XII. KAPITEL

Sieg

 

Es gab ein ekliges Geräusch, Blut spritzte über Peters Gesicht. Borkas röchelte und sank nach hinten ins Gras. In seiner Brust steckte ein langer gefiederter Pfeil. Langsam schlug Peter die Augen auf. Wie von ferne drang Geschrei an seine Ohren. Er richtete sich auf und sah sich um. Borkas lag regungslos da, das Wams von rotem Blute feucht. Er war offensichtlich tot. Peter erschauerte heftig. Hier war zum ersten Male ein Mensch vor seinen Augen gestorben, dazu noch auf eine so gewaltsame Weise. Und dabei war er es doch, der eigentlich tot im Gras liegen sollte.

Er spürte wie sich eine heftige Übelkeit bemerkbar machte, die er nur schwer unterdrücken konnte. Nur fort von hier! dachte er als er sich auf die Beine machte. Vom Dorf her kamen Leute. Einer trug einen langen Bogen. Es war Wilo. »Ist alles in Ordnung, Peter?« Peter konnte noch nicht sprechen. Er nickte nur und hielt sich zitternd an Wilo fest.

»Da kommen Reiter!« rief einer. »Wir müssen zurück ins Dorf, ehe die Schatten kommen«, rief Wilo. Peter hielt ihn zurück. »Nein, keine Schatten«, keuchte er. »Gut, dann gehen wir hier in Stellung, Männer!«

Die Bürgerwehr von Goldbrunn bildete einen weiten Halbkreis. Durch die Reihen der bewaffneten Männer kämpften sich zwei kleinere Gestalten vorwärts. Es waren die beiden Mädchen. Alissandra stürzte sich als erste auf Peter. Ihr dicht auf den Fersen folgt Tamina.

»Peter! Mein Peterchen! Geht es dir gut. Bist du verwundet?« Alissandra hatte ihre übliche vornehme Zurückhaltung im Umgange mit ihm völlig vergessen. Sie umarmte und drückte ihn. »Ja, ja, es geht mir gut. Mir ist nichts passiert. Aber was macht ihr beiden hier draußen? Habe ich euch nicht ausdrücklich… —«

»Ich habe alles vom Turmfenster aus beobachtet. Als ich sah, wie du vom Pferd stürztest, da konnte ich dich doch nicht einfach im Stich lassen.« Gute tapfere Alissandra. Peter konnte ihr einfach nicht böse sein. Ihr echt besorgter Blick aus den weiten braunen Augen ging ihm durch und durch. Nur mit Mühe konnte er den Blick von ihr abwenden. Am liebsten hätte er sie jetzt geküßt, allein ihm fehlte der Mut dazu.

»Tamina, was ist mit dir?«

»Aber du hast mir doch gesagt, daß ich auf Alissandra aufpassen soll. Da mußte ich mitgehen.«

»Was hast du ihr gesagt?«

»Also — ich — wir sollten uns zunächst um die Kerle dort drüben kümmern.« Peter deutete auf die Abteilung berittener Soldaten, die sich nach dem Fall ihres Hauptmanns ein Stück zurückgezogen hatten. Sie bildeten einen Kreis und schienen sich zu beraten, denn mehrmals trug der Wind laute Stimmen herüber. Augenscheinlich wählten sie gerade einen neuen Anführer. Sie schienen sich aber nicht leicht einig zu werden.

»Wir müssen uns eine Strategie überlegen, so lange die da noch streiten. Die Schatten sind wir vorerst los, aber… —«

»Was meinst du damit, die Schatten seien wir los?« unterbrach ihn Wilo voller Staunen. Hastig und mit knappen Sätzen berichtete Peter sein Abenteuer; allerdings nicht ohne die Tatsachen ein klein wenig auszuschmücken, so daß das ungläubige Staunen auf den Gesichtern der Umstehenden nicht ganz von ungefähr kam.

»Als erstes muß ich mein Schwert und den Zauberstab wiederfinden. Vor allem letzteren, bevor die drüben merken, was Sache ist.«

In der Tat lagen die genannten Gegenstände bei den Überresten des geborstenen Schattenrosses, ziemlich genau in der Mitte zwischen den feindlichen Heeren.

»Zu Pferde sind sie schneller als wir«, gab Alissandra zu bedenken.

»Vor allem sind sie uns an Waffen weit überlegen, trotz ihrer Minderzahl«, sagte Wilo. Das Kräfteverhältnis zwischen den Soldaten des Regenten, alles erfahrene und gut ausgerüstete Ritter hoch zu Roß, und Peters ,Truppen’, behelfsmäßig bewaffneten Bauern und Dorfleuten zu Fuß, war in der Tat sehr zu Ungunsten der ,königlichen arkanischen Armee’.

»Ich schlage vor, wir versuchen sie mit Waffenstillstandsunterhandlungen eine Weile hinzuhalten«, schlug Peter vor. »wir schicken zwei harmlos wirkende Unterhändler vor, bis zu den Überresten…«

»Armer Anatol!« sagte Tamina traurig.

»Herjeh! Den habe ich ganz vergessen; der steht noch immer im Wald«, fiel es Peter ein. »Keine Sorge, Tamina! Deinem Anatol geht es gut. Das war nur ein mechanisches Pferd von den Schatten.«

»Dann will ich versuchen, die Dinge zurückzuholen«, sagte Tamina entschlossen. »Mich halten die bestimmt für harmlos genug.« Peter nickte nur und lief davon. Hatte er ihr überhaupt zugehört? Anscheinend nicht, sonst hätte er vehement dagegen protestiert, daß sich die Kleine in Gefahr begab.

Peter war unterwegs, um in den eigenen Reihen den Bürgermeister ausfindig zu machen. Bald darauf kam er mit dem Gesuchten zurück. Ein Junge brachte Mondenglanz herbei und mehrere heftig rußende Pechfackeln. In dem flackernden Schein der Fackeln wurde ein improvisierter Kriegsrat abgehalten. Peter ergriff das Wort:

»Wilo! du ziehst dich mit deinen Männern etwas weiter zurück, so daß ihr euch notfalls in den Schutz des Dorfes zurückziehen könnt, falls mein Plan schief läuft.«

»Und was hast du vor?«

»Ich, der Bürgermeister und…« — »Ich!« rief Tamina dazwischen. — »Meinetwegen du auch. Und du darfst auch mit«, sagte Peter zu dem Jungen, der sein Pferd hielt. Der Knabe war überglücklich und stolz.

»Deine Aufgabe ist es, mit den Fackeln vorauszugehen, damit wir etwas Licht haben. Ich werde auf Mondenglanz reiten, Tamina mit der Flagge und der Bürgermeister als Vertreter des Dorfes gehen auf beiden Seiten zu Fuß. Wir bieten den Kerlen unsere Verhandlungsbereitschaft an. Es wird so lange verhandelt, bis wir etwas gefunden haben. Gelingt es uns, den schwarzen Zauberstab wieder in unseren Besitz zu bringen, dann haben wir die Schatten auf unserer Seite, und das Spiel ist gewonnen. Wenn es uns vor dem Morgengrauen nicht gelingt, dann steht uns ein ungleicher Kampf bevor. Ihr könnt euch denken, daß wir gegen diese Ritter dort alt aussehen werden. Und sollten sie etwa den Zauberstab finden, dann sind wir verloren. Haltet also die Augen auf. In der Zwischenzeit wird uns dieser Ersatz hoffentlich gute Dienste leisten.« Peter zog einen Stab hervor. Es handelte sich um ein Stück schwarz angesengtes Holz und hatte die Größe und Form des Zauberstabes.

»Im Dunkeln könnte die Täuschung gelingen — hoffentlich«, fügte er etwas leiser hinzu.

Der kleine Zug setzte sich wie besprochen in Bewegung. Als sie die halbe Streckte bis zur Mitte zwischen den beiden Streitmächten zurückgelegt hatten, rief Peter die Soldaten an. Er verlangte ihren Anführer zu sprechen. Daraufhin löste sich ein Reiter aus dem Verband und kam einige Schritte näher.

»Wir sind unbewaffnet und kommen, um mit Euch zu verhandeln«, rief Peter laut.

»Ihr wollt euch also ergeben? Das ist auch besser so. Vielleicht verschonen wir euer Dorf«, rief der Ritter hochmütig.

»Nicht so lange wir dies hier haben«, erwiderte Peter und zückte die Zauberstab-Attrappe. Unter den Rittern entstand Unruhe. Der Anführer zog sich zurück. Daraufhin kehrte er an der Spitze von zwei weiteren Rittern zurück. »In Ordnung! Wir werden mit euch sprechen. Ihr habt freies Geleit.« Die beiden Gruppen kamen langsam auf einander zu. Peters Trupp hatte inzwischen die Stelle seines Sturzes erreicht. »Haltet euch mehr nach links«, raunte er den andern zu.

»Ich glaube dort ist etwas«, sagte der Junge und blieb stehen. Es ist ein schwarzes glänzendes Stück Stein oder Eisen.«

»Nicht anfassen! Er darf dem Licht der Fackeln nicht zu nahe kommen geh weiter! — Herr Bürgermeister! Gehen Sie dorthin, wo eben der Junge stand und heben Sie unauffällig den Zauberstab auf.« Peter lenkte sein Pferd ein wenig zur Seite, so daß der Bürgermeister seinen Platz im Troß einnahm. An der betreffenden Stelle angelangt, ließ sich der Bürgermeister zu Boden fallen, als sei er gestrauchelt. Peter sprang herab und half ihm auf die Beine. Dabei nahm er den Zauberstab an sich. Er fühlte einen Augenblick lang die kalte Glätte des unbekannten Materials in der Hand, bevor er ihn in seinen Ärmel gleiten ließ. Er gebot dem Jungen, die Fackeln in die erde zu stecken. Jetzt mußte er sich nur noch eine Strategie für einen geschickten Rückzug einfallen lassen.

»He! Was ist bei euch los?« rief der Anführer der Ritter herüber.

»Alles in Ordnung, der Herr Bürgermeister ist gestrauchelt und kann nicht weiter gehen«, rief Peter.

»Augenblick! Was ist mit eurem Fahnenträger? Da stimmt doch was nicht.« Peter sah sich um. Wo war Tamina?

»Peter! Schau! ich hab dein Schwert gefunden«, rief Tamina aus der Finsternis, einige Meter entfernt. »Mach daß du herkommst!« befahl Peter. Aber es war bereits zu spät. Die drei Ritter gaben ihren Pferden die Sporen und preschten im schnellen Galopp herbei. Peter zögerte einen Augenblick lang unentschlossen; vielleicht zu lange, denn die Ritter trennten sich. Zwei stürmten auf Peters Gruppe zu, einer schnitt ihnen den Weg zu Tamina ab.

»Halt! Kommt nicht näher!« rief Peter und zog den Zauberstab hervor — diesmal war es der echte. Er schwang ihn drohend in der Luft. »Herbei, ihr Schatten!« schrie er Die beiden Ritter zögerten, hielten schließlich an und sahen sich nach allen Seiten um. Der dritte, ihr Anführer, hatte Tamina erreicht.

»Tamina! Benutze das Zauberschwert!« rief Alissandra, die so schnell sie konnte herbei lief.

»Bist du verrückt?« schrie Peter sie an. »Das Ding funktioniert doch nur bei mir. Hast du das vergessen. Der Kerl wird ihr etwas antun.«

Tamina hatte Todesangst. Sie riß das große Schwert aus der Scheide. Sie fand daß es sich irgendwie sonderbar anfühlte, aber es zeigte keine besondere Zauberkraft oder ungewöhnliche Wirkung — im Gegenteil. Für das Mädchen war es viel zu lang und schwer. Sie mußte das Schwert mit beiden Händen festhalten.

Der Ritter trieb sein Pferd um sie herum in immer enger werdenden Kreisen. Sie mußte sich im Kreise mitdrehen, bis ihr schwindelig wurde. Verzweifelt holte sie mit dem Schwert aus zum Schlag aus. Die Wucht ihres Hiebes und das Gewicht des Schwertes ließen sie ihr Ziel weit verfehlen. Statt dessen traf sie — was natürlich nicht in ihrer Absicht lag — das schwarze Roß des Ritters.

Da geschah etwas völlig unerwartetes: Es gab einen lauten Knall und der Gaul flog in Stücke, wie von einer Granate getroffen. Mehr noch, die auseinanderfliegenden Fetzen lösten sich noch im Fluge auf und zurück blieb allein eine dichte schwarze Qualmwolke. Der Ritter aber, der eben noch fest im Sattel saß, schien einen Augenblick lang in der Luft zu schweben, dann stürzte er schwer zu Boden. Es war schwer zu sagen, welcher von beiden mehr erschrocken war, denn beide blieben besinnungslos auf der Erde liegen.

Peter, der Alissandras Degen an sich genommen hatte, um Taminen zur Hülfe zu eilen, traf als erster am Schauplatz ein. Behutsam hob er das bewußtlose Mädchen auf und trug es zum Licht. Noch in Peters Armen schlug Tamina die Augen auf und stieß einen Schrei aus. Peter setzte sie vorsichtig ab und sprach, ihr sanft über das Haar streichelnd, einige beruhigende Worte zu.

Auf der Wiese herrschte mittlerweile ein ziemliches Durcheinander. Von der einen Seite strömte Wilo mit den Dorfleuten herbei. In der anderen Richtung flohen die beiden Ritter Hals über Kopf zu ihren Kameraden. Von den Hügeln ergossen sich die Heerscharen der Schatten, die Peter herbeigerufen hatte ins Tal. Sie setzten das ganze Tal in Schrecken. Die Soldaten befanden sich plötzlich zwischen den herannahenden Schatten und Wilos Truppen in der Zwickmühle. In ihrer Not flohen sie, jegliche Ordnung auflösend, ein jeder sein eigenes Heil suchend, in Richtung des Dorfes, welchem sie auf beiden Seiten auswichen, davon.

Peter hatte alle Hände voll damit zu tun, einerseits die Schatten aufzuhalten und andererseits seine eigenen Leute von einer panischen Flucht in den Wald abzuhalten. Die wenigen verbleibenden Stunden bis zum Morgen vergingen wie im Fluge. Den flüchtenden Soldaten wurden Späher hinterher geschickt, die schauen sollten, ob sie sich auch wirklich davon machten. Die Schatten hieß Peter im Tale lagern, wo sie sich bei Sonnenaufgang, wie er hoffte von selbst auflösen würden. Der Junge Wolfram wurde auf die Suche nach dem vergessenen Anatol geschickt. Das gute Tier fand sich glücklich und wohlbehalten in dem Waldstück wieder, wo Peter es Stunden zuvor abgestellt hatte. Wilo und eine Handvoll Reiter sollten den Wagen mit den geraubten Schätzen, den die Soldaten hinter dem Hügel abgestellt hatten, sicherstellen. Peter und Alissandra brachten die noch sehr verstörte aber über den glücklichen Ausgang ihres Abenteuers heilfrohe Tamina in das Dorf zurück. Dort gab es so viel zu richten und zu erzählen.

Im ganzen Dorfe herrschte eine unbeschreibliche Hochstimmung. Peter und seine Freunde wurden auf Händen getragen. Die Nachricht von dem großartigen Sieg über die Schatten und die Soldaten des Regenten ging von Mund zu Mund. Bereits in aller Frühe zogen Boten los, um die Nachricht in den umliegenden Ortschaften zu verbreiten. Das Zentrum inmitten dieses gewaltigen, fröhlichen Chaos bildete der Dorfplatz mit dem Rathaus. Während alles auf den Beinen war und trotz der durchwachten Nacht voller Energie und frischem Mute war, fand Alissandra Peter im Morgengrauen, nach einigem Suchen, friedlich auf einer Bank im Rathaus ausgestreckt schlafend.

»Mein Peterchen«, flüsterte sie leise. »Wie kannst du in einem solchen Augenblick schlafen?« Sie ließ ihren Blick über den Schlummernden gleiten. Peter lag mit angewinkelten Beinen seitlich auf der harten, schmalen Holzbank. Seinen Mantel hatte er zusammengerollt und als Kopfstütze verwandt. Alissandra nahm ihren Umhang ab und breitete ihn vorsichtig über dem Schlafenden aus. Sie kniete neben Peter und fuhr sanft durch sein zerzaustes Lockenhaar, welches er — wie sie bedauernd fand — viel zu kurz geschnitten trug.

Obgleich Peter sich äußerlich nur wenig verändert hatte — gewiß war er schlanker und kräftiger geworden — schien er nicht mehr der selbe ängstliche, weiche Knabe zu sein, der er bei ihrem ersten Zusammentreffen gewesen war. Sie beugte ihr Haupt über ihn, zauderte einige Sekunden lang, dann drückte sie ihm einen süßen Kuß auf die Wange. Ein leises Seufzen von Peters Lippen ließ sie aufschrecken. Ein roter Schiller flog über ihre Wangen. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, warf einen letzten Blick auf ihn und zog sachte die Tür ins Schloß.

Peter merkte von alledem nichts und schlief tief und fest bis weit in den Morgen hinein. So verpaßte er — zu seiner späteren nicht geringen Enttäuschung — ein sehenswertes Ereignis: das Verschwinden der Schatten.

Als im Osten der erste fahle Schimmer eines neuen Tages über den Wipfeln hervortrat, kam eine leichte Unruhe unter die im Tale versammelten Schattenkrieger. Mit jedem Grad Helligkeit die der Morgenhimmel annahm, schienen die Schattenwesen eine Spur fahler zu werden. Das tiefe glänzende Schwarz ihrer Leiber und Rüstungen wurde stumpfer, bekam allmählich die Farbe einer Bleistiftmine, ging langsam ins Grau über; ihre Umrisse schienen unschärfer zu werden, und endlich, als der erste rötliche Sonnenstrahl über die Wipfel hervorbrach, flirrten und waberten die Gestalten im Tale, wie heiße Luft über Sanddünen. Dann verschwammen sie zu durchsichtigen Schwaden und kurz darauf war der Talgrund in einen sich in der von Norden her wehenden sanften Morgenbriese verflüchtigenden Rauch erfüllt. Die Sonnenscheibe war noch nicht vollständig sichtbar, als von dem nächtlichen Spuk nichts mehr zu sehen war.

Die Tür zu Peters improvisierten Schlafzimmer flog auf und hereingestürmt kam Wilo, der Peter unsanft aus dem Schlaf riß. Wie üblich brauchte dieser eine ganze Weile, bis er die Augen offenhalten konnte und sich zurecht fand. Am frühen Morgen, besonders wenn er zu wenig geschlafen hatte war Peter ganz besonders verdrießlich, und jeder der ihn kannte, vermied es ihn in dieser Stimmung unnötig zu behelligen.

»Peter! Du wirst es nicht glauben, was für eine phantastische Beute wir gemacht haben. Das mußt du dir sofort anschauen kommen. Mann, steh auf und komm mit ‘naus!« Peter gab ein unartikuliertes Grunzen von sich und wälzte sich auf die andere Seite. Er haßte Leute, die bereits am frühen Morgen derart aufgestellt waren und von Energie nur so sprühten. Bei ihm bedurfte es einer größeren Menge kalten Wassers oder mehrerer Tassen eines starken Tees, damit sein Kreislauf den nötigen Schwung bekam; wobei er selber das letztgenannte Mittel dem ersteren vorzog.

Diesmal kam er aber rascher auf Touren als sonst; vielleicht wirkte die Aufregung der vergangenen Nacht noch nach.

»Wilo, alter Freund! Du bist es.« Er streckte Arme und Beine weit von sich, bis sich das vertraute wohlige Gefühl einstellte, dann sprang er auf die Füße und drückte den verdutzten Wilo an sich. »Alter Freund! du hast gestern mein Leben gerettet. Eine Sekunde später und mich hätte es zweimal gegeben.«

»Ist schon recht«, wehrte Wilo ab. »Aber komm jetzt mit«, sagte er und zog Peter mit sich hinaus.

Vor dem Rathaus stand, von einem Dutzend bewaffneter Männer bewacht, der schwere Wagen mit den Steuereinnahmen für den Regenten. Peter stieg auf die Nabe eines der dicken Scheibenräder und spähte in das Innere des Wagens. Dort waren Säcke und eisenbeschlagenen Kisten aufgestapelt. Peter beugte sich hinein und griff nach einem der kleinen Säcke, konnte ihn aber nicht herausziehen, so schwer war der Leinensack. Er mußte ganz hineinklettern. Der Sack, obgleich nicht größer als eine Melone, wog so schwer, daß er ihn nur mit beiden Händen greifen und heben konnte. Er reichte ihn an Wilo hinaus. Einen anderen, leichteren Beutel nahm Peter selbst mit sich. Sie trugen die Beutel, die sich anfühlten, wie mit Münzen gefüllt, ins Rathaus hinein. Auf dem großen Tisch im Ratssaal schnitt Peter vorsichtig die beiden Säcke, die aus schwerem, dreifachem Tuch genäht waren, auf. Blitzende Markstückgroße Goldmünzen ergossen sich über den Tisch, ein liebliches Geräusch erzeugend und einen Lichtschein verbreitend, der alle zutiefst bewegte. Aus dem anderen Beutel purzelten große mattglänzende Silbermünzen. Peter hielt den Atem an. Noch nie hatte er eine so große Menge des edlen Metalls auf einem Haufen gesehen, geschweige denn in Händen gehalten. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, die glatten schweren Münzen mit den Händen zu greifen, sie durch die Finger gleiten zu lassen und das Prasseln und Klingen zu hören, wenn sie aufeinanderstießen.

»Das müssen Millionen sein.« Peters Augen leuchteten in einem goldenen Glanze, wie man ihn von fündig gewordenen Goldsuchern kennt. »Und der Wagen ist randvoll davon. Wir sind reich!«

»Da schau her, Peter. Dies ist das Stadtwappen von Carlan«, sagte Wilo und breitete den leeren Goldsack auf der Tischplatte aus. »Wo das alles herkommen mag?« fragte Tamina.

»Bestimmt haben sie von Carlan her in Richtung der Hauptstadt jede Stadt und jedes Dorf leergeräumt«, meinte Alissandra.

»Wir brauchen Stunden um das alles zu zählen.«

»Vielleicht haben wir Glück und finden eine Liste oder Verzeichnis«, sagte Peter. »Ich geh mal nachschauen.«

Sie hatten Glück, denn in dem Wagen fand sich tatsächlich eine detaillierte Aufstellung aller Steuereinnahmen. Sie befand sich in einem Kasten, der mit einer Menge anderer Papiere angefüllt war. Unter anderem fand sich darin eine Art Hauptbuch, wo die Steuereinnahmen der gesamten Provinz Carlan nach Orten und Stadtteilen getrennt säuberlich festgehalten waren. Daneben fanden sie Aufzeichnungen über die Einnahmen aus Waren- und Wegezöllen, den allgemeinen Kopfsteuern und Sonderabgaben.

Im Allgemeinen werden die Steuern in Arkanien zwei Mal jährlich eingetrieben. In diesem Teil des Landes aber schien man eine Art von Doppel-Veranlagung zu pflegen. Die erklärte auch die ungewöhnlich fette Beute. Peter kam aus dem Staunen nicht heraus, als er die Zahlen las. »Das sind ja — ich wünschte, ich hätte einen Taschenrechner dabei.« Peter litt leider unter einer großen Schwäche im Kopfrechnen, was vielleicht mit der Grund war, warum er in der Schule von Anfang an mit der Mathematik auf Kriegsfuß gestanden war, und mehrere Male nur um Haaresbreite einer Rückversetzung entgangen war.

»Laßt mich das machen«, sagte Tamina und zog das Buch mit den Abrechnungen zu sich herüber. Peter betrachtete fasziniert, wie das Mädchen, seinen flachsblonden Schopf tief in das dicke Buch steckte, und mit dem Finger die Zahlenkolonnen entlang fuhr, mit den Lippen lautlose Worte formend. Während Tamina rechnete, drehte Peter die verschiedenen Münzen auf dem Tisch um. Auf den meisten der goldenen und silbernen Münzen war das Konterfei des Regenten Tiras aufgeprägt. »Heil unserem Regenten Tiras II.« las Peter und »Tiras II — oberster Regent — Beschützer und Mehrer des Reiches.« Auf der Rückseite war das Wappen des Regenten sowie die Jahreszahl der Prägung und der Wert der Münze zu sehen. Es gab Goldmünzen von ½ und einem Gulden, Doppelgulden und — sehr selten — Fünfergulden. Letztere waren alle viel älter und trugen das Bildnis von Tiras I., dem Vater des Regenten. Die Silbermünzen sahen im Wesentlichen gleich aus wie die goldenen. Sie verkörperten die Werte von ½, 1, 2, 5 und 25 Talern. Je hundert Taler galten einen Gulden. Daneben gab es noch eine Reihe kleinerer Kupferheller.

»Schau mal, ich habe einen alten Taler mit dem Bild des Regenten Patinor gefunden«, rief Alissandra erfreut. »Der ist über hundert Jahre alt und sehr selten. Patinor war ein guter Regent. Er war eigentlich der letzte der guten Regenten. Sein Sohn war ein Taugenichts. Nach ihm kam die Familie des Tiras an die Macht. Dessen Großvater ließ alle Gegner mundtot machen und hat die Armee verdreifacht. Der Vater hat seine Gegner getötet oder verbannt und mit fast allen Nachbarländern Kriege geführt, bis er das Reich an die äußersten Grenzen ausgedehnt hatte. Und Tiras selber ist darauf bedacht, das Reich zu erhalten und die Macht seines Hauses auch im Innern zu festigen. Er hat seine Gegner gnadenlos ausgerottet. Sein Sohn Tibor ist wahnsinnig. Man sagt, er habe hunderte Gefangene hinmetzeln lassen, bei der Eroberung der letzten freien Insel im Westmeer. Das war vor fast zehn Jahren.«

»Das scheint mir ja eine zehn Familie zu sein«, meinte Peter sarkastisch.

»Ich hab’s!« rief Tamina aufgeregt. Ihre Wangen und Ohren waren dunkelrot angelaufen und bildeten einen hübschen Kontrast zu ihren tiefblauen Augen und dem fal­ben Haar. »Es sind«, sagte sie und legte dabei eine Spannungspause ein, »einhundertneun­undsechzigtausensieb­enhundertund­drei Gulden, vierundachtzig Taler und dreieinhalb Groschen.« Alissandra griff nach Feder und Papier, um die Summe aufzuschreiben. Wilo pfiff leise durch die Zähne. Peters Staunen wurde noch größer.

»Tamina, in dir schlummern ungeahnte Fähigkeiten.«

»Im Rechnen war ich schon immer gut. Wenn man in einer Schankstube steht und sich die Zeche aller Saufstiebel merken muß, bekommt man Übung darin.«

»Ich schlage vor, wir lassen den Wagen entladen und das Zeug hier ins Ratszimmer schaffen. — Wilo, sorge du bitte für eine angemessene Wache. Und dann wäre es endlich an der zeit etwas zu essen.«

Dieser letzte Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und so fanden sie sich wenig später im Wirtshaus nebenan wieder, wo die Honoratioren der Gemeinde ein Morgenmahl vorbereitet haben, wie es in Arkanien schon seit langem von niemand mehr verspeist worden war. Im Allgemeinen wurde natürlich viel mehr gesprochen als gegessen. Ein jeder berichtete seine Erlebnisse des großen Sieges und seinen Beitrag zu der Heldentat. Die einzigen, die schwiegen, waren unsere vier Freunde. Nicht weil sie nichts zu erzählen hatten, — Peters Schilderung seiner Abenteuer mit den Schatten wurde von jedermann mit großer Spannung erwartet — sondern weil sie mit essen und Trinken so sehr beschäftigt waren, daß sie kaum ein Wort herausbrachten.

Endlich aber kam der von allen herbeigesehnte Augenblick, da Peter seinen Teller zurückschob, den Gürtel um ein Loch weiter machte und mit leiser Stimme zu sprechen anhub. Er war stets sehr befangen gewesen, wenn er vor fremden Menschen sprechen mußte; dabei spielte es keine Rolle, ob hundert oder nur zehn Zuhörer zugegen waren. Die ersten Sätze waren wie immer die schwierigsten, doch die Nähe seiner Freunde, deren aufmunternde Blicke und die Tatsache, daß alle interessiert, ja geradezu gebannt lauschten und ganz gewiß niemand auf den Gedanken käme, ihn auszulachen, stärkten sein Selbstvertrauen, und so gewann seine Stimme langsam an Fülle und seine Worte an Ausdrucksstärke.

Der Raum war bis auf den letzten Winkel hinter dem Ofen voller Menschen. Wer drinnen keinen Platz mehr gefunden hatte, drängte sich vor der Tür oder unter einem der weit offen stehenden Fenster. Wer nicht gehen konnte, der durfte sich darauf verlassen, daß jemand für ihn dort war, der sich alles genau merken und Zuhause ausführlich berichten würde.

Peters Schilderung seiner Taten und Abenteuer war zwar ein klein wenig ausgeschmückt, dafür aber höchst spannend anzuhören, und er bot dem versammelten Publikum die gewünschte und erwartete Unterhaltung. Es war vorauszusehen, daß Peter der große Held des Tages wurde und entsprechend gefeiert wurde. In der Tat hätte nicht viel gefehlt und die begeisterten Dorfbewohner hätten ihn auf Händen aus dem Hause getragen. Nur mit knapper Not entkamen Peter und seine Freunde der jubelnden Menschenmenge. Sie zogen sich ins Rathaus zurück, wo noch einige Arbeit auf sie wartete. Es galt viel zu besprechen und zu beschließen. Was sollte aus dem vielen Geld werden?

»Erinnert mich daran, daß ich vor unserer Abreise noch ein wenig Gold unter das Volk werfe. Damit macht man sich als Herrscher stets sehr beliebt.« Deutlich weniger beliebt machte sich Peter mit diesem Vorschlag bei Alissandra und Tamina. Allein Wilo schien dieser Vorschlag zu amüsieren. Er war es auch, der die folgende Disputation ins Rollen brachte. »Was fangen wir mit der Beute an? ich meine, wie wollen wir sie aufteilen?«

»Was meinst du mit ,aufteilen’?« fragte Alissandra. »Willst du es etwa für dich behalten?«

»Warum nicht?«

Alissandra explodierte: Das ist immerhin nicht dein Geld. Es gehört dem Volk von Arkanien, den einfachen und hart arbeitenden Leuten, denen es die Blutsauger des Regenten abgepreßt haben. Wir müssen es den Menschen zurückgeben; nicht wahr, Peter?«

»Nun — eigentlich gehört es dem Staat, genauer gesagt, der Regierung. Und das heißt, dem König, und das bin ich. Also gehört es mir. Und was das Zurückgeben anbelangt, so dürfte wohl keinen Staat im ganzen Universum geben, der das, was er einmal eingesackt hat, je freiwillig wieder hergibt.«

»Recht so!« pflichtete Wilo ihm bei.

»Pfui! Das hätte ich nicht von dir gedacht, Peter. Das kann doch nicht dein Ernst sein«, empörte sich Tamina.

»Warum denn nicht? Als König… —«

»Du bist aber nicht König! Höchstens ein… ein —« Alissandra suchte nach dem passenden Wort. »ein Möchtegern-König!«

»Alissandra!«

»Immerhin repräsentiere ich die oppositionelle Interimsregierung. Und in meiner Eigenschaft als Regierungschef konfisziere ich die erbeuteten herrenlosen Vermögens- und Sachwerte.« —

»Herr Schultheiß! Habt Ihr das gehört?« sprach draußen vor der Tür der Dorfschreiber zum Bürgermeister. »Was denn?« — »Da drinnen wird’s laut. Ich möcht wetten, die streiten sich ums Geld!« — »Ach! Schweig er still. Hat er nichts beß’res zu tun, als an fremden Türen zu horchen? Geh er in seine Schreibstube zurück, wo er hingehört.« Der Schreiber machte ein saures Gesicht und mit einer devoten Verbeugung zog er sich grinsend zurück. Einen Augenblick lang spielte der Schultheiß selber mit dem Gedanken, ein wenig von dem Disput anzuhören, beherrschte sich aber, und ging nachsehen, was sie Ursache des eben aufkeimenden Lärms auf dem Dorfplatz sei.

Indessen wogten die Wellen in der Ratsstube immer höher:

»Du nennst mich einen Dieb und Räuber?!« Peter sprang von seinem Sitz auf.

»Bitte beruhige dich, Peter. Alissandra hat das bestimmt nicht so gemeint.« Tamina versuchte vergeblich den Tobenden zu beschwichtigen.

»Und ob ich das so gemeint habe! Wie soll man sonst einen nennen, der nur an die eigene Tasche denkt?«

»Sieh an! Alissandra, das reiche, verwöhnte Fürstentöchterchen spielt sich auf zum Schutzpatron der Armen und Entrechteten. Wenn mir eines verhaßt ist, dann sind es diese verlogenen Salon-Kommunisten.«

»Ich bitte euch. Können wir denn nicht vernünftig miteinander…« Wilo versuchte zu schlichten, aber Alissandra ließ ihn gar nicht erst ausreden.

»Du bist am besten ganz still, Wilo. Ich kann mir denken, warum du hinter dem Geld her bist. Ein Herumtreiber, Trunkenbold, Weiberheld und Zechpreller und Schuldenmacher. Bist du etwa nicht vor dem Schuldturm geflohen?« Wilo lief dunkel an.

»Nimm dich in acht, oder ich vergesse, daß du ein Mädchen bist.«

»Was ist? Willst du dich prügeln? na los, tue dir keinen Zwang an. Bei mir hat sich schon manch einer einen Satz heißer Ohren geholt. — Halt den Mund, Tamina! Das geht dich nichts an!« Arme Tamina! Wollte sie doch nur zu schlichten versuchen, und geriet jetzt selber in die Schußlinie.

»Jetzt gehst du wirklich zu weit, Alissandra. Ich meinte lediglich, daß wir für unsere Ziele ein wenig Geld brauchen…«

»Andere arbeiten, wenn sie Geld brauchen. Versuch’s doch zur Abwechslung mal damit.! Ich… —«

Weiter kam Alissandra nicht, denn eine Handvoll Münzen traf sie mitten ins Gesicht. Aber auch Peter und Wilo hatten keine Gelegenheit sich zu freuen oder zu wundern, denn auch sie wurden von dem Goldregen — oder besser gesagt Goldsturm — nicht verschont. Der Streit verstummte abrupt. Das war auch nicht verwunderlich, denn wem schon einmal einige Hundert Gulden an den Kopf geflogen sind, der weiß, daß das recht schmerzhaft ist.

Der Urheber dieses unwillkommenen Geldsegens war Tamina.

»Gold, Gold, Gold! Immer nur Gold! Wenn das alles ist, was ihr wollt, dann nehmt dies — und das!« Mit beiden Händen warf sie Gold- und Silberstücke durch das Zimmer, daß es nur so krachte und Prasselte. Ihre Munition entnahm sie einer wohlgefüllten Geldkiste. »Habt ihr endlich genug? Merkt ihr denn nicht, was das verfluchte Gold aus euch gemacht hat? Wart ihr nicht einmal Freunde? Und jetzt benehmt ihr euch wie die ärgsten Feinde.« Sie warf die letzte Handvoll Münzen weg und sank weinend auf eine der Truhen nieder.

Ein betroffenes Schweigen senkte sich über die Streithähne. Tamina hatte recht. Da standen sie jetzt, die besten Freunde, Kameraden, die einander ihr Leben verdankten, Schicksalsgefährten, die gemeinsam schöne und schwere Stunden verlebt hatten; und jetzt stritten sie bis aufs Blut, warfen sich übelste Schimpfworte an den Kopf. Keiner sah den anderen an. Den Blick zu Boden gewandt standen sie wie blöde da. Bis auf Taminens Schluchzen war es ganz stille. Wilo ging zu ihr hin und wollte sie umarmen, aber sie litt es nicht und schüttelte ihn heftig ab. »Ihr müßt euch erst wieder vertragen«, sagte sie mit halb erstickter Stimme und wischte sich die tränen aus dem Gesicht.

»Also gut, wir werden es zurückgeben«, sagte Peter und sah Alissandra fragend an.

»Wir teilen es auf. Du hattest recht, Peter. Auch du, Wilo. Es tut mir leid, was ich zu euch gesagt habe.«

»Also geben wir es zurück«, sagte auch Wilo.

»Nein, ihr könnt euren Anteil haben.«

»Jetzt fangt ihr ja schon wieder an!« rief Tamina. Da lachte Wilo laut auf.

»Ihr seid gut! Wirklich, nicht zu übertreffen!« dröhnte er. Sein Gelächter wirkte irgendwie ansteckend. Peter und Alissandra stimmten mit ein; und zuletzt konnte auch Tamina nicht anders. Die Vier gaben sich die Hände und fielen einander um den Hals.

»Was wird jetzt?« fragte Tamina, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten.

»Ich denke, du hast etwas gut bei mir«, sagte Peter. Er ging zu einer der Geldtruhen, nahm eine Handvoll Münzen heraus und warf sie einzeln nach Tamina und verschonte auch Alissandra nicht. Es währte nicht lange, da hielt ein jeder einen Sack Geldes in der Hand, und wie bei einer Schneeballschlacht lautete das Motto: Jeder gegen Jeden.

Die restlichen Bewohner des Rathauses mochten sich nur noch wundern, ob dem Geschrei, Gelächter und dem ungewöhnlichen Klimpern und Scheppern, das aus der Ratsstube drang.

Als endlich jemand sich ein Herz faßte und nachschauen ging, bot sich ihm folgender Anblick: Peter saß auf einem Stuhl und wurde von Wilo festgehalten, während Alissandra auf seinen Knien saß und gemeinsam mit Tamina ihm Goldmünzen in den Kragen stopften. »Jetzt bekommst du doch noch deinen Anteil«, rief Alissandra lachend. Peter quiekte und bettelte aber es half nichts. Immer mehr der schweren eiskalten Münzen mußten in sein Hemd hinein.

»Verzeihung, die Herrschaften! Ich möchte nicht stören, aber…«

»Wir sind gerade sehr beschäftigt«, sagte Peter, dem das ganze ziemlich peinlich war. — »Bitte sehr!« entschuldigte sich der Störenfried und zog sich mit einem Ausdruck größter Verwunderung zurück.

»Wer weiß, was der jetzt den anderen erzählt«, sagte Tamina.

Endlich ließen die drei von dem armen Peter ab. Der versuchte erst einmal aufzustehen, was sich als recht schwierig erwies, fühlte er sich doch gut fünfzehn Kilogramm Gold beschwert.

»Iih! jetzt habe ich die Dinger schon in der Hose und in den Stiefeln«, klagte der Goldbäuchige.

»Du ärmster!« lachte Alissandra. »Wer kann sich schon beklagen, daß er zuviel Gold in der Hose hat?«

»Ja, Peter. Mach uns den Goldesel!« rief Tamina kichernd. Peter bückte sich und zog sein Hemd aus der Hose, bis die ganze Goldfracht krachend zu Boden polterte.

»Ich kenne jemanden, der sich etwas zu laut gefreut hat, um ihn jetzt ungeschoren davon kommen zu lassen«, sagte Peter grimmig. Tamina versuchte vergeblich ihr Heil in der Flucht zu suchen und bettelte umsonst um Gnade — auch sie bekam ihren Anteil Gold ab.

Als sie sich fertig ausgetobt hatten, sah Tamina sich im Zimmer um und sprach: »Ich kenne da ein paar, die dürfen den Saustall hier aufräumen, und ich fürchte, das sind wir.« Der Ratsaal sah wirklich nicht so aus, wie man es von der Würde eines solchen Ortes erwarten dürfte. Stühle lagen umgestürzt auf dem Boden, der von Gold übersät war. Halbgefüllte Geldkisten und leere Säcke klagten den Verlust ihres Inhalts an. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis die letzte Münze eingesackt und in den Truhen verstaut worden war; jedenfalls soweit sie zum Vorschein gekommen waren. (Einige kamen erst bei späteren Gelegenheiten zum Vorschein, indem sie aus dem einen oder anderen Kleidungsstück hervorpurzelten — sehr zum Erstaunen der Umstehenden und zur Belustigung der vier Freunde.)

Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, da stürzte ihnen auf der Treppe ein junger Mann entgegen. Es war einer von Wilos ,Soldaten’. Noch ein wenig außer Atem sprach er sie an: »Hoheit! Herr General! ich habe Neuigkeiten für Euch. Es wurden Gefangene gemacht. Sie sind in einer Scheune untergebracht.« Peter bedeutete dem Mann, sie sogleich dorthin zu führen.

Am Rande des Dorfes stand eine große windschiefe Holzscheune, die bereits ihre besten Tage hinter sich hatte. Sie gehörte der Gemeinde und diente als Lagerraum. Rings um das Gebäude waren Wachposten mit Spießen und Äxten postiert. Bei Peters Ankunft grüßten sie militärisch — zumindest taten sie, was sie für dergleichen hielten, da kaum einer von ihnen jemals bei den Soldaten gedient hatte und die militärischen Gepflogenheiten nur vom Hörensagen kannte.

Peter erwiderte den Gruß etwas unbeholfen. Seine Popularität und das große Ansehen, ja die regelrechte Verehrung, die ihm von diesen einfachen Landleuten entgegen gebracht wurde, waren für ihn sehr ungewöhnlich und brachten ihn männiglich in Verlegenheit.

»Es sind neunundzwanzig Gefangene, Herr! Wir haben sie aufgegriffen, als sie in Richtung Dorf marschierten. Sie haben keinen Widerstand geleistet und verlangten Euch zu sprechen«, sagte der junge Mann, der sie abgeholt hatte. Zögernd fügte er hinzu: »Ich glaube, es sind anständige Kerls. Wir haben nicht viel gesprochen, aber ich merkte, daß es Leute vom Land sind.«

»Ich nehme doch an, daß ihr sie entwaffnet habt«, fragte Wilo.

»Selbstverständlich. Die Waffen, sowie fünfzehn Pferde wurde alle beschlagnahmt.« Er hieß die Wachen das Tor zu öffnen, das mit einem massiven Balken verrammelt war. Peter und Wilo traten ein. Im Inneren befanden sich, wie angekündigt, die Soldaten des Regenten. Sie saßen oder kauerten auf dem Boden. Sie waren an Händen und Füßen gefesselt. Einer der Gefangenen stand sogleich auf und humpelte auf Wilo zu. Er verneigte sich tief und sagte: »Verzeiht, Hoheit! Ich bitte Euch um Gnade für meine Männer.« Wilo grinste und deutete auf Peter: »Ihr irrt Euch. Dies hier ist die Hoheit. Ich bin nur General.« Der Mann sah ihn erstaunt an und wandte sich an Peter. Dieser hatte den Gesichtsausdruck richtig gedeutet und war daher ein wenig verdrießlich gestimmt. Es war ihm eigentlich recht unangenehm, einen Mann, der gut doppelt so alt war, wie er selber, vor ihm auf der erde knien sehen. Irgendwie aber gefiel ihm dies wiederum, so daß er den armen Kerl vielleicht etwas länger als nötig in seiner unbequemen Stellung verharren ließ.

Nach mannigfaltigen Höflichkeiten und Unterwürfigkeitsbezeugungen, wie dies des Landes der Brauch war, berichtete der Mann im Wesentlichen folgendes:

Er und seine Kameraden seien einfache Landleute, die von der Armee des Regenten zwangsrekrutiert worden waren. Sie seien in die Kompanie von Hauptmann Borkas eingeteilt worden, wo sie drei Jahre gedient hätten. Als sie von Peter in der Nacht überrumpelt und festgesetzt worden waren, hätten sie beschlossen, den Dienst zu quittieren und zu den königlichen Streitkräften überzulaufen. Als im Morgengrauen die Schatten verschwunden seien, hätten sie nach kurzer Beratung beschlossen, sich im Dorfe zu ergeben. Die Offiziere und einige Unentschlossene hätten sich auf den Weg nach Carlan gemacht.

»Warum kommt ihr erst jetzt auf die Idee, die Fronten zu wechseln?« fragte Wilo streng.

»Wir konnten nicht anders. Unsere Familien blieben schutzlos in unseren Heimatdörfern zurück. Wer meuterte oder desertierte, wurde mit dem Tode bestraft, und wenn sie einen nicht erwischten, dann mußte die Familie es büßen. Wir haben zwar von den Rebellen gehört, die im Norden sehr stark sind und dem Regenten Widerstand leisten, aber hier im Süden, nahe der Hauptstadt, wo die Truppen und Spione des Regenten überall lauern, wagt niemand offenen Widerstand. Aber jetzt, wo Ihr hier seid, und wo wir wissen, daß die schrecklichen Schatten nicht unbesiegbar sind, da wollen wir auf Eurer Seite kämpfen.«

»Was hältst du davon?« fragte Peter Wilo leise.

»ich glaube, wir können ihnen vertrauen. Außerdem können wir ausgebildete Soldaten für den Aufbau unserer eigenen Streitkräfte gut gebrauchen.« Er wandte sich an die Gefangenen: »Wollt ihr auf der Seite des Prinzen Peter gegen Tiras den Regenten kämpfen?« — »Ja!« erscholl es einstimmig. »Seid ihr bereit, ihm und er Flagge des Königs die Treue zu schwören?« Alle waren dazu sofort bereit.

»Nehmt ihnen die Fesseln ab. Ich begnadige sie und lassen sie frei«, befahl Peter den Milizionären, welche die Gefangenen bewachten. »Gebt ihnen Wasser und etwas zu essen und was immer sie sonst brauchen. — Wir treffen uns heute Nachmittag um drei Uhr auf dem Dorfplatz zu einer Versammlung. Sorgt dafür, daß jeder davon erfährt.« Peter ließ sich entschuldigen und bat Wilo, ihn soweit zu vertreten. Es gab so viel wichtiges zu regeln, zu beschließen und organisieren, daß er kaum noch wußte wo ihm der Kopf stand. Er wollte eine Weile mit sich und seinen Gedanken allein gelassen werden.

So kam es, daß in dem ganzen Dorfe ein jeder geschäftig seine Aufgaben erledigte, während Peter allein und abwesend, wie schlafwandelnd, auf dem Dorfanger hin und wider schlenderte. Es ist unmöglich zu beschreiben, was ihm in diesem Augenblick im Kopfe herumging. So viel war in so kurzer Zeit geschehen, so viel hatte sich verändert. Hatte er bislang mit seinen Freunden gemeinsam, von der Umwelt im Großen und Ganzen unbehelligt, in einem wundervollen, privaten Abenteuer gelebt, so sah er sich jetzt plötzlich mit der großen Verantwortung konfrontiert, eine Revolution anzuführen, einen Krieg zu organisieren und einen Staat zu regieren. Bislang war vor alles, trotz der Gefahren und Widrigkeiten, ein riesiger Spaß gewesen, aber jetzt galt es ernst. Er bekam eine unsägliche Angst. Wie sollte er dieser gewaltigen Aufgab, die eines Übermenschen bedurfte, erfüllen? Was waren das für Menschen, von denen man in den Geschichtsbüchern lesen kann, die gewaltige Reiche gegründet und erobert hatten? Warum mußte ausgerechnet er König von Arkanien werden? Er würde Minister und Hofräte ernennen, einen Staat, eine Verwaltung aufbauen, Gesetze erlassen, recht sprechen, Steuern erheben, Soldaten ausheben, Verträge schließen, Konferenzen einberufen. Eine tonnenschwere Last lag auf seinen Schultern, ein Mühlstein lag auf seiner Brust, der ihn zu ersticken drohte. Selbst hier an diesem wundervollen, sonnigen Frühlingstag unter freiem Himmel fühlte er sich auf einmal eingeengt und gefesselt. Am liebsten würde er davon laufen, so schnell ihn seine Beine trügen. Und für einen kurzen Augenblick war er nahe daran, es tatsächlich zu tun.

So kam es, daß er sich inmitten dieser vielen Menschen, darunter sich seine besten und treuesten Freunde befanden, auf einmal unendlich einsam und hilflos vorkam. In diesem Augenblick beneidete er seine Gefährten. Sie könnten sich, wenn alles vorüber wäre, irgendwo gemütlich zur Ruhe setzen, sich um ihre persönlichen Angelegenheiten, Familien, Geschäfte kümmern; er aber müßte für immer König sein, wie ein Ackergaul lebenslänglich im Gespann laufen.

Er ließ sich ins kühle Gras fallen und rollte sich auf den Rücken. Der Himmel über ihm erstrahlte in einem herrlichen, unendlich tiefen, frischen Blau, nur hie und da von weißen Wolkenstreifen durchzogen. Der Anblick dieser wundervollen blauen Unendlichkeit wirkte ungeheuer beruhigend und tröstlich auf sein Gemüt.

Blau war immer schon seine Lieblingsfarbe gewesen. Je länger er dieses unfaßbare Leuchten mit den Augen trank, ja geradezu mit jeder Pore seines Leibes gierig aufsog, desto besser fühlte er sich. Er zog sein goldenes Amulett an der Kette unter dem Hemd hervor. Er hielt es hoch gegen den Himmel und beobachtete die Lichtstrahlen, die sich in dem farblosen Kristall in der Mitte des Anhängers brachen, wenn er es gegen die Sonne hielt.

Zuerst war der Stein ganz von der lichten Himmelsfarbe erfüllt und leuchtete und glomm, wie von innen heraus, um dann allmählich in den sieben Farben des Regenbogens zu erstrahlen. Je nachdem, wie er ihn drehte, wechselte das Spiel der Farben, nahmen die verschwommenen in einander übergehenden Zonen der Prismenfarben zu oder ab.

Peter wurde des Farbenspiels nicht müde, denn immer wieder entdeckte er eine neue Nuance, die ihm bisher entgangen war. Hinzu trat der milde Glanz des gelben Goldes. In den Rillen und Vertiefungen der unbekannten Schriftzeichen auf dem Metallring brach sich golden das goldene Licht der Sonne. Was diese uralten Zeichen und Buchstaben wohl zu bedeuten hatten, fragte sich Peter. Hoffentlich konnte der weise Callidon sie entziffern. Die Leute im Dorfe hatten ihm berichtet, daß ein weiser alter Einsiedler auf einem Berg, etwa einen Tagesritt westlich hinter den Hügeln verborgen lebte. Schon oft wenn die Not groß war, wußte dieser Mann guten Rat zu erteilen, oder wenn jemand schwer krank darniederlag und selbst der Arzt aus der Stadt nicht mehr helfen konnte, brachte ein Bote, den man nach dem Berge geschickt hatte, die rettende Arznei.

Peter war sehr erpicht darauf, diesen berühmten Philosophen und Gelehrten, von dem alle nur mit der größten Ehrfurcht sprachen, kennen zu lernen. Aber trotzdem fürchtete er die Ankunft bei Callidon und suchte sie möglichst hinauszuzögern. Einmal dort angelangt, hieße es Abschied zu nehmen von Alissandra. So hatte er es mit ihr verabredet, und das war der Inhalt des Versprechens, das er ihrem Vater gegeben hatte: Alissandra sicher und wohlbehalten zu Callidon zu bringen.

Jetzt war es geschehen — seine Angst war zurückgekehrt. Ein Leben ohne Alissandra erschien ihm öde und lustlos. Gewiß, er kam die meiste Zeit nicht besonders gut mit ihr aus, aber er hatte auch viel Spaß mit ihr gehabt, trotz und vielleicht auch gerade wegen der kleinen Neckereien.

Eine helle freundliche Stimme riß ihn aus seinen Gedanken: »Hallo, Peter! Hier steckst du also.« Es war Tamina, die ebenfalls dem geschäftigen Treiben im Dorf entflohen war. »Was machst du hier? Schaust du dir die Wolken an?«

»Ja, woher…« Tamina lachte. »Oh, Peter! Du bist nicht der einzige, der so etwas tut. Am misten Spaß macht es im Sommer, wenn die Wolken die schönsten Formen haben. — Aber ich sehe, du bist irgendwie so tiefsinnig. Woran denkst du gerade?«

»Ich denke an nichts besonderes. Ich betrachtete gerade mein Amulett.« Tamina merkte wohl, daß er log. Sie widersprach ihm aber nicht, sondern sah ihn nur an und wartete schweigend. Manchmal war es besser, nichts zu sagen, sondern nur zuzuhören. Oder einfach abzuwarten, bis der andere so weit war. Und so geschah es auch jetzt.

Peter druckste erst ein wenig herum. Dann aber erzählte er ihr von seinem Kummer. Es tat gut, mit jemandem zu sprechen, der Zeit hatte zuzuhören, der einen nicht drängte, der kein Ziel, keine Absicht verfolgte, aber immer einen guten Rat wußte, oder zumindest ein paar tröstende Worte. Tamina lauschte seinen Worten aufmerksam. »ich kann dich gut verstehen«, sagte sie schließlich. »Auch ich frage mich manchmal, was in der Zukunft sein wird und ob meine Wünsche in Erfüllung gehen. Aber ich denke, man soll sich nicht zu sehr Gedanken darüber machen. Ich bin fest davon überzeugt, daß alles so kommt, wie’s kommen muß.«

»Das befriedigt mich nicht. Ich bin kein Fatalist. Ich glaube an den freien Willen des Menschen und an die Möglichkeit, selber seines Glückes Schmied zu sein. Wir sind doch keine Marionetten, die an unsichtbaren Fäden gezogen und gelenkt werden.«

»Nein, natürlich nicht. Ich meine damit auch nicht, daß alle Handlungen und Ereignisse vorausbestimmt sind, sondern daß es eine feste Ordnung in der Welt gibt, einen göttlichen Plan, nach dem alles geschehen soll. Und jeder kann selber entscheiden, ob er diesem Plan folgen will, oder ob er der Ordnung zuwider handeln will.«

»Nur daß niemand diesen göttlichen Plan kennt«, warf Peter ein.

»Das wäre aber auch furchtbar langweilig. Außerdem glaube ich nicht, daß irgend ein Mensch fähig wäre zu begreifen, nach welchen Regeln und Plänen die ganze Welt funktioniert. — Nein Peter, du sollst König von Arkanien werden, das ist der Plan, aber es ist deine freie Entscheidung, ob du darnach strebst, ihn zu erfüllen und ein guter, gerechter König wirst, oder ob du alles aufgibst und wieder dahin zurückkehrst, woher du gekommen bist.«

»Wie könnte ich das? Ich wüßte nicht einmal wie ich es anstellen sollte.«

»Ich denke, wenn du es wirklich wolltest, daß sich dir dann rasch ein Weg böte. Aber willst du wirklich zurück?«

»Nein — ich denke nicht. Aber…«

»Dann laß dich nicht beirren. Du darfst nicht den ganzen weiten und beschwerlichen weg anschauen und sagen ›das schaffe ich nie!‹, sondern du mußt immer einen Fuß vor den andern setzen. So näherst du dich unbeirrt, unweigerlich deinem Ziel. Außerdem bist du nicht allein. Du hast mich und Wilo — und Alissandra. Auch wir haben unsere Aufgabe zu erfüllen; auch uns ist ein Ziel gegeben, auch wir müssen unseren Beitrag leisten. Unabhängig davon, was wir suchen, wonach wir streben. — Schau, ich hätte auch nie gedacht, daß ich mich heute an diesem Ort befinden würde, daß ich die schicksalhaften Ereignisse, welche die Zukunft Arkaniens beeinflussen, hautnah miterleben würde. Und was die Zukunft mir bringen mag, ist ebenso ungewiß. Du hast es sogar besser, du weißt daß du zum König bestimmt bist. Was aus mir werden wird, da habe ich keine Ahnung.«

»Hast du kein besonderes Ziel vor Augen, keinen geheimen Wunsch?«

»Doch, aber die binde ich dir nicht auf die Nase.« Tamina lachte. »Nein, im Ernst. Ich glaube, ich wünsche mir am meisten ein richtiges Zuhause. Einen Platz wo ich mich wohl fühle; ein hübsches kleines Haus mit einem großen Garten.«

»Das klingt nicht sehr aufregend und abenteuerlustig.«

»Mag sein, aber ich bin eben nicht wie Alissandra. Obwohl ich denke, daß… —« Sei biß sich auf die Lippen.

»Was?«

»Ach nichts. Das mußt du schon allein herausfinden.« Offensichtlich wollte sie nicht über Alissandra sprechen. »Erzähl mir lieber, was du gerne getan hättest, bevor du nach Arkanien gekommen bist.« Peter runzelte die Stirn. Das war eine gute Frage. »Ich weiß nicht so genau. Eigentlich hatte ich keine besonderen Pläne. Wahrscheinlich hätte ich nach der Schule die Universität besucht. Vielleicht hätte ich die Juristerei studiert, oder so etwas. Auf jeden Fall etwas, wo man nicht rechnen braucht«, fügte er lächelnd hinzu. »Vielleicht hätte ich es bis zum Rechtsanwalt oder zum Richter gebracht. Obgleich — für letzteres muß man die richtigen Leute kennen und Mitglied in der richtigen Partei sein. Wahrscheinlich wäre aus mir irgend ein kleiner Beamter oder Angestellter geworden, der nur auf seine Pensionierung wartet. In der Freizeit wäre ich zu Hause vor dem Fernseher oder in der Bibliothek gesessen und hätte mit niemandem gesprochen.«

»Magst du keine Menschen?«

»Ich denke, die einen, die zu langweilig und gewöhnlich sind, mochte ich nicht leiden und die anderen, die mich interessierten, die wagte ich nicht anzusprechen. Ach! Ich weiß auch nicht.« Es fiel Peter nicht leicht, darüber zu sprechen.

»Vielleicht wäre ich ein Schriftsteller geworden. Wahrscheinlich kein guter und wohl auch kein reicher, sondern ein hoffnungslos altmodischer Geschichtenerzähler. Mit diesem konfusen Zeug, was man heutzutage Literatur nennt, habe ich nie etwas anfangen können.«

»Ein Schriftsteller? Du meinst ein richtiger Dichter, der Bücher schreibt?« Taminas Augen leuchteten. »Hast du vielleicht schon etwa geschrieben, ein Buch?«

»Ein Buch? schön wär’s! Nein, aber ein paar Kurzgeschichten und den Anfang eines Romans, der aber nie fertig wurde. Ich bin nur zwei Kapitel weit gekommen. Irgendwie verging mir die Lust. Verstehst du, wenn man so viele gute Bücher liest und diese Geschichten dann mit den eigenen vergleicht und man merkt, wie schlecht und unbeholfen alles klingt.«

»Schade, ich hätte gerne eine von diesen Geschichten gehört. Aber du kannst sie mir ja einmal erzählen.«

»Gerne, wenn es dich wirklich interessiert.«

»Schau mal! Ist das nicht Wilo, der da kommt?« er war es. »Hallo, ihr beiden! Wir haben euch überall gesucht. Der Bürgermeister und die Dorfleute haben ein Festmahl für uns vorbereitet. Da darf doch der Ehrengast nicht fehlen.«

»Was schon wieder essen? Wir haben doch gerade erst gefrühstückt?« Peter sah auf die Uhr. Es war bereits halb eins. »Beeilt euch, es warten schon alle«, rief Wilo, der zwar ebenfalls reichlich gefrühstückt hatte, aber einem leckeren Festschmaus — und gutem Trunk — nie abgeneigt war. Trotz seiner gelegentlichen Völlerei brachte er es auf beneidenswerte Weise fertig, eine perfekte Figur zu besitzen.

»Keine Sorge«, meinte Peter. »Wir sind die Ehrengäste, da können wir ruhig etwas später kommen. Sie werden kaum ohne uns anfangen.«

Das Rathaus war festlich geschmückt, so weit dies die bescheidenen Verhältnisse zuließen. Aus dem benachbarten Wirtschaft hatte man Speisen herbeigeschafft. Im großen Ratssaale war eine weiß gedeckte Tafel für die Ehrengäste, den Schultheißen, die Herren des Rates und weitere Honoratioren des Ortes aufgestellt worden. Alle Plätze bis auf drei in der Mitte waren besetzt. Peters Eintreffen wurde mit lautem Beifall begrüßt. Ein Diener geleitete sie an ihre Plätze. Alle erhoben sich und warteten, bis Peter Platz genommen hatte. Es folgten Hochrufe, die der so geehrte verlegen und errötend entgegen nahm.

Alissandra, die zu Peters Rechten saß, erhob sich und reichte ihm einen silbernen Kelch mit Wein. Wilo und Tamina nahmen zu seiner Linken Platz. Sogleich erhob sich der Bürgermeister. Er brachte einen langen und förmlichen Trinkspruch auf die Gesundheit der Gäste an. Danach folgten Ehrenbezeugungen anderer wichtiger und würdiger Herren.

»Ich fürchte, die erwarten, daß ich gleich etwas sagen soll«, flüsterte Peter Alissandra ins Ohr. Und so war es auch.

Irgendwie brachte Peter die für ihn so unangenehme Angelegenheit für alle befriedigend hinter sich; und nach einem kräftigen Schluck aus seinem Kelch, fühlte er sich sogleich viel wohler und entspannter.

Das Festmahl bestand aus zahlreichen Gängen. Peter, der nach den ersten zwei Gängen sich bereits völlig gesättigt fühlte, wagte von den nachfolgenden Speisen kaum etwas zu nehmen, mußte er doch befürchten, daß noch eine ganze Reihe weiterer folgen würden, und es in Arkanien als äußerst unhöflich galt, angebotene Speisen und Getränke zurückzuweisen.

Zum Glück bestand das Mahl aus guter ländlicher Hausmannskost, so daß Peter nichts auslassen mußte. In der Hauptstadt, so hatte er sagen hören, äßen die vornehmen Leute zum Teil die absonderlichsten Spezialitäten, exotische Pflanzen und Tiere in merkwürdigen Kombinationen. Es war auch schon seltsam, wie gewisse Menschen Dinge aßen, nur weil sie teuer und selten waren, welche sie in lebendigem Zustande kaum mit dem Finger berühren würden. Peter konnte einfach nicht verstehen, wie man so eklige Dinge wie Muscheln, Schnecken oder jene garstigen vielgliedrigen Krustentiere mit ihren Stielaugen und Tentakeln essen konnte. »Ich essen nichts, was mehr als vier oder weniger als zwei Beine hat«, pflegte er zu sagen. Zum Glück für ihn war die gewöhnliche arkanische Küche eine einfache, aber ausgewogene, wobei in den nördlichen Ländern mehr Fleisch und Getreide gegessen wurde, während im Süden vor allem Gemüse und Fisch zu den beliebtesten Speisen zählten. Das einzige was Peter schwer zu schaffen machte, war die Tatsache, daß man hierzulande keinen Kakao und somit auch keine Schokolade kannte. Dieses herrlich wohlschmeckende, wie ebenso nahrhafte und kräftigende Stärkungsmittel, welches er früher in gehörigen Mengen zu verkonsumieren pflegte, vermißte er schmerzlich, und er hatte insgeheim längst beschlossen, falls er eines Tages wirklich König sein würde, nichts unversucht zu lassen, um irgendwo Kakaobohnen aufzutreiben und das ersehnte Produkt herstellen zu lassen.

Das Essen zog sich bis spät in den Nachmittag hin. Es ging auf drei Uhr zu, als das letzte Stück Kuchen und der letzte Kräuterlikör weggetragen wurden. Am liebsten hätte Peter sich jetzt zu einem ausgiebigen Mittagsschlaf zurückgezogen, denn was konnte es schöneres auf der Welt geben, als, sich so richtig vollgefressen zum schlafe zusammenzurollen. Aber leider mußte er diesmal auf seinen Verdauungsschlaf verzichten, da er selber auf drei Uhr eine Versammlung einberufen hatte.

Während die Diener die Tafel abräumten, ging Peter ans Fenster und schaute hinaus. Unten auf dem Dorfplatz hatte sich eine größere Menschenmenge eingefunden, die stetig wuchs.

»Was hast du den Leuten zu verkündigen?« wollte Alissandra wissen.

»Hört mal alle her!« rief Peter seine Freunde zusammen. »Nachdem wir die Schatten besiegt haben und wissen, wie man sie wirksam bekämpft, haben wir einen großen Vorteil errungen. Ich denke daher, daß es jetzt an der Zeit sei, den Widerstand gegen Tiras neu zu formieren. Wir haben den Menschen neuen Mut gegeben und ihr Selbstvertrauen gestärkt, gleichzeitig hat der Regent eine seiner wirkungsvollsten Waffen verloren — die Angst vor den Schatten. Diese Situation müssen wir ausnützen. Wir haben da draußen eine Handvoll Soldaten. Sie bilden den Grundstock der Revolutionsarmee. Durch die Erbeutung der Steuereinnahmen können wir eigene Truppen ausheben und ausrüsten und verpflegen. Einen Teil des Geldes soll in eine allgemeine Rentenkassen fließen, aus welcher die Armen und Bedürftigen unterstützt werden sollen. Auf diese Weise kommt das Geld wieder unter das Volk, und zwar an diejenigen, die seiner am dringendsten bedürfen.

Ich bin nicht der legitime Herrscher Arkaniens und wich weiß auch nicht, ob ich es jemals sein werde. Andererseits deutet manches darauf hin, daß ich vielleicht doch eines Tages König sein werde — das wird die Zukunft weisen. Ich denke aber, daß ich berechtigt bin, gegen Tiras den Regenten zu kämpfen. Also habe ich mich entschlossen, mich selber zum Gegenregenten zu ernennen und eine revolutionäre Übergangsregierung zu bilden. — Was sagt ihr dazu?«

»Du und Regent von Arkanien?« Alissandra lachte. »Entschuldige, aber ich kann mir dich einfach nicht vorstellen, wie du im königlichen Palast auf dem Marmorthron Brunnars des Starken sitzest.«

»Das werde ich auch nicht. Erst wenn ich rechtmäßig nach altem Recht und Brauch zum König von Arkanien gekrönt worden bin, werde ich den Thron besteigen.«

»Also, ich finde die Idee gut«, meinte Wilo und zupfte an seinem Bärtchen. »Ein neuer Regent, der das ganze Land umkrempelt. Das gibt neuen Aufschwung. Wenn es uns gelingt, hier im Süden genügend Menschen auf unsere Seite zu bringen, dann könnten wir uns mit den Rebellen im Norden vereinigen und der Regent wäre erledigt. Das Volk haßt ihn seit langem, die Armee ist unentschlossen und schwach, neigt aber auf die Seite des Volkes. Ohne die Schatten und ohne die Unterstützung der Fürsten hat der Regent keine wirkliche Macht mehr; und wenn ihm die Städte und Provinzen die Steuergelder vorenthalten, kann er auch keine neuen Truppen aufstellen. Ich denke das wichtigste ist, daß jetzt alles sehr rasch geht, noch bevor Tiras sich eine neue List ausdenken kann.«

»Du bist also dafür?«

»Unbedingt.«

»Was meint ihr beiden, Tamina und Alissandra?« Die letztgenannte sah Peter scharf an.

»Ich glaube, daß du ein guter Regent wärst«, sagte Tamina. »Du gehst deinen Weg und das ist gut so.« Alissandra schwieg einen Augenblick und sagte dann einfach: »Euer Exzellenz sollten sich jetzt dem Volke zeigen; es ist schon über drei.«

Die Versammlung begann etwas später, als angekündigt und wurde ein gewaltiger Erfolg für Peter. Anfangs hatte er starke Befürchtungen, die Menschen würden ihn als Regenten nicht akzeptieren. Aber das Gegenteil war der Fall. Lautstarke Begeisterung machte sich auf dem Platze breit, als Peter der gespannt lauschenden Volksmenge eine Absicht kund tat.

Die Soldaten des Regenten wurden gefragt, ob sie bereit wären, ihm als ihrem neuen Herrn zu dienen und ihm die Treue zu schwören. Ein jeder von ihnen war vollumfänglich dazu bereit und so nahm Peter ihnen vom Balkon des Rathauses das Treuegelöbnis ab. Von nun an waren die Männer keine Gefangenen mehr, sondern freie Soldaten und stolze Offiziere der königlich-arkanischen Armee.

Jetzt galt es noch eine funktionstüchtige Regierung zu bilden, was sich als schwieriger erwies, als Peter gedacht hatte. Wilo sollte als Feldmarschall die Oberaufsicht über die Streitkräfte erhalten. Den Schultheißen des Dorfes ernannte er zum Vorsitzenden eines neu gebildeten Kreisrates, der aus den Vorstehern und Bürgermeistern der umliegenden Dörfer bestehen sollte, und welcher die Aufgabe hatte, neue Truppen auszuheben und eine neue Kreisverwaltung einzusetzen.

Sobald sie genügend Männer beisammen hätten, würden sie sich auf den Marsch nach Carlan machen. Sollte es ihnen gelingen, die Stadt einzunehmen (wobei Peter hoffte, daß es ein friedlicher Machtwechsel würde) und den Statthalter des Regenten abzusetzen, dann hätten sie eine starke Position im Süden des Reiches und einen Ausgangsbasis für weitere Aktionen.

Außer den Soldaten begehrten noch viele andere junge Männer, in Die Dienste den frischgebackenen Regenten treten zu dürfen. Wer immer Zuhause entbehrlich war — Wilo achtete streng darauf, daß genügend Männer im Dorfe und bei ihren Familien verblieben, um die Arbeit auf den Feldern und im Dorfe zu verrichten — wurde angeworben. Diese Vorsichtsmaßnahme war unentbehrlich, wenn man verhindern wollte, daß die Ernte auf den Feldern verdarb, weil alle Männer im Felde waren. In der Vergangenheit hatte es nicht wenige Hungersnöte gegeben, weil im Kriege die Feldarbeit vernachlässigt worden war.

Einen Teil des erbeuteten Geldes hieß Peter den neuen Kreisrat verwalten, der Rest wurde als Vorschuß an die Dienstleute ausbezahlt und was übrig blieb, wanderte in die Staatskasse. (Ein Schelm sei, wer Übles denkt, und damit die Privatschatulle des neuen Regenten meint.)

Die folgenden Tage waren für Peter und seine Freunde sehr arbeitsreich und vergingen wie im Fluge.

Wilo hatte alle Hände voll damit zu tun, sein Armee aufzustellen. Zwar war er nur Leutnant in der Armee des Regenten gewesen und verstand daher nichts von der Verwaltung und Organisation eines großen Heeres, wie man es von einem General oder gar einem Feldmarschall erwarten durfte, aber er gab sein Bestes und dank seines kühlen Verstandes und den guten Ratschlägen erfahrener Männer an seiner Seite, übertraf er sich zuweilen selber. In seiner neuen Aufgabe ging er völlig auf. Er, der junge Schalk und Taugenichts, aus der Heimat schmachvoll geflohen, aus der Armee unehrenhaft entlassen, hatte es weit gebracht — zum Offizier und Marschall, zu einem trotz seiner Jugend geachteten und gemeinhin wohl gelittenen Manne.

Tamina versuchte sich überall nützlich zu machen. Sie war freilich noch viel zu jung und unerfahren, um eine Aufgabe in der Regierung oder in dem jungen Staatswesen zu übernehmen, aber sie ging Peter, wo immer es ging zur Hand und erfüllte die Pflichten eines Pagen und einer Assistentin auf das zuverlässigste. Es war unglaublich, wieviel es auf einmal zu schreiben gab.

Peter hätte nie gedacht, was für einen riesigen Troß von Sekretären, Schreibern und Boten er plötzlich brauchte. Aber es mußten Anordnungen getroffen werden, Ämter eingerichtet, Gehälter und Löhne bezahlt, Quittungen und Urkunden ausgefertigt werden. Jeder, der ein Pferd besaß wurde als Bote in die Dörfer und Städte geschickt, um die Neuigkeiten zu verbreiten oder um Gesandte zu bestellen.

Täglich kamen Gesandte, Würdenträger oder einfach neugierige Bürger und Schaulustige aus der ganzen Provinz an, die den neuen Regenten sehen und sprechen wollten. Bereits fünf Tage nach Peters ,Machtübernahme’ konnte der Kreisrat zum ersten Male tagen. Alle Vertreter erkannten das neue Regiment an und versprachen ihre Unterstützung.

Täglich erwartete man Nachrichten aus Carlan. Wie würde der Statthalter reagieren? Die meisten Vögte des Regenten waren entweder Hals über Kopf vor dem sich entladenden Volkszorn geflohen oder hatte, sofern sie dem Regenten nicht allzu nahe gestanden waren und beim Volke durch Milde und Rechtschaffenheit einiges Ansehen genossen, sich freiwillig auf Peters Seite gestellt.

Peter selber befand sich wie in einem wunderbar erregenden Rausch. Überall stand seine Person im Mittelpunkt. Den ganzen Tag über mußte er Versammlungen leiten, Abgeordnete und Boten empfangen, Beamte und Offiziere ernenne und jede Menge Briefe und Urkunden diktieren. Abends tat ihn dann schon mal die Hand weh vom vielen Unterzeichnen. Vor lauter Arbeit fand er kaum Zeit, sich mit seinen Freunden zu unterhalten. Meistens sahen sich die vier nur zu den Mahlzeiten, aber dann nicht immer, wurde doch von dem neuen Regierungschef erwartet, mit diesem oder jenem Gesandten und Würdenträger zu speisen.

Alissandra aber fühlte sich als einzige recht unnütz. Sie versuchte zwar, sich überall nützlich zu machen, allein die Arbeit in der Kanzlei mochte ihr nicht recht schmecken, sie war ihr zu trocken und papieren. In militärischen Angelegenheiten kannte sie sich nicht aus. Außerdem hätten es sich die Herren Offiziere sehr verbeten, wenn sich ein junges Mädchen, Prinzessin hin oder her, in ihre Angelegenheiten eingemischt hätte. In den Küchen des Dorfes, wo für die vielen zugereisten Gäste die Mahlzeiten zubereitet wurden, stand sie den geübten Köchinnen und Hausfrauen mehr im Wege herum, als daß sie hilfreich war. In den Nähstuben, wo an neuen Flaggen und Uniformen gearbeitet wurde, war eine weitere fleißige Hand hochwillkommen. Natürlich konnte Alissandra nähen und sticken, da gehörte zu den häuslichen Fertigkeiten in denen sie Zuhause unterrichtet worden war und die sie nicht schlecht — wenn auch ungern — beherrschte. Allein, wer sie in der Nähstube mit einer halbfertigen Flagge in der Hand am Fenster sitzen sah, und sie beobachtete, wie sie öfter zum Fenster hinaus als auf ihre Handarbeit blickte, wer ihr leises Seufzen und ihre leidenden Blicke wahrnahm, konnte ermessen, wie verhaßt ihr diese Tätigkeit war. So verwunderte es nicht, daß sie für ihre Arbeit dreimal so lange brauchte, wie jede andere der Näherinnen.

So kam es, daß man sie bald hier, bald da im Ort herumstreifen sah. Es war keineswegs Bequemlichkeit oder Arbeitsscheu, die sie nirgends verweilen ließ, denn wo immer sie hinkam und man einer helfenden Hand bedurfte, legte sie mit Hand an. Am liebsten verbrachte sie ihre Zeit bei den Pferden, deren Zahl sich mit jener der Fremden im Dorfe vervielfacht hatte.

echte Begeisterung zeigte sie aber erst, als eine Jagdgesellschaft in die umliegenden Wälder geschickt wurde, um für die vielen zu verköstigenden Menschen frisches Fleisch zu besorgen. Im Nu hatte sie ihr Pferd gesattelt und ihren Bogen gespannt. Und wer hätte es gewagt, sie wieder nach Hause zu schicken?

So geschah es, daß sie gar nicht im Dorfe war, als atemlose Reiter von ihren dampfenden Rössern stürzten und den Regenten zu sprechen begehrten. Sie brachten eine Nachricht, die alle in erstaunen und große Aufregung versetzte, denn hiermit hatte wirklich niemand gerechnet: Carlan war gefallen.

Die beiden Reiter übergaben Peter ein Schreiben aus Carlan. Es war von dem Schultheiß der Stadt und dem stellvertretenden Gouverneur der Provinz unterzeichnet und trug ein Siegel, bei dem das Zeichen des Regenten — der Lorbeerkranz und die gekreuzten Schwerter — fehlte. Nachdem man den Boten einen Begrüßungstrunk gereicht hatte, wie es von Alters her Sitte war, berichteten sie den staunenden und gebannt lauschenden Zuhörern folgendes:

In der Stadt Carlan hatten die wildesten Gerüchte über das Erscheinen eines Retters und Nachfolgers König Brunnars des Starken — etwas genaues wußte natürlich niemand — die Bevölkerung in helle Aufregung und den Statthalter in seinem gut befestigten Palast in Furcht versetzt. Aus der Hauptstadt war schon lange keine Nachricht mehr gekommen. Die Truppen, die er zur Verstärkung der Garnison angefordert hatte, waren, obwohl längst überfällig, noch immer nicht eingetroffen. In diese angespannte Lage hinein platzte plötzlich die Nachricht von der Vernichtung der Schatten und der Zuhörern der Steuergelder durch einen jungen Prinzen und eine Handvoll Männer aus der Provinz. Die Stimmung in der Stadt kochte über. Die Steuern waren erst kürzlich wieder erhöht und eingetrieben worden. In der Bevölkerung hatte sich ein ziemlicher Haß auf den Regenten, mehr aber noch auf seinen Statthalter, dessen Stranges Regiment sie zu erdulden hatten, aufgestaut. Überall in den Straßen bildeten sich Volksaufläufe, die Wirtschaften quollen über, alle Bewohner versammelten sich in den Straße und auf den Plätzen. Die Stadtknechte vermochten keine Ordnung zu schaffen. Die Besatzung der Garnison war vollauf beschäftigt, die Mauern und Stadttore zu besetzen und natürlich den Palast zu sichern.

Als bald darauf weitere Boten eintrafen und die Berichte der ersten bestätigten und ergänzten, da war es geschehen. Der aufgestaute Volkszorn brach los. Empörte Bürger rotteten sich zusammen. Die Hauptwache wurde gestürmt. Die Gefangenen wurden aus ihren Zellen befreit und an ihrer Statt die Wachen festgesetzt. Mit den erbeuteten Waffen stürmte man gegen die Kaserne. Deren Kommandanten war glücklicherweise ein vernünftiger Mensch, der einsah, daß es keinen Sinn hatte, mit den wenigen Offizieren junge Rekruten auf die zivile Bevölkerung zu hetzen. Daher erklärte er sich neutral und versprach, nichts gegen die Bürger zu unternehmen, bis die Lage sich geklärt habe und er neue Befehle von seinen Vorgesetzten oder dem jeweiligen Machthaber erhielt. Die Besatzung der Stadttore war bestens ausgerüstet, einen Angreifer von außen abzuwehren; die Bedrohung von innen kam aber völlig unerwartet und traf die Wachen unvorbereitet. Die meisten der Männer hatten selber Frau und Kinder in der Stadt und waren nicht geneigt, die Waffen gegen ihre Mitbürger zu erheben. Sie waren zwar keine Revolutionäre und hätten im Namen des Regenten oder des Statthalters auf jeden Feind der Stadt geschossen. Aber in diesem Falle sahen sie keine Veranlassung einzugreifen. Die meisten kommandierenden Offiziere der Wache waren jedenfalls so klug, keine Torheiten zu begehen und sich zurückzuhalten, andernfalls wurden sie von ihren Untergebenen überwältigt, entwaffnet und ungeachtet ihres Protestes und ihren Drohungen im Stadtgefängnis festgesetzt.

Einzig die Palastwache leistete erbitterten Widerstand. Gegen sie konnten die Bürger nichts ausrichten. So errichteten sie rings um den Palast Barrikaden und verhinderten so einen Ausfall. Dem Statthalter blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und als Gefangener in seinem eigenen Palaste auf Entsatz durch die Truppen des Regenten zu warten.

Dieser aber ließ durch Boten bestellen, daß er im Augenblick nicht im Stande wäre, Entsatz zu senden, und daß der Statthalter noch mindestens sechs Wochen warten müsse, bis er ihm einige Truppen schicken könne. Diese Nachricht war für den Statthalter eine Hiobsbotschaft. Einer Belagerung von sechs Wochen standzuhalten wäre für die Stadt Carlan kein Problem, selbst jetzt im Frühjahr, wo die Vorratsspeicher nur noch zu einem kleinen Teil gefüllt waren. Der Gouverneurspalast hingegen war darauf nicht eingerichtet. Neben dem Statthalter und seiner Familie lebten in dem Palastbezirk eine größere Anzahl Beamter, Diener und Lakaien, sowie die Palastwache, die eine eigene Kaserne besaß. Alle diese Menschen müßten versorgt werden. Es bestand zwar die Möglichkeit, den Palast durch verschiedene unterirdische Geheimgänge zu verlassen, aber das war riskant und würde dem Flüchtling nichts nützen, da die Stadttore verschlossen waren und von der Bürgerwehr scharf bewacht wurden. Außerdem wäre es unmöglich, unbemerkt so große Mengen Proviants auf diesem Wege in den Palast zu schmuggeln. So wurden diese geheimen Gänge allein von den Boten und Spionen des Statthalters benutzt, deren Nachrichten alles andere als ermutigend waren.

Endlich beschloß der Statthalter, der ein kluger, aber feiger Mann war, daß es das Beste sei, mit den Aufständischen zu verhandeln. Nach drei Tagen zäher Unterhandlungen hatte man sich darauf geeinigt, dem abzugsbereiten Statthalter und seinen Angehörigen und Dienern freies Geleit aus der Stadt zu gewähren. Diese Chance nutzte der gewitzte Mann, dem es ratsamer erschien, das sinkende Schiff mit den Taschen voller Gold zu verlassen, als darauf zu warten, daß ein unzuverlässiger Regent Hülfe entsände, oder er von den Rebellen einen Kopf kürzer gemacht würde.

Auf solch gute Nachrichten hatte in Goldbrunn niemand zu hoffen gewagt. Peter war hellauf begeistert. Die Eroberung Arkaniens schien sich viel einfacher zu gestalten, als er es sich je hatte träumen lassen. Jetzt hatten sie eine große und mächtige Stadt mit Mauern und einer Garnison auf ihrer Seite. Sie Stadt war gut befestigt und wohl ausgerüstet, trotz des allgemein schlechten Zustandes und der drängenden Not im Lande. Um Carlan zu einzunehmen, bedürfte der Regent mehr als eines Bataillons von Schattenkriegern. Und woher sollte jener auf die Schnelle eine Armee von einigen Tausend Kriegern aufbieten?

»Wir müssen so bald wie möglich zurück nach Carlan reiten«, meinte Peter.

»Aber wir sollten doch Meister Callidon besuchen«, warf Alissandra ein.

»Gewiß, das werden wir auch zuerst tun. Dann aber muß ich nach Carlan. — Wilo, würdest du als mein Gesandter und Bevollmächtigter mit einer Delegation nach Carlan voraus reisen?«

»Ich hätte den alten Hexenmeister zwar gerne kennen lernen, aber ich denke, daß muß noch eine Weile warten. Ich kann sofort aufbrachen.«

»Callidon ist kein ,Hexenmeister’« protestierte Alissandra heftig, die nichts auf ihren ehemaligen Hofmeister kommen ließ.

»Morgen ist auch früh genug, um aufzubrechen«, befand Peter. »Ich denke, wir anderen könnten uns ebenfalls morgen auf den Weg machen«, sprach er zu den Mädchen gewandt.

»Dann heißt es wohl Abschied nehmen«, sagte Alissandra zu Wilo. »Jedenfalls für eine weile.« Ihr war ganz seltsam zumute. Nach vielen Wochen gemeinsamer Reisen und Abenteuer auseinander zu gehen, war nicht leicht. Tamina und Peter ging es ebenso. Alle versuchten sie, ihre Geschäfte so rasch es ging zu erledigen, um noch so viel Zeit wie möglich gemeinsam verbringen zu können. Natürlich sahen alle es ein, daß man die Lage in Carlan nicht lange im ungewissen belassen konnte, daß rasch gehandelt und Ordnung geschafft werden mußte.

Die Nachricht ihrer baldigen Abreise rief in dem Dorfe Goldbrunn eine große Enttäuschung, ja geradezu Bestürzung hervor; dennoch sahen alle deren Notwendigkeit ein. Es kostete die vier Freunde viel Mühe und Überredungsgabe, sich von den gesellschaftlichen Verpflichtungen loszulösen, um den Tag mit einem gemeinsamen Abendmahl zu beschließen.

Die vier hatten sich, nachdem ein jeder seine Sachen gepackt und für die bevorstehende Reise gerichtet hatte, in dem kleinen Ratssaale, das während der vergangenen Tage als Peters Amtszimmer und Büro gedient hatte, zusammengefunden. Der Wirt der Dorfschenke hatte ein besonders köstliches Mahl zubereitet, welches die Freunde allein und ohne die Anwesenheit von Dienern und Kellnern sich selber vorlegten. Die Stube war von ausgelassener, aber zuweilen recht melancholischer Fröhlichkeit erfüllt, die in ihrer Intensität beinahe etwas unheimliches an sich hatte.

»Mußt du uns wirklich schon verlassen?« brachte Tamina endlich die rede auf den Punkt.

»Du weißt, daß es sein muß. Aber Carlan ist nicht weit so entfernt von Callidons Berg. Sobald es geht, will ich euch besuchen kommen. Das verspreche ich dir.« Wilo lächelte Tamina aufmunternd an. Doch auch er war ein wenig traurig gestimmt. Peter und die beiden Mädel waren ihm in den vergangenen Wochen mehr ans Herz gewachsen, als er sich selber eingestehen wollte.

»Laßt und doch ein paar alte Lieder singen!« schlug Wilo vor, dem die Stimmung unerträglich drückend wurde.

»Ja, das ist eine gute Idee«, sagte Alissandra rasch und ging die alte Laute holen, die sie vor Tagen auf dem Speicher gefunden hatte. Sie stimmte einige Akkorde an, dann begann sie mit heller, aber ein wenig belegter Stimme zu singen. Die andern fielen mit ein. Nur Peter, der das Lied nicht kannte, lauschte aufmerksam der verschiedenen Klängen und Stimmen. Die Melodie war eingängig und so summte er bereits die zweite Strophe mit.

Auf diese Weise klang ihr vorläufig letzter gemeinsamer Abend aus. Sie sangen noch manche Lieder, tranken süßen Wein und saßen beieinander. Zuletzt wurden sie immer stiller und auch sehr müde, und am Ende lauschten sie schweigend, wie Alissandra verträumt seltsame Melodien auf der Laute klimperte. Es war unmöglich zu sagen, ob es alte, fremd klingende Lieder oder bloße Improvisationen ihrerseits waren, aber die Klänge hatten etwas verträumt-wehmütiges, das wunderschön und schmerzvoll zugleich klang.

Als sie das Instrument schließlich aus der Hand legte, gingen sie müde zu Bett. Am nächsten Morgen würden sie früh aufstehen müssen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Peter endlich einschlief, obgleich er vor Erschöpfung die Augen kaum offenhalten konnte. Morgen gegen Mittag sollten sie Callidons Haus erreichen. Vielleicht könnte er dort zwei oder drei Tage verbringen, dann aber würde er endlich nach Carlan aufbrechen müssen — ohne die beiden Mädchen, ohne Alissandra! Peter stöhnte leise und warf sie auf den Bauch. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken, sonst würde er noch im Morgengrauen wach liegen.

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