Schloß
Ein
lautes Brausen erfüllte die Lüfte und überall tanzten bunte Lichter einen
tollen Reigen. Peter fühlte sich leicht und frei. Er schien zwischen den bunten
Lichten zu schweben. Wunderliche Bilder tauchten auf und vergingen wieder. Es
war ein seltsames Schauspiel von dem er sich wie berauscht fühlte. Wie lange
dieser Zustand anhielt, konnte er nicht sagen. Nach einer Ewigkeit schließlich
verschwanden die Bilder. Das Brausen wurde schwächer und die Lichter
verloschen. Peter öffnete die Augen und schloß sie sogleich wieder geblendet.
Die Helligkeit schmerzte in den Augen. Er spürte einen dumpfen Schmerz im
Hinterkopf und in seinem Kopfe drehte sich alles wie in einem Karussell.
»Oh,
seht! Er ist aufgewacht«, rief eine Stimme. Vorsichtig öffnete Peter die Augen
ein zweites Mal und langsam gewöhnten sie sich an die Helligkeit. Erst sah er
alles nur verschwommen und unscharf, bald aber konnte er feste Konturen
ausmachen. Er gewahrte über sich einen Betthimmel und ein freundliches Gesicht,
das ihn besorgt anschaute. Es gehörte jenem Mädchen mit wundervollen großen
braunen Augen, edlen ebenmäßigen Zügen und langem leicht gewelltem, braunem
Haar, das ihm bis weit über die Schultern herabfiel.
»Wie
geht es dir?« fragte es besorgt. »Tut es noch sehr weh?« wollte es wissen.
»Nein,
nein, es geht schon«, krächzte er mit rauher Stimme. Langsam hatte er seine Kräfte
wiedergewonnen. Vorsichtig setzte er sich auf. Er hatte in einem riesigen Bette
gelegen, das mit weißen glänzenden Tüchern und seidenen Laken bezogen war.
Das Mädchen, das zu ihm gesprochen hatte, saß auf der Bettkante und lächelte
ihn an. Peter wußte kaum wie ihm geschah, er erinnerte sich noch dunkel daran,
wie er gestürzt war, im Wald bei der Ruine, und nun wachte er in einem
wunderbar weichen Bette auf und vor ihm saß das lieblichste Mädchen, das er
jemals gesehen hatte und lächelte ihn freundlich an.
Das
Mädchen reichte ihm einen silbernen Becher, der mit einer kühlen, würzigen Flüssigkeit
gefüllt war. Durstig trank er in vollen Zügen daraus. Er fühlte dankbar den
erquickenden Trunk die trockene Kehle hinunterrinnen.
»Vielen
Dank«, sagte er und machte Anstalten, sich zu erheben.
»Oh!
Ich bin ja völlig nackt!« rief er erstaunt. »Wer hat mich ausgezogen?«
»Ich«,
sagte das Mädchen. »Du warst doch ohnmächtig und irgendwie mußte ich dich
ins Bett legen. Du hast sehr lange geschlafen.« Peter spürte, daß er bis zu
den Haarwurzeln errötete. In der Tat war er völlig nackt, bis auf eine goldene
Kette, die er um den Hals trug. Daran hing eine schmaler flacher Ring von dem
drei Blitze in die Mitte führten; dort hielten sie einen runden farblosen,
durchsichtigen Stein. Das Ganze war recht schwer und mußte wohl aus Gold
bestehen. Auf dem Ring waren beidseitig fremdartige Schriftzeichen eingraviert.
Er sah etwa so aus:
[…]
Der
Anhänger hatte etwa die Größe von zweieinhalb Zoll im Durchmesser.
»Nanu,
was ist denn das?« rief er erstaunt.
»Ich
weiß nicht. Du hattest es an. Eigentlich müßtest du ja selbst wissen, was es
damit auf sich hat.«
»Ich
heiße Peter und wer bist du? Ich denke, es ist endlich an der Zeit, uns
einander vorzustellen, wenn ich auch glaube, daß wir uns schon eine Weile
kennen.«
»Ich
bin Prinzessin Alissandra Thaïda. Mein Vater ist der mächtige König von
Arkanien. Ich bin seine einzige Tochter und die Schwester des Thronfolgers, des
Prinzen Armin II.«
»Nun,
mit solch erlauchter Verwandtschaft kann ich nicht aufwarten«, meinte Peter
beeindruckt. »Ich glaube, es geht mir soweit wieder gut, daß ich aufstehen
kann. Wo sind meine Kleider, Lisa — es macht dir hoffentlich nichts aus, wenn
ich dich so nenne, aber es ist kürzer und geht leichter von der Zunge?«
»Von
mir aus. Deine Kleider, die haben wir verbrannt. Sie waren ganz schmutzig und
kaputt. Und außerdem sahen sie recht sonderbar aus; das hätte ohnehin nur
Aufsehen erregt.«
»Was?!
Verbrannt! Und was soll ich denn jetzt anziehen? Ich kann ja wohl kaum nackend
herumlaufen«, rief er empört.
»Nun«,
meinte Alissandra lächelnd, »ich hätte dir gern einige Sachen von meinem
Bruder geliehen. Er ist zur Zeit unterwegs auf einer Reise im Norden des Landes
und würde sie kaum vermissen. Aber ich fürchte, er mag wohl — äh — …«
»Ist
was?«
»Nun,
ehm — er dürfte wohl einiges schlanker sein«, meinte Alissandra vorsichtig.
»Oh,
soll das etwa heißen, ich sei dick?« empörte sich Peter und warf einen
vorsichtigen Blick auf seinen Bauch unter der Bettdecke.
»Nein,
nein, ich meinte nur…«
»Ach
lassen wir das lieber« Peter wurde verlegen und wollte lieber das Thema
wechseln: »Aber was soll ich denn jetzt anziehen?«
»Wenn
du mich hättest ausreden lassen, hätte ich dir gesagt, daß ich dafür gesorgt
habe, daß du angemessene Kleidung erhältst. Ich habe dies hier für dich
anfertigen lassen. Du findest alles in jenem Bündel, dort drüben auf dem
Sessel«, sagte sie und deutete in eine Ecke des Raumes.
»Worauf
wartest du denn noch«, fragte sie erstaunt, als sie sah, daß Peter nicht die
geringste Anstalt machte, sich zu erheben und anzuziehen.
»Tja,
ich… also, wenn du vielleicht die Freundlichkeit hättest, für einen
Augenblick hinauszugehen« stammelte er verlegen.
»Ach
jetzt stell' dich nicht so an. Ich hab' vorhin ohnedies schon alles gesehen, was
es da zu sehen gibt.«
»Ja,
aber da war ich auch ohnmächtig. Und überhaupt, ich hätte nie gedacht, daß
eine Prinzessin eine derartige Situation gleich so schamlos ausnützen würde.«
Peter hatte langsam eine dunkelrote bis violette Gesichtsfarbe angenommen — so
schien es ihm zumindest.
»Also
jetzt mach' aber einen Punkt!« rief Alissandra empört. »Also schön, wenn es
dich beruhigt, dann gehe ich uns jetzt etwas zum Essen holen. Nachher mußt du
mir dann aber alles über dich erzählen.« Sprach's und verschwand durch eine
kleine Tür am anderen Ende des Zimmers, die so geschickt in die hölzerne
Wandverkleidung eingelassen war, daß Peter sie erst gar nicht bemerkt hatte.
Kaum
war Alissandra verschwunden, schwang sich Peter aus dem Bette — und hielt
gleich darauf schmerzhaft inne, denn sein Kopf vertrug noch keine allzu heftigen
Bewegungen. Er nahm das Bündel von dem Sessel und öffnete es. Darin befanden
sich einige sehr ungewöhnlich aussehende Kleidungsstücke, die ihn entfernt an
die Mode vergangener Jahrhunderte erinnerten. Trotz ihres merkwürdigen
Aussehens waren die Kleider erstaunlich bequem. Nachdem er sich — nicht ohne
einige Mühe — angezogen hatte, machte er sich auf die Suche nach einem
Spiegel, denn er war zu neugierig, wie er darin wohl aussehen würde.
Er
trug dunkelblaue eng anliegende Hosen aus einem dünnen, elastisch gewobenen
Stoff, ein sehr weit geschnittenes, faltenreiches Hemd ohne Kragen, darüber ein
Wams aus königsblauem, mit Goldborten besticktem Sammetstoff und einen weichen
Hut mit einer langen Feder darauf; an den Füßen trug er halbhohe Stiefel aus
weichem Wildleder.
Nach
einigem Suchen fand er schließlich einen kleinen Handspiegel auf einer Art
Frisierkommode neben einer Waschschüssel und einigen anderen Toilettenartikeln.
Neugierig blickte er in den Spiegel und stellte zufrieden fest, daß ihm diese
etwas sonderbare Mode doch recht gut stand. Grinsend ließ er den Spiegel sinken
und setzte sich auf einen mit rotem Sammetstoff gepolsterten Stuhl. Er blickte
sich in dem hellen und freundlich eingerichteten Raume um. In der Mitte stand
ein großes Bett mit einem Baldachin aus weißer Seide, mächtigen Bettpfosten
aus massiver Eiche. Davor stand eine große Truhe, daneben ein kleines Tischlein
und ein Sessel nach römischer Art. In einer Ecke befand sich ein weiterer
Sessel, daneben die Frisierkommode, über welcher ein großer bunt bestickter
Gobelin hing, der eine wilde Jagd darstellte. Auf der gegenüberliegenden Seite
des Raumes war die Wand mit rötlichem Holze getäfelt, wo sich auch die erwähnte
unsichtbare Tür befand. Die eigentliche Eingangstür, aus massiven Planken
gezimmert, befand sich rechts neben dem Bett. Die gegenüberliegende Längsseite
wurde auf fast der ganzen Länge von einer Front hoher, in Blei gefaßter
Fenster eingenommen. Unter dem Fenster befand sich ein einfacher Tisch mit
einigen Schreibfedern, einem Tintenfaß und einigen dicken, in Leder gebundenen
Büchern darauf. Peter trat auf den Tisch zu und hob den massiven
Briefbeschwerer in Form eines liegenden Löwen auf, um sich die Bücher näher
zu betrachten. Seine Neugier wurde aber herb enttäuscht, denn es handelte sich
offenbar um Schulbücher, die sich mit Mathematik und Astrologie befaßten.
Einige davon waren in seiner sonderbaren Sprache geschrieben, aus der sich Peter
keinen Reim machen konnte. Gelangweilt spähte er aus dem Fenster. Er sah auf
einen riesigen Garten hinab, der aus breiten Alleen bestand und aus halbhohen
immergrünen Hecken, die in kunstfertiger Art beschnitten waren und allerhand
Tiere und geometrische Figuren darstellen. Die mit Kies bestreuten Wege wurden
von verschiedenen Standbildern geschmückt und von einladenden Sitzbänken gesäumt.
Weiter hinten konnte er einen großen Teich ausmachen, der aber jetzt im Winter
leer war.
»Hallo,
Peter! Da bin ich wieder«, rief eine helle Stimme, die ihn aus seinen
Betrachtungen riß. Es war Alissandra, die geräuschlos durch die getäfelte Tür
eingetreten war.
In
der einen Hand balancierte sie ein großes silbernes Tablett. Darauf befanden
sich ein knusprig gebratenes Hähnchen, eine Schale mit dampfenden Kartoffeln,
ein kleiner Laib Brot, sowie eine Karaffe roten Weines und zwei Becher.
»Es
tut mir leid, daß ich dir nichts besseres anbieten kann, aber im Augenblick war
es das einzige, was ich in der Küche finden konnte. Es ist schließlich auch
schon fast vier Uhr nachmittags.«
»Schleichst
du dich immer so an?« fragte Peter, der ob ihres plötzlichen Eintretens ein
wenig erschrocken war.
»Du
bist vielleicht schreckhaft«, sagte Alissandra lächelnd. »Greif ruhig tüchtig
zu. Ich bin nicht hungrig du kannst also alles haben.« Sie füllte die Becher
mit Wein. Peter, der erst jetzt merkte, wie hungrig er war, mußte sich das
nicht zweimal sagen lassen. Er brach einen Schenkel von dem Hähnchen ab und biß
herzhaft hinein. Wenig später bereits war das Fleisch bis auf den Knochen
abgenagt.
»Ah!
schmeckt das gut«, schmatzte er. Alissandra schien inzwischen wohl doch auch
Appetit bekommen zu haben, denn sie langte nun auch zu und so dauerte es nicht
lange, bis die beiden das ganze Hähnchen verspeist und den ganzen Wein
ausgetrunken hatten. Alles, was nach zehn Minuten noch übrig war, waren ein
Teller voll Hühnerknochen und ein paar Brotkrumen.
»So,
jetzt möchte ich aber zu gerne etwas von deinen Erlebnissen hören, wer du
bist, woher du kommst und was du draußen im Walde gemacht hat«, sagte
Alissandra, nachdem sie sich neben Peter auf das Bett gesetzt hatte.
»Tja,
da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Ich kann mich leider an nicht
viel mehr erinnern, als daß ich plötzlich mitten in jenem Walde aufgewacht bin
und…«
»Aufgewacht?
Aber wie kamst du überhaupt dahin?«
»Ich
weiß es nicht genau. Ich war im Wald bei mir zu Hause, ich meine da wo ich
herkomme. Ich ging, glaub' ich spazieren oder so, und dann… dann war da so ein
Licht. Ach, es ist alles so verschwommen. Ich muß dann irgendwie ohnmächtig
geworden sein. Als ich dann wieder zu mir kam, war ich auf jeden Fall dort im
Wald mit der Ruine, wo ich dann dir begegnet bin. Ich bin einen ganzen Tag lang
herumgewandert, ohne zu wissen, wo ich mich befand, oder wohin ich gehen sollte.
Es war bitterkalt. Eben noch hatten wir Frühling und plötzlich war ich mitten
in einem Winterwald. Gegen Abend bin ich dann endlich zu dieser Ruine mit den
Monolithen gekommen…«
»Den
was?«
»Mit
diesen großen sechskantigen Felssteinen.«
»Das
ist der Felsentempel von Arunbar. Er wird schon seit Hunderten von Jahren nicht
mehr benutzt.«
»Nun
ja, dort habe ich dann dich gesehen, wie du dich an dem Altar hast zu Schaffen
machen und den Rest kennst du ja. Ich fürchte, das war kein sehr aufschlußreicher
Bericht, aber an mehr kann ich mich augenblicklich wirklich nicht erinnern. Ich
weiß nur, daß da noch irgendwas ist, was mir aber einfach nicht in den Sinn
kommt. Eines aber weiß ich mit Bestimmtheit: ich bin nicht vor hier. Ich komme
aus einer völlig anderen Welt, aus einer anderen Zeit.«
»Das
klingt für mich alles sehr sonderbar. Aber glaubst du nicht, daß du dich
vielleicht nach einiger Zeit wieder an alles erinnern wirst?« fragte Alissandra
und sah ihn mit einem unergründlichen Blick an. Was sie jetzt wohl denken
mochte, fragte sich Peter.
»Ich
hoffe es, denn wenn nicht, bin ich für immer verloren. Ein Mensch ohne Gedächtnis,
ohne Heimat, ohne Freunde, verlassen und einsam irgendwo in einer fremden Welt«
rief er verzweifelt und vergrub das Gesicht in den Kissen. Die scheinbare
Ausweglosigkeit seiner Lage hatte ihn überwältigt.
»Es
tut mir leid«, sagte er verschämt, als er einige Augenblicke später seine
Fassung wiedergewonnen hatte, »daß ich mich so habe gehen lassen. Es ist sonst
nicht meine Art; schon gar nicht in Anwesenheit einer Dame.«
«Du
brauchst dich nicht vor mir zu schämen. Ich werde dir helfen, du kannst dich
auf mich verlassen, was immer geschehe.«
»Das
ist lieb von dir«, sagte Peter und wurde ein wenig rot. »Jetzt erzähle du mir
aber ein wenig von dir; vor allem aber, wo ich hier bin und was du gestern im
Wald draußen tatest.«
»Also«,
hub Alissandra an, »wie du bereits weißt, sind wir hier im Schlosse meines
Vaters in Arkanien. Arkanien liegt im nördlichen Teil dieses Erdteils — Arka.
Daneben gibt es noch andere Erdteile, heißt es, aber so genau weiß das niemand
— zumindest weiß ich es nicht. Im Süden, jenseits der großen Wälder liegt
die alte Stadt Carlan, dahinter erstreckt sich eine endlose Steppe, dann kommt
das Riesengebirge. Jenseits des Riesengebirges liegt das sagenumwobene ewig
sonnige Land des Südens, Kalinaan. Im Osten liegt das weite fruchtbare Land von
Gorgavin, an welches ein sumpfiges ödes Gebiet anschließt, das die Grenze von
Arkanien bildet. Wem es gelänge, die Sümpfe zu überwinden — was bislang
kaum einer geschafft hat — der gelangt in eine unheimliche Gegend von
feuerspeienden Bergen und Drachen und allerhand üblem Getier.«
»Drachen?«
fragte Peter erstaunt. »Gibt es so etwas hier wirklich oder sind das bloß Märchen?«
»Ich
selbst habe noch nie einen gesehen und habe, ehrlich gesagt, auch herzlich wenig
Lust, dorthin zu gehen um das festzustellen«, meinte Alissandra
schulterzuckend. »Im Norden erstrecken sich weitläufige Bergzüge, die von
dauerndem Eise überzogen sind. Es ist ein geheimnisvolles Land, um das sich
viele Legenden und Märchen ranken. Es gehört eigentlich nicht mehr zu
Arkanien. Dahinter soll sich ein zugefrorenes Meer erstrecken, das vor vielen
Tausend Jahren einmal warm und blau gewesen sein soll. Im Westen schließlich
liegt der älteste Teil Arkaniens, das sogenannte Alt—Arkanien, wo sich auch
die Hauptstadt des Reiches befindet, allerdings ist es dort nicht sehr gemütlich,
seit der jetzige Regent an der Macht ist. Desh…«
»Entschuldige,
daß ich dich unterbreche, aber sagtest du nicht, daß dein Vater der König von
Arkanien sei?«
»Ja,
eigentlich schon, aber… Weißt du, Arkanien ist nicht nur der Name des ganzen
Reiches, sondern auch dieses kleineren Königreiches, wo wir uns gerade
befinden. Aber laß mich erst einmal in der Erdkunde weiterfahren.« Alissandra
schien ein wenig verwirrt. Offenbar hatte Peter da eine Frage aufgebracht, die
ihr Unbehagen zu bereiten schien. Und wieder hatte er das Gefühl, daß sie ihm
nicht alles erzählte. Es mußte etwas besonderes mit diesem Regenten in der
Hauptstadt auf sich haben.
»Jenseits
der Hauptstadt liegt ein schönes grünes Land, das sanft gegen die See hin abfällt
und in einem langen Strand mit vielen kleinen Buchten endet. Die Bevölkerung
dort lebt hauptsächlich vom Fischfang und der Salzgewinnung, während im Norden
der Bergbau, im Osten der Anbau von Getreide und die Viehzucht vorherrschende
Ertragsquellen sind. Der Küste im Westen vorgelagert liegen noch drei größere
Inseln, die ebenfalls zum Arkanischen Reich gehören. Angeblich soll es dann
noch viel weiter im Westen jenseits des Meeres, dort, wo die Welt aufhört ein
weiterer Erdteil liegen der sogar noch viel größer sein soll, als Arkanien.
Aber das kann ich mir eigentlich weniger vorstellen. So, das wäre in etwa
alles, was es über die Erdkunde Arkaniens zu wissen gibt — allerdings denken
meine Lehrer etwas anders darüber, aber wen interessiert schon die Erdkunde.«
Peter
konnte während Alissandras Ausführungen kaum seinen Ohren trauen. Was war bloß
mit ihm geschehen, daß er in solch eine phantastische Welt verschlagen worden
war? Es hätte ihn nicht allzu verwundert, wenn er plötzlich Marsmenschen gegenüber
gestanden wäre, oder einige Jahrhunderte in die Vergangenheit oder in die
Zukunft versetzt worden wäre, was ihm aus der Lektüre etlicher
Science-fiction-Romane besten vertraut war. Aber so etwas… Wie dem auch sei,
er nahm sich vor, das Beste aus seiner Situation zu machen. Wenn es einen Weg
gab hierher zu gelangen, so mußte es auch möglich sein, wieder dorthin zurückzukehren,
woher er gekommen war.
»Das
klingt alles ganz ungemein interessant«, sagte er zu Alissandra, »und ich könnte
dir noch stundenlang zuhören, was es über Arkanien zu berichten gäbe, aber im
Augenblick wüßte ich doch gar zu gerne, was es mit dem Schwert im Felsentempel
von Aruwar auf sich hat.«
»Arunbar«,
korrigierte Alissandra lächelnd. »Also, der Felsentempel, von Arunbar gehört
zum Jagdforst meines Vaters. Früher in den alten Zeiten, noch bevor die neue
Hauptstadt gebaut war, regierten die Könige von Arkanien von diesen Schlosse,
aus das Land, oder besser gesagt von dem alten Schlosse aus, auf dessen
Grundfesten später das heutige Gebäude errichtet wurde.«
»Und
das Schwert?« fragte Peter.
»Das
Schwert, das du aus dem Altarfelsen des Tempels befreit hast, Zauberschwert,
welches für Brunnar den Starken, den ersten Kaiser Arkaniens geschmiedet wurde.
Aber das ist eine lange Geschichte, die ich dir ein andermal erzählen will.
Kurz
gesagt, es geht die Legende, daß derjenige, welcher das Schwert aus dem
Felsblock zu befreien vermag, sein Brunnars rechtmäßiger Nachfolger sein soll
und somit Kaiser von Arkanien zu werden bestimmt sei. Das Schwert werde ihm die
Macht verleihen, im Kampfe unbesiegbar zu sein und jeden Feind schlagen zu können
um dem ganzen Lande den lang ersehnten Frieden zu bescheren.«
»Warum
aber hat Brunnar das nicht vermocht?« unterbrach sie Peter.
»O!
Er hat sehr wohl. Aber er unter seinen Enkeln entstand Streit um die Nachfolge,
denn sie alle wollten sich zum Kaiser krönen lassen. Und so kam es dann, daß
ein heftiger Bürgerkrieg entstand, bis eines Tages das Schwert verschwunden
war. Niemand wußte, wer es weggenommen hatte, denn es ist unmöglich es wider
den Willen seines Besitzers an sich zu nehmen. Lange Zeit wurde im ganzen Lande
nach ihm geforscht, bis man es erst zwanzig Jahre später im Altar des
Felsentempels wiederfand. Doch bis heute — oder besser gesagt bis gestern —
war es niemandem gelungen, es aus dem Stein herauszuziehen.
Während
langer Zeit hat man geglaubt, nur ein direkter Nachkomme Brunnars des Starken,
sei im Stande, das Schwert zu befreien. Jedes Jahr fand eine feierliche
Zeremonie statt, bei welcher alle Prinzen des Königreiches das Recht hatten,
sich um die Nachfolge Brunnars zu bewerben. Aber noch keinem ist es gelungen,
das Schwert auch nur um einen Fingerbreit zu bewegen.
Letztes
Jahr durfte mein Bruder, Prinz Armin, es versuchen, mich aber, als ein Mädchen
hat man einfach übergangen«, fügte Alissandra nicht ohne ein wenig Bitterkeit
hinzu.
»Also
wolltest du es gestern heimlich auf eigene Faust probieren?« fragte Peter mit
einem Lächeln.
»Ja,
niemand durfte etwas davon erfahren, denn der Ort gilt als ein Heiligtum und es
ist jedem bei schwerster Strafe verboten, sich ihm unbefugt zu nähern.«
»Was
wäre denn geschehen, wenn man dich erwischt hätte?«
»Jeden
anderen hätte man kurzerhand einen Kopf kürzer gemacht —wenn du verstehst
was ich meine.« Sie machte eine entsprechende Handbewegung. »Mich, als des Königs
Tochter hätte man in die Verbannung geschickt. Du verstehst also, warum ich so
aufgeregt war, als du mich entdeckt hattest. Ich mußte nämlich befürchten, daß
du ein Spion warst, der mich im Auftrage einiger einflußreicher Feinde meines
Vaters bespitzeln sollte.«
»Hier
scheinen ja schöne Zustände zu herrschen; Spione und Halsabschneider…
Was
wird aber dein Vater, der König dazu sagen, wenn plötzlich ein Fremder
auftaucht, der das heilige Schwert von Brunnar einfach so mir-nichts-dir-nichts
aus dem Felsen gezogen hat?«
»Ich
fürchte, die ganze Sache wird einige unangenehme Fragen auftauchen lassen. Man
wird wissen wollen, wer du bist, was du hier willst, woher du kommst und vor
allem wie du es anstellen willst, das Land vom Tyrannen zu befreien. Und jener,
der Regent, wird alles daran setzen, dich aus dem Wege zu schaffen. Wenn es auch
nicht gerade ausschaut, als könnest ausgerechnet du
ihm gefährlich werden, so wird er doch kein Risiko eingehen und dich beiseite
schaffen zu lassen.«
»Also
hör' mal!« protestierte Peter. »So unfähig bin ich nun auch wieder nicht. Außerdem
soll ich doch jetzt mit dem Schwert in meiner Hand unverwundbar sein«, meinte
er mit siegessicherer Miene. Alissandra schüttelte den Kopf: »Nicht
unverwundbar, bestenfalls im Kampfe unbesiegbar — was ich mir allerdings beim
besten Willen nicht vorstellen kann — doch es gibt auch noch andere Mittel,
sich eines unbequemen Gegners zu entledigen.«
»Wir
werden ja sehen«, meinte Peter, dem inzwischen doch etwas mulmig zumute war und
daher lieber das Thema wechselte. »Wie werden wir es also deinem Vater schonend
beibringen?«
»Im
Augenblick überhaupt nicht, denn er und meine Mutter und der halbe Hofstaat
sind zur Zeit gar nicht hier im Schlosse, sondern weilen in der Hauptstadt—
auf Einladung des Regenten. Dieser feiert nämlich gerade seinen sechzigsten
Geburtstag und hat hierzu alle Könige und Fürsten des Reiches eingeladen.«
»Ich
denke, er sei nicht sonderlich beliebt«, wunderte sich Peter
»In
Wirklichkeit hassen ihn alle — die meisten wenigstens — aber in der
augenblicklichen Lage wäre es nicht günstig, ihn unnötig herauszufordern. Das
nennt man Diplomatie«, sagte Alissandra und konnte sich ein leicht überlegenes
Lächeln nicht verkneifen. Peter übersah es und erwiderte mit hochgezogenen
Augenbrauen: »Da hast du also die günstige Gelegenheit beim Schopf gepackt und
als die Luft rein war, dich zum Tempel begeben. Aber sag' mal, wie kamst du bloß
auf die Idee, daß es ausgerechnet dir gelingen könnte?« Alissandra richtete
sich ein wenig auf und verkündete stolz:
»Ich
bin der letzte Nachkomme Brunnars — abgesehen von meinem Bruder, aber der ist
ja ausgeschieden —, denn unser Geschlecht stammt in direkter Linie von den
ersten Königen Arkaniens ab. Und da ich ohnedies nicht an diese blöde
Prophezeiung glaube, nach der es nur ein männlicher Nachkomme Brunnars sein könne,
so habe ich mir gedacht, könnte auch ich die Probe aufs Exempel machen. Wenn
ich Erfolg gehabt hätte, dann hätte ohnehin niemand mehr etwas dagegen sagen können.«
»Jetzt
verstehe ich auch, warum du Jungenkleider trägst«, sagte Peter. »Du bist wohl
nicht gerne ein Mädchen?«
»Ich
laß' mich nur nicht gerne so behandeln, als wärt ihr Männer etwas Besseres.«
Peter lächelte still in sich hinein; diese Alissandra begann ihm immer besser
zu gefallen.
»Etwas
Anderes, was ich dich schon vor einer Weile fragen wollte«, hub er an, »ist,
warum du unser Essen selber aufgetragen hast. Ich meine, habt ihr denn keine
Diener hier im Schloß?« Alissandra lächelte entzückt und sprach: »O!
selbstverständlich, jede Menge. Aber außer mir weiß niemand (Das will ich
zumindest hoffen!), daß du hier im Schlosse bist. Deshalb müssen wir sehr
vorsichtig sein, daß dich niemand sieht.«
»Aber
warum…?« wunderte sich Peter.
»Na,
was glaubst du denn, was hier los wäre, wenn ich plötzlich mit einem fremden Jüngling,
der besinnungslos war und dazu noch in einem äußerst merkwürdigen Aufzuge,
hier angekommen wäre und dieser auch gleich noch das heilige Schwert Brunnars
in Händen hielte. Und das alles zu einer Zeit, da der König außer Hause ist
und niemand so richtig nach dem Rechten sieht?«
»Ja,
jetzt verstehe ich. Aber was soll nun werden? Du kannst mich nicht ewig hier
versteckt halten. Früher oder später wird man mich doch entdecken.«
»Hoffen
wir, daß dies erst später, als früher der Fall sein wird«, erwiderte sie
scherzhaft. »Aber mach dir darüber im Moment noch keine Gedanken. Uns wird
schon etwas Passendes einfallen. Auf alle Fälle darfst du dir nicht im
Geringsten anmerken lassen, daß du nicht einer von uns bist. Vor allem
verstecke dies da«, sagte sie und deutete auf das Medaillon, das an einer
goldenen Kette von Peters Hals hing. Sie betrachtete es nachdenklich, während
Peter es unter sein Hemd steckte. »Du weißt also noch immer nicht, was es
bedeuten könnte?«
»Vielleicht
ist es eine Art Glücksbringer und besitzt sogar irgendwelche geheimnisvollen
magischen Kräfte«, meinte er etwas spöttisch mit einem Schmunzeln, das
besagte, daß er nicht viel von all der Zauberei hielt. Alissandra warf ihm
einen vielsagenden Blick zu, sagte aber nichts und strich sich das Haar aus der
Stirn.
»Apropos,
wo hast du es denn hingetan, das Zauberschwert?« fragte er. Alissandra erhob
sich und streckte sich ein wenig nach dem langen Sitzen, wobei Peter zum
weiteren Male Gelegenheit hatte, ihre anmutige Gestalt zu bewundern. Sie nahm
einen Kerzenhalter von der Frisierkommode und zündete die Kerze an, wobei sie
sich eines — für Peters Begriffe recht umständlichen — Feuerzeuges
bediente, das sie aus ihrer Hosentasche hervorbrachte. Alsbald warf eine kleine
gelbliche Flamme unstete Schatten auf die weiß getünchten Wände. Sie schritt
zu der Wand mit der Täfelung und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Mittels irgend
einer geschickten Manipulation, die Peter aber nicht so genau mitbekam, da er
hinter ihr stand, öffnete sie die Holztäfertür, an der sich weder Riegel noch
Klinke befand. Die Tür führte in einen schmalen staubigen Gang, der offenbar
von niemandem außer ihr benutzt wurde.
Nachdem
sie eine Weile geradeaus durch die vom flackernden Kerzenschein nur ungenügend
erhellte Finsternis gegangen waren, bog der Gang plötzlich so scharf nach links
ab, daß Peter beinahe in die Wand gerannt wäre. Nach einigen weiteren
Schritten stieß Peter mit dem Fuß an eine Stufe und wäre fast zu Boden gestürzt,
konnte sich aber noch rechtzeitig an Alissandra festhalten, wobei er sie fast
mit umgerissen hätte.
»Entschuldige,
daß ich dich nicht gewarnt habe, aber ich benutze diesen Weg so oft, daß ich
schon gar nicht mehr auf meine Schritte achte», flüsterte sie. Peter brummte
etwas unverständliches und folgte ihr weiter.
Kurz
darauf stieß er wieder mit ihr zusammen, da sie unvermittelt vor einer massiven
hölzernen Tür angekommen waren. Auch diese besaß keine sichtbare Vorrichtung
zum Öffnen. Alissandra drückte auf eine bestimmte Stelle und aus der völlig
glatten Oberfläche sprang ein kleiner Riegel hervor, an welchem sie kräftig
zog. Ohne das mindeste Geräusch tat sich die schwere Tür auf und gab den Weg
in einen großen Raum frei.
»Wo
sind wir hier?« fragte Peter und spähte vorsichtig in die Dunkelheit, ob nicht
etwa dort drinnen irgend eine weitere Überraschung ihrer harrte. Aber
Alissandra trat geradewegs hinein und so folgte er ihr auf den Fersen.
»Wir
sind hier in meinen Gemächern. Hier ist es völlig sicher. Die Wände sind so
dick, daß man gefahrlos laut sprechen kann, ohne daß es draußen einer hört«,
sagte sie und machte sich daran, weitere Kerzen anzuzünden.
Das
Zimmer, in welchem sie sich befanden, glich jenem, in dem Peter aufgewacht war,
doch war es etwas größer als das andere und besser möbliert. In den Ecken
standen und lagen allerhand Gegenstände, was den Eindruck vermittelte, jemand
habe sich oberflächlich um ein wenig Ordnung bemüht.
Alissandra
kniete vor dem Bette nieder und kroch zur Hälfte darunter. Bevor Peter fragen
konnte, was sie da treibe, kam sie wieder völlig staubig zum Vorschein. In den
Händen hielt sie einen in eine Decke gehüllten länglichen Gegenstand, den sie
vorsichtig auf das Bett legte, wo er in dem weichen Federbette tief einsank. Sie
kniete vor dem Bett und schlug die braune Wolldecke zurück. Peter, der daneben
stand machte große Augen und hielt unwillkürlich den Atem an.
Vor ihnen lag im goldenen Scheine der Kerzen Thalidon, das heilige Schwert Brunnars des Starken und warf gleißende Lichterblitze an Decke und Wände.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 01. August 2002 04:16 |