden konnte.

»Laß nur! Ich brauche nur ein paar Minuten Ruhe, dann geht es schon wieder«, sagte sie matt und wünschte, sie könnte ihren Kopf einfach abschrauben und auswechseln. Sie schloß die Augen und versuchte, langsam und ruhig zu atmen. Vielleicht würde das gegen den Schwindel helfen.

»Kirina! Du hast eine mittlere Gehirnerschütterung und eine drei Zentimeter lange Rißquetschwunde, die dringend genäht werden müßte.«

»Das geht jetzt nicht. Gib mir einfach ein paar Pillen gegen die Kopfschmerzen.«

»Ich werde den Solarisator einsetzen. Lege bitte deinen Kopf in die Mitte der Stützen und kippe den Sitz um sechzig Grad.« Kirina tat wie ihr befohlen. Sie fühlte, wie sich die beiden gepolsterten Kopfstützen seitlich näherten und ihren Kopf in einer mittleren Position fixierten. Ein leises, hochfrequentes Summen und das sich sogleich einstellende angenehme Wärmegefühl zeigten ihr an, daß das Gerät in Tätigkeit gesetzt wurde. Ihre Muskeln spannten sich an. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Sie wußte, was jetzt kommen würde.

Die Nadelstiche waren weniger schlimm, als sie befürchtet hatte.

»Wenn du dich ein wenig entspannen würdest, wäre es viel angenehmer und weniger schmerzhaft«, sagte der Navigator.

»Woher willst du das wissen, he? Du hast ja nicht einmal einen Kopf.«

»Zum Glück. Wenn ich mir vorstelle, was für ein Gefühl das sein muß, wenn einem einer mit einer Eisenstange darauf herumklopft …«

»Halt die Klappe! Sonst schalte ich dich wieder ab.« Kirina spürte, wie der Schmerz in ihrem Kopf nachließ. Die Injektionen begannen bereits zu wirken.

Die Wirkung des Solarisators ist eine zweifache: Oberflächlich bewirkt er einen raschen Wundverschluß und durch die Strahlung werden Keime abgetötet. Innerlich bringt er Entzündungen und Schwellungen zum Abklingen. Die Behandlung ist dank der Injektionen völlig schmerzlos — abgesehen von den Stichen.

Nach einer Viertelstunde war alles vorbei.

»Du solltest dich noch mindestens zwei Stunden hinlegen.«

»So viel Zeit habe ich nicht. Weißt du, wieviel Zeit seit unserer Ankunft verstrichen ist?«

»Null Komma zwei eins drei vier fünf sieben Umlaufzyklen dieses Planeten.«

»Danke! So genau wollte ich es nicht wissen. Wir haben nur zwei Zyklen Zeit. Wenn ich den Arcon bis dahin nicht gefunden und die Psyllion unschädlich gemacht habe, dann ist dieser Planet erledigt — und ich auch.«

Kirina schlug mit der behandschuhten Faust heftig auf die Steuerkonsole, daß es gefährlich krachte.

»So nah’ war ich dran! Ich hatte ihn bereits gestellt, die Psyllion waren noch in ihrem Transportbehälter und um ein Haar hätte ich ihn mit dem TED ausgeschaltet … Boing! da kriege ich eins an die Rübe und mir gehen die Lichter aus.« Sie rieb sich unwillig die geröteten Augen.

»Wie konnte das ausgerechnet mir passieren? Ich habe mich wie eine blutige Anfängerin angestellt. Nicht einmal in meinem ersten Jahr an der Akademie habe ich mich in einem Simulator so dumm angestellt. — Ich weiß nicht einmal, wer die Kerle waren oder wie viele. Dafür haben sie auch noch den TED mitgenommen.«

»Wenn der Arcon ihn hat, dann werden wir Schwierigkeiten bekommen. Auch wenn er nur eine beschränkte Energiekapazität hat, so kann er in den falschen Händen zu einer verheerenden Waffe werden. Besonders für eine noch so primitive Zivilisation.«

»Das brauchst du nicht so zu betonen. Suche lieber einen Weg, wie wir ihn wiederfinden.«

»Zu Befehl, Käpt’n!«

Wer immer diesen Computer-Navigator auf Sarkasmus programmiert hatte, sollte dafür täglich verprügelt werden, dachte Kirina grimmig. Natürlich hatte es so kommen müssen. ,Kein Problem!‘ hatte sie zu Naru gesagt, ,in spätestens zwei Erdentagen bin ich wieder zurück!‘ — Von wegen! Wenn Cordian seine Beförderung in greifbarer Nähe gesehen hätte, und tatsächlich einverstanden gewesen wäre, die Angelegenheit zwei Tage lang zu vertuschen, hätte ihr das jetzt auch nichts mehr geholfen, denn bei der Lage der Dinge, könnte sie es jetzt nicht mehr schaffen, ihre Aufgabe in der verbleibenden Zeit zu erfüllen. Spätestens dann müßte der Kapitän nämlich der Sektoren-Kontrolle Meldung machen. Die würde dann ein Team von Spezialisten von der Abteilung 5 schicken. Für die Jungs wären der ARCON und die Psyllion kein Problem. Die machten kurzen Prozeß. Aber hinterher gäbe es eine peinliche Untersuchung. Der Käpt’n wäre seine Beförderung los und sie würde vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Und dann ginge es ab nach Patallar für mindestens fünfzig Jahre, oder sie würde — falls man sie als recuperabel einstufte — rekondizioniert werden. Das hieße dann Gedächtnis ade! und ab auf irgend eine weit entfernte Sternenkolonie als Siedlerin.

Kirina schauderte es bei dem Gedanken. Die einzige Alternative dazu sah aber auch nicht besser aus. Beim ersten Mal hatte der ARCON sie verschont — eigentlich unbegreiflich, aber vielleicht hatte das mit der unvorhergesehenen Störung zu tun — beim nächsten Mal aber durfte sie keine Gnade erwarten.

»Hoffentlich ist der ARCON nicht schon zu weit entfernt. Kannst du ihn nicht orten, Aldo?«

»Nein. Ich fürchte, er hat sein Transponder-Signal modifiziert.«

»Du meinst, er hat sich selber umprogrammiert? Aber wie ist das möglich? So viel ich weiß sind die Arcon der Baureihe 5 nicht in der Lage, mehr als nur rudimentäre…«

»Das ist kein gewöhnlicher Arcon. Er ist ein modifizierter Prototyp, entwickelt, um auf unwirtlichen Planeten der C-Klasse sich den sich verändernden Umweltbedingungen anzupassen. Außerdem gibt es Gerüchte, daß einige ARCON-Androiden für ein geheimes Projekt des Zentralrates produziert worden sind. Diese Arcon gleichen äußerlich den bewährten Fünfern, wurden aber aus höherwertigen Materialkomponenten zusammengesetzt und erhielten eine andere zentrale Recheneinheit. — Ich habe in der vorletzten Ausgabe des Kybernetikers einen interessanten Artikel entdeckt, worin es einem Biotroniker auf Fioluna 2 gelungen sein soll, eine biologische neuronale Struktur mit einer elektronischen Rechnereinheit zu verbinden. Möglicher Weise hat man bei unserem Arcon mit einer ähnlichen Technik experimentiert. Das Ergebnis wäre ein Android, der nicht nur in der Lage ist, sich selber geistig weiterzuentwickeln und zu lernen, sondern, seine Intelligenz sogar zu augmentieren.«

»Ich frage mich, wohin das noch führen soll. Man könnte meinen, die Kerle vom Unionsrat haben aus dem ersten Roboterkrieg nichts gelernt. — Aber das ist jetzt nicht unser Problem. Wenn du den ARCON nicht orten kannst, kannst du dann wenigstens ein Kraftfeld errichten?«

»Das hängt von der Energiereserve der Speicher ab. Wenn wir berücksichtigen, daß wir noch eine Reserve für den Rückflug brauchen, für den Normalbetrieb während unseres Aufenthaltes und für die Tarnvorrichtung, die ständig in Betrieb sein muß, dann bleibt uns gerade genügend Energie übrig, um ein Kraftfeld um die Stadt zu legen, welches wir zehn, höchstens zwölf Stunden aufrecht erhalten können.«

»Das reicht nicht.«

»Wenn wir das Kraftfeld auf ein kleineres Gebiet beschränken, dann hält es noch gut dreißig Stunden. Wenn der ARCON aber das Gebiet bereits verlassen hat, dann ist alles umsonst und wir haben jede Menge Energie verschwendet.« Kirina legte den Kopf in den Nacken und spielte mit einer Strähne ihres schwarzbraunen Haares, die sie immer wieder um den Zeigefinger wickelte: ein Zeichen, daß sie angestrengt nachdachte. Ihre Augen verengten sich und sie stand abrupt auf.

»Aldo, zeige mir einen Lageplan der Stadt.« Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Konsole, während sie die Nase beinahe auf den Sichtschirm drückte. »Kannst du die Siedlungsdichte anzeigen? — Ja, das ist es. In dieser Gegend befinden sich nur wenige Wohnhäuser und Geschäftsgebäude. Dort könnte er sich verbergen, bis die Psyllion ausgeschlüpft sind. Errichte ein Kraftfeld um dieses Gebiet. Und justiere die Telemetrie darauf, jede Aktivität des TED zu registrieren. Ich muß ihn unbedingt wiederbekommen. Es ist eine Schande, daß ich mich mit einem einzigen lächerlichen Hand-TED herumschlagen muß, während die Burschen von der Abteilung 5 sogar Neutronenstrahler und Photonengewehre haben. Da hätte uns der Alte ja gleich mit Keulen oder Schwertern ausrüsten können.«

»Was hast du nur immer mit der Abteilung 5 der Spezialeinheit? Man könnte fast denken, du seist neidisch auf die Burschen.«

»Ach, geh! Unsinn!«

In Wirklichkeit beneidete Kirina allerdings die Mitglieder der Abteilung 5. Schon seit ihrem Eintritt in die Sternenakademie hatte sie davon geträumt, eines Tages in der eleganten schwarz-goldenen Uniform der Spezialeinheit ein eigenes Schiff zu befehligen. Aber davon war sie weit entfernt. Um in die Spezialeinheit zu kommen, mußte man Sternenkrieger I. Klasse sein und eine vierjährige Spezialausbildung durchlaufen. Für die Aufnahme in die Erste Sternenakademie war sie aber zwei Zentimeter zu kurz geraten, da half es auch nichts, daß sie die Aufnahmeprüfung als drittbeste von viertausend Bewerbern bestanden hatte. So wurde vorläufig aus einer Karriere als Offizier bei der intergalaktischen Truppe nichts. Keine Erkundungsreisen bis an die Grenzen der bekannten Welt, keine Abenteuer in fremden Galaxien, kein Ruhm und Lorbeeren.

Zu den planetaren Truppen der Zweiten Sternenakademie wollte sie nicht. Sie verspürte keine Lust, auf irgend einem entfernten Planeten Krieg zu spielen oder als Reservist in einer öden Kolonie zu versauern. Also blieb ihr nur noch der Weg auf die Dritte Sternenakademie, wo die Interplanetaren Aufklärungs- und Schutztruppen ausgebildet wurden. Im Grunde genommen war dies nicht viel mehr als eine Art von Weltraumpolizei, aber die Arbeit schien interessant und reich an Abenteuern zu werden. Leider war es ganz anders gekommen, als sie es sich in ihren kühnen Träumen vorgestellt hatte.

Ihre letzte Hoffnung gründete auf der Tatsache, daß jedes Jahr eine kleine Anzahl von Sternenkriegern, die sich durch besondere Fähigkeiten oder Heldentaten ausgezeichnet hatten, die Chance erhielten, in die Erste Sternenflotte aufgenommen zu werden und sogar die Ausbildung zu einer der Spezialeinheiten zu machen.

Es gab sieben Abteilungen innerhalb der Spezialeinheiten. Abt. 1 genoß das Privileg, alle neuen Raumfahrzeuge zu erproben und Testflüge bis an die Grenzen der bekannten Raumsektoren der Galaxis zu unternehmen. Außerdem dienten ihre Mitglieder zum Schutze von Forschungsexpeditionen in potentiell gefährliche Sektoren.

Abt. 2 war eine Sondereinheit, die darauf spezialisiert war, auf unwirtlichen und besonders lebensfeindlcihen Planeten zu kämpfen.

Abt. 3 war die militärische Sonderermittlungseinheit. Sie war eine Art von Militärpolizei mit erweiterten Befugnissen.

Abt. 4 war eine Art von Sturmabteilung. Sie trat immer dann in Aktion, wenn es galt Zivislisten aus einem Kriesengebiet oder Geiseln zu befreien und gegen Terroristen zu kämpfen. Das klingt zwar spannend, aber in der Realität kommt sie nur sehr selten zum Einsatz und verbringt die meiste Zeit in Ausbildungslagern.

Abt.5 hatte die Aufgabe gegen eindringende fremde Lebensformen zu kämpfen und die Union der Planeten vor subversiven Elementen zu schützen. Sie trat immer nur in den heikelsten und schwierigsten Fällen in Aktion und ihre Einsätze waren meistens geheim. So kam es daß sich um diese Abteilung die meisten Legenden rankten.

Abt. 6 war die Spionage-Abteilung. Ihre Arbeit verlief naturgemäß im Verborgenen und war weit weniger spektakulär, als es den Anschein hatte, da sich die Agenten in der Regel irgendwo in den Regierungszentren aufhielten und ihre Arbeit hauptsächlich in dem Anzapfen fremder Computersysteme bestand.

Abt. 7 schließlich war die technische Notfall-Truppe. Sie kam überall dort zum Zuge, wo irgendeine größere Katastrophe eingetreten war oder bevorstand.

Kirina fühlte sich nach der Behandlung schläfrig. Aber jetzt durfte sie sich nicht gehen lassen. In wenigen Stunden würde im Osten die Sonne aufgehen. Seltsam, dachte sie, daß sich die meisten bewohnten Planeten in die gleiche Richtung drehen.

Nein, jetzt war nicht die Zeit zum Träumen oder um sich allgemeinen Betrachtungen hinzugeben. Mit flinken Fingern bediente sie die zahlreichen Schalter auf der Konsole vor ihr.

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