I. KAPITEL

Wald

 

Kälte, eisige feuchte Kälte war das Erste, was Peter spürte, als er wieder zu Sinnen kam. Sein Rücken schmerzte von der unbequemen Unterlage. Er versuchte vorsichtig die Augen zu öffnen, aber alles, was er von dem hellen Sonnenschein geblendet sah, waren bunte gleißende Lichter. Er rollte sich auf die Seite und merkte dabei, daß er auf feuchtem, mit Laub bedecktem Erdboden lag. Von Ferne drang ein leises Brausen an sein Ohr. Im Übrigen war es sehr stille. Nach einigen Sekunden gelang es ihm endlich die Augen zu öffnen, und wie er vermutet hatte, befand er sich mitten in einem winterlich kahlen Walde. Mit steifen Gliedern richtete er sich auf und lehnte sich noch etwas benommen an einen Baumstamm.

Sein Kopf schmerzte ihn noch ein wenig und er versuchte sich krampfhaft zu erinnern, wo er sich befand und was er hier zu suchen hatte. Aber sein Gedächtnis war leer, wie ausgelöscht.

Verschüchtert blickte er sich um. Ob er vielleicht die Gegend wiedererkannte? Aber dies schien nicht der Fall zu sein. Mit zitternden Händen fuhr er sich über das Gesicht und rieb sich die Augen. Dabei bemerkte er, daß er recht schmutzige Hände hatte, als hätte er in der Erde gewühlt. Er blickte an sich herab. Seine Kleidung, die aus blauen Jeans, weißen Turnschuhen und einer leichten weißen Jacke bestand, war ebenfalls recht schmutzig und mit feuchtem Laub behaftet. Er war keineswegs passend für die Jahreszeit angezogen, was ihn jetzt, da er es selbst festgestellt hatte, noch stärker frieren ließ.

Neugierig steckte er die Hände in die Taschen. Aber alles, was er zum Vorschein brachte, waren einige Münzen, ein Schlüsselbund und ein kleines Taschenmesser. Obgleich er sich an nichts weiter erinnern konnte, war er doch recht froh, daß er die Gegenstände alle sogleich erkannte und sie zu benennen wußte.

Er stand auf. Es dauerte einige Augenblicke, bis das Pochen in seinem Kopf abklang. Das Schwindelgefühl, das ihn anfänglich sehr irritiert hatte, klang langsam ab. Unruhig begann er auf und ab zu gehen. Seine Beine waren schwer und steif. Langsam erst kam sein Blut wieder in Bewegung.

»Ich muß mich erinnern! Ich muß mich erinnern!« rief er verzweifelt. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und begann seine Lage zu überdenken. Er befand sich irgendwo im Wald und hatte keine Ahnung wie er hergekommen, noch was er hier zu suchen hatte. Nirgends waren Spuren zu sehen. Das war doch nicht möglich. Er konnte unmöglich so lange hier gelegen haben, bis sich der Boden wieder geglättet hatte. Und vom Himmel gefallen war er bestimmt auch nicht. Was um Himmels Willen war nur mit ihm geschehen?

Nur mit Mühe gelang es ihm einen Anflug von Panik zu unterdrücken. Alles würde gut werden. Vielleicht war er gestürzt und hatte sich den Kopf angeschlagen. So etwas konnte leicht zu einer Gehirnerschütterung führen und auch einen zeitweiligen Gedächtnisverlust hervorrufen. Erneut mußte er gegen die Angst ankämpfen. Was wenn er wieder ohnmächtig würde? Bei der Kälte würde er innert kurzer Zeit erfrieren. Er streckte sich vorsichtig und atmete mehrmals tief durch. Obwohl er sich noch immer ein wenig unsicher auf den Beinen fühlte, hatte er doch nicht den Eindruck, schwer verletzt zu sein. Er mußte sie schnell wie möglich herausfinden, was geschehen war.

Peter knöpfte seine Jacke zu und schlug den Kragen auf. Er mußte bald irgendeine Unterkunft finden, denn auf die Dauer würde ihm die Kälte sicher schwer zu schaffen machen. Nach einem Blick auf den Himmel stellte er fest, daß er am besten der noch tief am Himmel stehenden morgendlichen Sonne folgen sollte. So würde er nicht im Kreise gehen und müßte früher oder später irgendwohin gelangen. Er hoffte allerdings inständig, daß dies eher früher, als später der Fall sein werde.

Nachdem er fast eine Stunde lang durch den Wald marschiert war, machte er erschöpft halt. Er war nicht besonders sportlich und als ein rechter Stubenhocker hatte er unnötige körperliche Anstrengung stets vermieden. So war es nicht verwunderlich, daß er schon nach so kurzer Zeit schlapp machte, wie er zu seinem größten Bedauern feststellen mußte.

»Immerhin werde ich nicht so schnell verhungern«, dachte er und klopfte sich auf seinen etwas zu gut gepolsterten Bauch.

Gegen Mittag wurde es immer schwieriger, den Stand der Sonne durch das Geäst auszumachen und so wollte es sich Peter gerade auf einem mächtigen umgestürzten Baumstamm bequem machen, als er in der Ferne zwischen den Stämmen so etwas wie einen Pfad auszumachen schien. Im Nu war er von frischem Mute erfüllt. Er sprang auf und wenig später stand er auch schon auf einem schmalen Weg, den man allerdings eher als einen Trampelpfad bezeichnen müßte.

Er folgte dem Pfad, der nach einigen hundert Metern langsam breiter wurde und schließlich zu einer größeren Lichtung führte, in deren Mitte vom kalten Licht eines grau verhangenen Himmels beschienen, sonderbar behauene Felsblöcke standen. Irgendwie erinnerte dies Peter an die Ruine eines vorzeitlichen Tempels, oder vielmehr an die gewaltigen steinernen Monumente der Kelten. In einem unregelmäßigen Sechseck angeordnet standen große ebenfalls sechseckige graue Monolithe, die unter einer Schicht von Moos und Flechten über und über mit geheimnisvollen, fremdartigen Bildern und Schriftzeichen bedeckt waren. Die Bilder stellten Tiere und Menschen dar, teilweise in kriegerischer Aufmachung. Womöglich zeugten sie von der Geschichte eines längst untergegangenen Reiches einer frühen Hochkultur. Im Zentrum des Sechsecks befanden sich die Überreste einer Art Gebäude: mannshohe Mauern, aus groben aufeinandergetürmten Steinblöcken. Ursprünglich mußte das kreisrunde Gebäude, das in seinem Grundriß eine vage Ähnlichkeit mit einem Mausoleum hatte, wohl überdacht gewesen sein; jetzt aber standen nur noch kümmerliche durchbrochene Mauerreste da. Auf dem Boden, schon halb versunken, lagen zahlreiche größere und kleinere Steinbrocken und Mauerreste.

Schon wollte sich Peter, von archäologischem Interesse gepackt, dem Heiligtum — so Peters Eindruck — nähern, als ihn ein Geräusch aus der Ferne aufhorchen ließ. Es klang wie das Wiehern eines Pferdes. Endlich bin ich gerettet, dachte Peter, als er sogleich die Schritte eines sich nähernden Pferdes vernahm. Er wollte bereits dem unbekannten Reiter entgegen laufen, aber ein unbestimmtes Gefühl hielt ihn noch einen Augenblick zurück. Statt dessen versteckte er sich hinter einem der Monolithen und beobachtete die sich rasch nähernde, zwischen den Bäumen nur undeutlich auszumachende Gestalt.

Beim weiteren Herannahen des Unbekannten gewahrte er, daß Pferd und Reiter irgendwie seltsam und befremdlich aussahen. Vielleicht lag es auch an der fremdartigen Kleidung und dem prächtigen Zaumzeug, das in der Sonne silbern glänzte und aussah, wie das von einem Zirkuspferd.

Mittlerweile hatte sich der Reiter auf etwa fünfzig Schritte genähert und Peter erkannte daß es sich bei ihm um ein Mädchen in männlicher Kleidung handelte, welches einen prächtigen braunen Hengst ritt. Seiner Kleidung und Aufmachung nach mußte es wohl von vornehmer Herkunft sein. Bei den Steinquadern angelangt, hielt es das Pferd an und glitt geschmeidig herab. Verstohlen blickte es sich um und betrat forschen Schrittes das Innere der Ruine. Peter, der es nun nicht mehr sehen konnte, schlich sich, durch das sonderbare Gebaren des fremden Mädchens neugierig geworden, näher an den Rundbau im Inneren des Monolithenkreises heran. Wer mochte dies Mädchen sein, das da so wunderlich gekleidet allein auf einem Zirkuspferd durch den Wald ritt, bloß um ein paar halb verfallene Mauerreste zu besichtigen? Erwartete es etwa noch jemanden hier? Und warum tat es so verstohlen? Fragen über Fragen, auf die Peter gerne eine Antwort gehabt hätte. Vorsichtig lugte er also durch ein Loch in der Wand ins Innere des Gemäuers. Dort stellte er mit Erstaunen fest, wie das Mädchen vor einem würfelförmigen, moosbewachsenen Felsblock von etwa einem Meter Kantenlänge, eine Art Altar (?), stand. Das Wunderlichste aber war, daß in der Mitte des Blockes ein großes, reich mit Edelsteinen besetztes Schwert steckte, welches aber keineswegs —wie man etwa annehmen mochte — alt und verrostet war, sondern im Gegenteil von einem hellen bläulichen Glanze erstrahlte. Der Griff war mit Gold unterlegt und mit dunkelblauen Steinen besetzt; den Abschluß bildete ein ovaler blutroter Rubin, der im Knauf eingelassen war. Es sah so prächtig und glänzend aus, als wäre es nagelneu. Trotzdem schien es bereits seit langer Zeit zur Hälfte in jenem Steinblock zu stecken. Peter versuchte sich angestrengt daran zu erinnern, wo er so etwas schon einmal gehört oder gesehen hatte. Es schien ihm nämlich, als kenne er eine alte Sage, die von einem solchen Schwerte berichtete. Doch im Augenblick konnte er sich beim besten Willen der Geschichte nicht entsinnen.

Inzwischen hatte das Mädchen — es schien edler Herkunft zu sein, denn es trug einen kleinen Degen oder ein Rapier (Peter kannte sich da nicht so genau aus.) in einer silbernen Scheide am Gürtel — ein zusammengefaltetes Papier zum Vorschein gebracht, welches es, nachdem es sich nochmals umgeschaut hatte, vorsichtig entfaltete. Es stellte sich aufrecht vor den Block und begann mit fester heller Stimme zu sprechen:

 »O Arunbar! mächtiger Beschützer der Aufrechten, vollende das Werk, das du begonnen. Hilf, die Feinde zu überwinden. Gib das Schwert von Brunnar dem Starken frei. Oregon Hubero Tal Alel Iabèr. Kommt herbei, all' ihr Gehilfen des mächtigen Thaël, verleiht mir die Kraft, zu vollenden, was einst begonnen ward. Laßt mich die Weissagung erfüllen! Felsen wandle dich!!« Mit diesen Worten ergriff es das Schwert und riß mit aller Kraft an dem Griffe. Der Fels gab ein Knirschen von sich, aber das Schwert rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. Peter, der hinter seiner Deckung, diesem sonderbaren Treiben zuerst mit Befremden, dann mit Belustigung zugesehen hatte, konnte sich nun nicht mehr beherrschen. Kichernd und lauthals lachend trat er in das Rund des Heiligtums ein und rief:

»Nein so was! Glaubst du denn ernsthaft, das Ding da mit 'n paar komischen Zaubersprüchen aus dem Stein ziehen zu können?«

Das Mädchen, das durch die Wucht seiner eigenen Kraft zu Boden geworfen worden war, fuhr zusammen. In Blitzesschnelle war es aufgesprungen und starrte den unwillkommenen Zuschauer mit schreckgeweiteten Augen an. Dann faßte es sich schnell und sprach mit unverhohlener Feindseligkeit in der Stimme: »Wer hat dich geschickt, elender Spion?« Seine braunen Augen sprühten förmlich vor Erregung.

»Sprich, oder du hast dein Leben verwirkt!« Mit diesen Worten riß es seinen Degen aus der Scheide und trat raschen Schrittes auf Peter zu. Diesem war inzwischen das Lachen vergangen. Erschrocken wich er einige Schritte zurück. »Ich fürchte, hier muß ein Mißverständnis vorliegen. Ich bin kein Spion. Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte er und warf einen besorgten Blick auf die zitternde Degenspitze, die eindeutig auf seine Brust gerichtet war. »Ich bin nicht bewaffnet.«

»Um so besser«, meinte das Mädchen grimmig, »dann habe ich weniger Schwierigkeiten mit dir!« Es hob die Spitze seines Degens um ein einige Zentimeter, bereit zuzustoßen.

»Du bist ja verrückt! Damit kann man jemanden umbringen«, stotterte Peter, der bei der leichten Berührung mit der stählernen Spitze die Erfahrung machen mußte, daß es sich keineswegs um ein Spielzeug handelte. Er trat rasch um den Steinblock herum, so daß dieser zwischen die beiden zu stehen kam. Das Mädchen kam drohend einige Schritte näher. Voll Schrecken griff Peter, in seiner Not nach einem Mittel zur Gegenwehr suchend, nach dem Griff des Schwertes im Felsen. Er packte ihn feste mit beiden Händen und zog mit aller Kraft daran. Der Felsblock gab ein grauenvolles Knirschen von sich und mit einem scharfen Knall zersprang er in Tausende kleiner Splitter. Das Schwert glitt mit unglaublicher Leichtigkeit heraus, so daß Peter rücklings zu Boden purzelte. Er fühlte einen heißen Schmerz durch seine Hände fahren, der ihn aufschreien ließ. Beim Aufpralle auf den Erdboden schlug er mit dem Hinterkopf hart auf einen Kieselstein auf. Für einen Augenblick sah er bunte Sterne, dann schwanden ihm die Sinne. In den Händen hielt er noch immer fest das Schwert umklammert; das Schwert von Brunnar dem Starken, welches seit über vierhundert Jahren im Felsentempel von Arunbar geruht hatte.

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