XIII. KAPITEL

Zauberei

 

Beim ersten Tageslicht sattelten sie ihre Pferde. Wilo wollte die anderen noch ein Stück Weges begleiten, bevor sich ihre Wege endgültig trennten. Der Abschied von den Dorfbewohnern war ein inniger und langer, und eine Zeitlang schien es, als würden die Menschen sie gar nicht mehr ziehen lassen. Eine große Menschenmenge begleitete die Reiter zu Fuß bis an die Grenzen der Gemeinde.

Nicht lange danach gelangten sie an eine Weggabelung. Wilo hielt sein Pferd an und stieg ab. »Jetzt ist es wohl so weit«, sagte er. Die anderen taten es ihm gleich. Peter schüttelte dem Freund die Hand und wünschte ihm alles Gute. Tamina und Alissandra umhalsten ihn herzlich.

»Lebt wohl und ärgert mir den armen Peter nicht zu sehr«, rief er ihnen zu. Dann schwang er sich rasch auf sein Roß und fort war er im Galopp.

»Kommt jetzt! Wir machen uns besser ebenfalls auf den Weg. Vielleicht sind wir bis zum Mittag schon dort«, sagte Peter, dem lange Abschiede ein Greuel waren.

Auf der neuen Landstraße kamen sie rasch voran. Zwar ging es ab jetzt bergauf, aber die Pferde waren noch frisch und trabten willig vorwärts.«Seht ihr den Felssturz dort oben?« rief Alissandra und deutete mit der ausgestreckten Hand in die Richtung. »Dort oben über den Baumwipfeln. Dahinter liegt eine Ebene, die gleich an den Garten von Callidons Haus anstößt. Von dort oben hat man einen herrlichen Blick über das ganze Tal. Bei schönem Wetter kann man sogar das kleine Felsengebirge sehen.«

»Woher weißt du das alles? Du warst doch nie dort, oder?« wunderte sich Peter.

»Callidon hat das Häuschen und den Garten in seinen Briefen an Onkel Arlin genau beschrieben. Und natürlich auch die Aussicht vom Berg. Seht ihr den Hügel dort? Links dahinter — man kann es von hier nicht sehen — , muß sich ein kleines Dorf befinden. Es sind nur einige Häuser und Bauernhöfe. Auf der rechten Seite fließt ein Bach. Wenn wir ihm folgen, gelangen wir auf einen Pfad, der durch den Wald auf die Bergkuppe führt.«

Alissandras Beschreibung traf zu. Sie folgten dem Bachlauf bis zu einem schmalen Waldpfad, der gerade breit genug war, daß ein Pferd sich zwischen dem Unterholz durchzwängen konnte. Der Wald wurde allmählich dichter, so daß sie absteigen und die Pferde führen mußten, wenn sie nicht riskieren wollten, mit dem Kopf an irgend einem herabhängenden Ast hängen zu bleiben. Auch die Pferde hatte Mühe, sich einen Weg zu bahnen. Für Tiere, die für ein Leben auf weiten offenen Steppen gemacht sind, ist ein dicht bewachsener Wald nicht gerade ein angenehmer Ort. Es kostete die drei Reiter einige Überzeugungskünste, ihre Rosse durch das, zu dieser Jahreszeit besonders dicht wuchernde Geäst zu lotsen.

»Könnten wir nicht eine kleine Rast einlegen?« keuchte Peter und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es ging gerade ziemlich steil bergauf.

»Es ist nicht mehr weit. Wir sind gleich oben«, sagte Alissandra. Der Weg wurde noch steiler. Zwischen den Bäumen lagen große, von Moos und Flechten teilweise überwucherte Kalksteinfelsen.

Endlich begann sich der Wald zu lichten. Sie hatten die Bergkuppe erreicht. Das obere Ende des Berges erwies sich als eine halbwegs flache Ebene von etwa vierhundert Metern im Quadrat. Einen großen Teil davon nahm eine grüne, leicht abschüssige Wiese ein, auf der eine kleine Schar wolliger Schafe friedlich weidete.

»Dort ist ein Haus!« rief Tamina plötzlich. Von einem Haus war freilich noch nichts zu sehen, aber beim genauen Hinsehen konnte man am Horizont über der Wiese eine dünne Rauchsäule gen Himmel steigen sehen.

»Du hast recht. Jetzt erkenne ich den Schornstein.« Alissandra stieg auf ihren Wirbelwind und trieb ihn eilig auf das Haus zu.

Callidons Haus war ein kleines Häuschen mit einem steilen Dach. An der einen Seite war ein zierliches Türmchen angebracht, welches den Giebel um einige Meter überragte. Rings herum erstreckte sich ein hübscher Garten, der mit duftenden Frühlingsblumen bestückt, in den prächtigsten Farben erstrahlte. Seitlich und hinter dem Haus ging der Blumengarten in einen ordentlichen Küchen- und Kräutergarten über, dessen sauber abgegrenzte Beete die reiche Ernte des Sommers erahnen ließen.

Sie stiegen ab und banden die Pferde am dem schmucken weißen Gartenzaun fest, der das zierliche Anwesen umgab und erst kürzlich frisch gestrichen worden war. Das niedere Gartentor stand einladen offen. Ein kiesbestreuter Weg führte geradewegs zu einer leuchtend rot gestrichenen Tür, die sich dekorativ von der weiß getünchten Fassade mit den grünen Fensterläden und dem hellen Ziegeldach abhob.

»Meister Callidon!« rief Alissandra aufgeregt. »Meister Callidon! Seid Ihr zu Hause?« Sie lief auf die Tür zu und wollte gerade nach dem eisernen Ring greifen, als sich die Tür auftat. Ein hochgewachsener, weißhaariger Greis stand im Rahmen und blinzelte mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne. »Fräulein Alissandra, seid Ihr es?« — »Ja, ich bin’s wirklich!« Alissandra ergriff die Hand des Alten und drückte sie heftig.

»Alissandra, Kind. Du bist es wirklich. Was bist du groß und erwachsen geworden. Laß dich anschauen!« Peter, der mit Tamina am Gartentor stehen geblieben war, betrachtete den würdigen Greis aufmerksam. Trotz seines schneeweißen Hauptes und dem ebensolchen Barte, der jedem Weihnachtsmann zur Ehre gereicht hätte, wirkte die schlanke, drahtige Gestalt, sonderbar jung, beinahe jugendlich. Es war unmöglich, Callidons Alter zu schätzen. Er hätte ebenso achtzig wie fünfzig sein können. Dies also war der berühmte Callidon, der Magier und Philosoph. In der Tat hatte der Mann etwas merkwürdiges an sich. Es dauerte eine Weile, bis Peter bemerkte, daß es an der Kleidung des Mannes lag. Sie war nicht arkanisch. Vielmehr sah er aus, wie man sich einen Gelehrten aus dem Mittelalter vorstellte — gleichwohl der Anzug nicht wirklich historisch war, er wirkte nur so. Callidon trug einen langen, hochgeschlossenen, wadenlangen Rock von dunkelblauem, schweren Stoff, der an Kragen und Saum mit einer schmalen Pelzborte besetzt war. Darunter leuchtete ein steifer weißer Hemdkragen hervor. Die Ärmel waren weit und hatten lange Stulpen.

Alissandra hatte ihre Begrüßung inzwischen beendet und trat zu Peter und Taminen. »Meister, das hier sind meine Freunde Peter und Tamina.«

Tamina machte einen schüchternen Knicks während Peter eine höfliche, aber ein wenig steife Verbeugung andeutete.

»Seid gegrüßt, ehrwürdiger Herr!« Dies war die landesübliche Anrede eines Mannes von Callidons Alter und Stand. Callidon trat auf Peter zu und musterte ihn scharf aus blaßblauen, durchdringenden Augen.

»Du also bist der berühmte Prinz von Arkanien«, sagte er. »tretet ein, ich habe euch bereits erwartet.« Sanft schob er die Staunenden ins Innere des Hauses.

Drinnen war das Haus, so schien es Peter, viel größer, als es äußerlich den Anschein machte. Im Erdgeschoß befanden sich die Küche, das Speisezimmer und ein gemütlich wirkender altmodischer Salon, der eigentlich vom Stil der Ausstattung und Möblierung her nicht ins südliche Arkanien zur Zeit des Regenten Tiras paßte. Im ersten Stock lagen ein geräumiges Badezimmer, das Schlafzimmer Callidons, sowie zwei weitere Gästezimmer, wo Callidon Peter und die Mädchen unterbrachte. Es waren drei Betten hergerichtet und frisch bezogen worden, als hätte er genau gewußt, welche Gäste ihn heute beehren würden. Peter fand es beinahe unheimlich, wie er Alissandra heimlich zuraunte. Sie aber lachte nur und meinte, Callidon sei eben ein Weiser, der die Zeiten der Vergangenheit ebenso erforscht hätte, wie jene der Zukunft. Mit dieser rätselhaften Bemerkung, mit der Peter wenig anfangen konnte ließ sie ihn stehen und folgte Callidon in ihr neues Schlafzimmer. Peter hingegen beschloß, diesem geheimnisvollen Alten bei Gelegenheit näher auf den Zahn zu fühlen.

Oben, unter dem Dach befanden sich das Studierzimmer des Weisen, wo eine kleine Tür zu dem angebauten Turm führte. Diese Räume bekamen die drei aber nicht zu sehen, ebensowenig, wie das alchimistische Laboratorium, das irgendwo im Keller lag; vielmehr gab Callidon den dreien zu verstehen, daß er diese Räume als sein Heiligtum betrachtete, das zu betreten nur ihm allein oblag. Dabei blickte er Peter besonders scharf an, der den Blick aber herausfordernd erwiderte.

»Was er da wohl treibt? Vielleicht versucht er Blei in Gold zu verwandeln oder er erzeugt kleine Männlein, die er in Glaskolben hält«, meinte Peter leise spottend zu Taminen. Leider nicht leise genug, denn Callidon, obgleich er in einiger Entfernung stand, schien seine Worte vernommen zu haben und sprach zu Peter: »Nein, mein junger Freund, weder das eine noch das andere; obzwar ich in meiner Jugend von derlei Versuchen viele ausgeführt habe. — Hütet euch dennoch davor, diese Räume in meiner Abwesenheit zu betreten und rührt um Himmels Willen nichts an! — es könnte gefährlich sein — sehr gefährlich«, setzte er geheimnisvoll hinzu.

»Sag’s mir, wenn du irgendwo eine schwarze Katze oder einen sprechenden Raben findest«, sagte Peter zu Alissandra, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Callidon diesmal nicht in der Nähe stand. Callidon führte sie durch Haus und Garten. Letzterer hatte es Tamina besonders angetan. Neben prächtigen Blumenbeeten im Vorgarten, erweckten die ungeheure Vielfalt an Küchenkräutern und Heilpflanzen im Nutzgarten ihre Bewunderung. Sie selber hatte zu Hause einiges an Zeit und Mühe darauf verwandt, die für die Wirtshausküche benötigten Kräuter und Gewürze heranzuziehen und konnte daher gut ermessen, wieviel Aufwand und Pflege hinter den unscheinbaren Beeten stand.

»Ich habe in meinem Laboratorium und im Turm noch mehr Pflanzen in Töpfen und Kübeln. Es sind seltene Exemplare auf fernen südlichen Ländern, welche die rauhe Luft und den Frost nicht vertragen. — Jetzt müßt ihr euch aber erst einmal von der langen reise ausruhen und stärken. Viel kann ich euch im Augenblick nicht anbieten, aber nach Mittag will ich unten im Dorf einiges für ein leckeres Abendessen einkaufen gehen.«

»Kann ich mitkommen und Euch beim Tragen helfen?«

»Ja, danke Tamina. Das ist lieb von dir.«

Peter trug das Gepäck ins Haus, derweil Alissandra die Pferde versorgte. Hinter dem Haus stand ein Stall, in welchem ein kleiner grauer Esel und zwei schwarze Ziegel untergebracht waren. Mit den drei Pferden wurde es ziemlich eng, aber bei dem schönen, milden Wetter konnte man sie auch über Nacht im Freien weiden lassen.

Tamina half in der Küche und deckte den Mittagstisch. Das Essen bestand aus einem köstlichen Eintopf, dazu gab es geräucherten Schinken und einen wunderbar duftenden Apfelkuchen. Alissandra war ganz begierig darauf, Callidon alles zu erzählen, aber dieser bestand darauf, daß sie zuerst etwas essen müsse. Zum Erzählen sei später noch genug Zeit; überhaupt sei sie so dünn und lang geworden, daß es fast nicht schicklich sei. Aber er versprach, sie bald wieder aufzupäppeln. Peter lächelte still vor sich hin, bei dem Gedanken, wie sie nach einigen Monaten guter Kost wohl aussehen würde.

»Mädchen, wie bist du nur angezogen! So ganz in Hosen und Stiefeln, gerade wie ein Kerl. Ich erinnere mich noch an das hübsche rosa Kleid, welches du an deinem Geburtstag trugst. So etwas sollte eine hübsche junge Dame tragen.« Alissandra lächelte höflich, während Peter und Tamina einander grinsend vielsagende Blicke zuwarfen. Alissandra in einem rosa Kleid — welch ein Anblick!

»Überhaupt seht ihr recht mitgenommen aus, aber ich glaube, ich habe da etwas passendes für euch.«

Nach dem Essen mußte Callidon sich ein wenig zur Ruhe begeben. Peter und Alissandra kümmerten sich um das Geschirr. Und es gelang ihnen tatsächlich, alles abzuwaschen, abzutrocknen und in den Schrank zu stellen, ohne ein einziges Stück zu beschädigen.

»Äh, Peter?«

»Ja?«

»Ich habe dich beobachtet, als Callidon vorhin über die Kleider sprach —.«

»Ja, und?«

»Findest du auch… — ich meine — sollte ich wirklich so ein langes Kleid tragen?«

Peter lächelte. Am liebsten hätte er ihr gesagt, sie sollte lieber ein kurzes Kleid anziehen, verkniff sich aber diese Bemerkung. Statt dessen antwortete er:

»Naja, ich denke, blau steht dir besonders gut. Es paßt zu deinem Haar. Besonders, wenn du es so trägst, wie an unserem ersten Abend im Schloß.«

»Das ist aber sehr aufwendig. Aber mal sehen. Ich denke, ich nehme nachher ein schönes, heißes Bad. Callidon hat eine riesige Badewanne aus echtem Kupfer. Die könntest du übrigens ruhig auch mal benutzen.« Sie grinste hämisch.

»Was soll das heißen? Willst du damit etwa andeuten, daß ich stinke?« rief Peter erbost.

»Nicht mehr als ein Hengst«, antwortete sie frech.

»Na warte…« Aber Alissandra war wieder einmal flinker. Peter versuchte unauffällig an sich zu schnuppern. Ein leichtes Aroma von Pferd ließ sich nicht leugnen. Aber das war doch ganz normal, wenn man den ganzen Tag auf einem Gaul saß.

Während die Mädchen ihr Zimmer einrichteten, stöberte Peter ein wenig in dem hause herum. Die Räume im Erdgeschoß waren recht einfach, aber schön und edel eingerichtet. Die Wände waren bis in halber Höhe mit dunklem Holz getäfelt. Der Fußboden bestand aus Steinfliesen und aus einfachen Dielen und war zuweilen mit bunten geflochtenen Matten und einfachen Webteppichen ausgelegt. An der Wand zwischen dem Speisezimmer und dem Salon war ein riesiger Kachelofen so angebracht, daß er beide Räume zugleich beheizte. Die Fenster waren verhältnismäßig groß, was bei dem milden Klima im Süden häufiger anzutreffen ist, als in den nördlicheren Gegenden. Die Scheiben waren klein und in Blei gefaßt. Das Mobiliar war eher einfach gearbeitet, dafür war es von massiver Qualität und machte einen soliden Eindruck. Die Schränke waren riesig, die Tischplatten hätten einen Elephanten getragen und die Stühle waren so schwer, daß man sie kaum heben konnte. Im Großen und Ganzen aber wirkte das Haus gut bürgerlich und machte keineswegs den Anschein eines Hexenhauses, oder einer Alichimistenwerkstatt.

»Ich frage mich, was für eine Art von ,Zauberer’ dieser Callidon ist«, dachte Peter. Vielleicht sah die Studierstube ,magischer’ aus. Wenn der Alte ins Dorf gegangen war, könnte er vielleicht einen Blick riskieren.

Vorläufig mußten seine Erkundungspläne aber zurückstehen, denn Callidons Mittagsschläfchen zog sich in die Länge. Endlich ging die Tür seines Schlafzimmers auf und der freundliche Alte rief die jungen Leute zu sich.

»Seht mal, was ich für euch habe«, sagte er und trug einige Kleidungsstücke herbei, die er einer Truhe vor seinem Bett entnommen hatte.

Tamina erhielt ein langes hellblaues Kleid aus schimmernder Seide, mit dazu passenden Bändern. Die Kleine war ganz außer sich vor Freude. Zuerst wagte sie das kostbare Geschenk gar nicht anzunehmen, und Callidon mußte sie davon überzeugen, daß es für ihn eine Kleinigkeit war, dergleichen herbeizuzaubern. »Es ist einfach unglaublich. So etwas schönes habe ich noch nie besessen«, rief sie mit glühenden Wangen.

Für Alissandra hatte Callidon ein ähnliches Kleid aus dunkelblauer Seide, mit weißen Perlen und glitzernden Steinen besetzt. Das Kleid war eine Pracht, ein Kunstwerk. Peter konnte es kaum erwarten, sie darin zu betrachten, zumal es über ein, für arkanische Verhältnisse recht gewagtes Décolleté verfügte.

Zuletzt war Peter an der reihe, neu eingekleidet zu werden. Was Callidon da aus seiner schier unerschöpflichen Kleidertruhe zum Vorschein brachte, ließ Peter erst einmal trocken schlucken. Für ihn hatte der alte Herr einen aufwendig gearbeiteten Anzug aus schimmerndem Sammetstoff ausgesucht. Ärmel und Hosen waren ballonartig gepauscht und geschlitzt. Aus den Schlitzen glänzte leuchtend weiße Seide hervor. Die Kniehosen wurden von silbernen Schnallen gehalten. Dazu gehörten Seidenstrümpfe und flache, spitze Schuhe. Die Ärmel des Wamses waren mit geflochtenen Schnüren befestigt und mündeten in engen, spitz auslaufenden Manschetten. Ein weit geschnittenes, weißes Hemd mit einem in Falten gelegten Kragen, sowie eine weite, kreisrunde, weiche Kappe aus dem selben Stoff im Stile einer Baskenmütze, nur viel größer, vervollständigten seine Garderobe. Das Kostüm sah fabelhaft aus, allein die Farbe machte Peter etwas Mühe.

»Violett?? Ist das Ihr Ernst?«

»Junger Mann, zu meiner Zeit war das ungeheuer in Mode«, erwiderte Callidon leicht gekränkt. Nach einem aufmunternden Rippenstoß von Alissandra beeilte Peter sich, seine Adjustierung zu loben; schließlich wollte er den freundlichen Spender nicht kränken. Gleichwohl fragte er sich insgeheim, vor wieviel hundert Jahren ,meine Zeit’ gewesen sein mochte.

Eine provisorische Anprobe ergab, daß die neue Garderobe perfekt paßte, was ein nicht geringes Erstaunen hervorrief. Callidon aber schien sich köstlich zu amüsieren. Als sich die Aufregung über die schönen und kostbaren Geschenke gelegt hatte, mahnte Callidon sich und Tamina zur Eile. »Jetzt müssen wir aber los, wenn wir auf dem Markt noch etwas gutes bekommen wollen.«

»Wieso ,zaubert’ er uns nicht einfach etwas zu essen?« fragte Peter Alissandra.

»Mein Junge, wenn du dich ernsthaft mit den Geheimnissen der Natur beschäftigt und in der Schule besser aufgepaßt hättest, dann wüßtest du, daß gezauberte Speisen entweder nicht gut schmecken oder aber nicht nahrhaft sind. In der Tat kannte ich nur einen einzigen der alten Meister, der beides zugleich fertig brachte. Aber das war noch in den alten Tagen Arkaniens.« Peter nickte schweigend und fragte sich, was hierzulande für merkwürdige Dinge in den Schulen gelehrt wurden. ›Es wird höchste Zeit, daß ich hier eine Schulreform einführe, damit nützliche Fächer unterrichtet werden, wie Physik, Chemie und Geometrie‹, dachte. Naja, vielleicht doch keine Geometrie, dachte er als er sich seiner eigenen Zensuren in diesem Fache entsann.

Callidon ging hinaus, um den kleinen Esel aufzuzäumen, der die Einkäufe den Berg hinauf tragen sollte.

»Ich glaube, es verletzt ihn, wenn du immer über die Zauberei spottest«, meinte Alissandra zu Peter. »Ich finde, Callidon ist so nett. Da könntest du ruhig ein wenig mehr Rücksicht nehmen.« Peter versprach reumütig Besserung. Aber angesichts dessen, was sich noch am selben Nachmittag ereignen sollte, schien sein guter Vorsatz nicht viel wert zu sein.

»Macht’s gut, ihr beiden. Wir sind in zwei bis drei Stunden wieder zurück.«

»Ich gehe jetzt baden«, sagte Alissandra. »Du kannst mir dabei helfen…«

»Beim Baden?!« Peter horchte auf.

»Das könnte dir so passen! Nein, du kannst mir helfen indem du das Wasser ins Bad hinauf trägst.« Peter seufzte insgeheim. Das wäre ja auch zu schön gewesen.

In dem Häuschen auf dem Berg gab es leider keine Wasserleitung, dafür aber einen Brunnen vor dem Haus. Es gab zwei Pumpen. Eine befand sich in der Küche neben dem Schüttstein, die andere war draußen vor dem Haus angebracht. Das Wasser mußte die Treppe hinauf ins Badezimmer getragen werden, wo es in einen hohen, runden Badeofen geschüttet wurde, eine Art großen Heizkessels, der wie ein gewöhnlicher Ofen mit Holz und Kohlen befeuert wurde.

Während Alissandra sich mühte, das Feuer in Gang zu bringen, schleppte Peter die schweren Wassereimer die Treppe hinauf, wobei die Treppe gleich mitgewaschen wurde. Alissandra lachte. »Peter, ich sehe, du willst die Treppe aufwischen. Das wird Meister Callidon sicher freuen. Den Lappen findest du in der Küche unter dem Schüttstein.«

»So! Das ist jetzt der letzte Eimer, den ich schleppe. Den Rest kannst du selber tragen«, rief Peter und streckte sich bis es knackte. Er ließ die Eimer vor dem Bad stehen und ging auf die Suche nach dem Putzlappen.

Das Haus Callidons erschien ihm riesig und der Weg von der Küche bis in den ersten Stock endlos. Wer bereits einmal einen Fußboden auf den Knien aufgewischt hat, der weiß wie Peter sich fühlte. Natürlich stellte er sich nicht besonders geschickt dabei an. Es war — das muß man zu seiner Entschuldigung sagen — das erste Mal, daß er sich mit Hausarbeit beschäftigte, daher war es nicht weiter verwunderlich, daß er den kapitalen Fehler beging, unten anzufangen, um sich dann die Treppe hinaufzuarbeiten. Als er auf der zweitobersten Stufe angelangt, den Eimer umstieß, der scheppernd und polternd seine braune Flut abwärts goß, konnte man in dem sonst so stillen Hause einige Ausdrücke vernehmen, sie sogar Alissandra fremd waren.

»Peter? Was ist passiert? Bist du die Treppe hinuntergefallen?«

»Nein, mir geht es gut!« sagte er gereizt, aber die Farbe seines Gesichts ließ sie um seine Gesundheit fürchten.

Beim zweiten Anlauf hatte Peter mehr Glück. Treppe und Diele waren trocken und blitzblank. Callidon und Tamina waren im Dorf, Alissandra plätscherte fröhlich in der Wanne, die Gelegenheit war also günstig, um sich ein wenig in Callidons Studierstube umzusehen.

Callidons Reich lag zuoberst unter dem Dach. Es bildete zwei Mansardenzimmer, davon eines mit Schränken und Stellagen voller Bücher, Schriftrollen und Stapeln von Papier bestückt war. Die andere war angefüllt mit einer kuriosen Mischung aus allerlei seltsamen und grotesken Gegenständen. Ein Tisch war übersät mit Gläsern, Röhren, Tiegeln und Phiolen, sowie anderen chemischen Werkzeugen, wie Löffeln, Meßkolben und Waagen. An den Wänden hingen Karten, Zeichnungen und Tabellen mit Zahlen und geheimnisvollen Zeichen und Symbolen. Auf einem separaten Tischlein stand eine große durchsichtige Kristallkugel auf einem Holzfuß. Darüber an der Wand hing in einem silbernen Rahmen ein Spiegel, der mit einem dunklen Bart beklebt war, dergestalt, daß, wenn man sich davor stellte und den richtigen Abstand einnahm, man sein Gesicht mit einem Bart sah.

Peter schmunzelte. »Dieser Callidon ist wirklich ein Spaßvogel. Wozu das gut sein mag?« Er wollte sich eben zum gehen wenden, als sein Blick auf einen Sessel in der Ecke fiel. Dort lag eine Art von Mantel aus dunkelblauer Seide, der über und über mit silbernen und goldenen Sternen besetzt war. Auf dem Mantel lag, ordentlich gefaltet, ein spitzer Hut von der selben Beschaffenheit. Peter hob beides auf.

Ein helles Klingen ließ ihn aufhorchen. Peter bückte sich um nach dem herabgefallenen Gegenstand zu sehen. Er fand ihn unter dem Sessel, wohin er gerollt war. Es war ein kurzer, dünner schwarzer Stab, an deren Enden sich zwei silberne Kappen befanden.

»Ein Zauberstab. Das ist ja irre!« Peter konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er schlüpfte in den Mantel und setzte sich den Hut auf.

»Mit diesem Bart sehe ich fast wie Callidon aus«, meinte er lachend, als er sich vor dem bärtigen Spiegel drehte und betrachtete. Das mußte er unbedingt Alissandra zeigen. — Was war das? Peter lauschte aufmerksam. Alissandra rief von unten nach ihm.

»Peter! Wo bist du? Ich brauche unbedingt noch mehr Wasser. Sei doch so lieb und hole sie mir. Ich kriege sonst den Schaum nicht ab.« Auch das noch! Schon wieder sollte er Wasser schleppen.

»Komm aber nicht einfach rein. Es reicht, wenn du sie vor die Tür stellst und anklopfst.« Peter brummte eine unverständliche Antwort. Warum hatte Callidon auch keine Diener, dachte er mißmutig, als seine Augen plötzlich aufleuchteten. Das war ein typischer Gesichtsausdruck, wenn ihm ein guter Gedanke eingefallen ist.

»Mal sehen, ob dies Ding hier wirklich etwas taugt«, rief er und schwang den Zauberstab durch die Luft.

»Hokus, Pokus. Dienstbarer Geist erscheine mir!« sprach er beschwörend. Nichts tat sich. Vielleicht mußte man irgend einen besonderen Zauberspruch aussprechen. Da fiel ihm etwas ein. Er erinnerte sich an ein altes Gedicht, das er in der Schule einmal hatte lernen müssen.

»Ich brauche einen Besen. Der soll das Wasser tragen.« er erinnerte sich, in der Küche einen in der Ecke stehen gesehen zu haben. Im Nu war er dort. Er lehnte den alten Kehrbesen gegen den Tisch und erhob beschwörend den Zauberstab gegen ihn. Mit eindringlicher Stimme, die Stirn in Falten gelegt, wild mit den Augen rollend sprach er, mit einer Miene, die höchste Konzentration darstellen sollte, die bekannten Worte:

»Walle, walle,

manche Strecke,

daß zum Zwecke

Wasser fließe,

und mit reichem, vollem Schwalle

zu dem Bade sich ergieße.«

 

Nichts tat sich.

 

»Und nun komm, du alter Besen,

Nimm die schlechten Lumpenhüllen,

bist schon lange Knecht gewesen;

Nun erfülle meinen Willen!

Auf zwei Beinen stehe,

oben sei ein Kopf!

Eile nun und gehe

mit dem Wassertopf!

 

Der Besen stand stocksteif und rührte sich nicht. Vielleicht mußte man es zweimal sagen.

 

»Walle, walle

manche Strecke,

daß zum Zwecke

Wasser fließe,

und mit reichem, vollem Schwalle

zu dem Bade sich ergieße!«

 

Peter berührte den Besen mit dem Zauberstab. Es gab ein Knacken und mit einem lauten Schlag — fiel er zu Boden. Dort lag er stille.

»Na dann eben nicht. Dann muß ich wohl selber ran«, seufzte Peter und ging die Zauberutensilien zu versorgen.

»Peter! Wo bleibt mein Wasser?« rief Alissandra aus dem Bade, als sie ihn an der Tür vorübergehen hörte.

»Ich komme ja schon!« erwiderte er gereizt. Er ging in den Garten hinaus zur Pumpe.

Kaum hatte er den ersten Eimer gefüllt, als aus dem Hause ein gellendes Kreischen erscholl. Peter fuhr auf und rannte ins Haus. Er nahm zwei Treppenstufen auf einmal. Am Treppenabsatz angelangt prallte er zurück. Vor ihm stand — der Küchenbesen und starrte ihn aus zwei kleinen, schwarzen Knopfaugen giftig an. Der Ärmste wäre beinahe rücklings die Treppe hinab gestürzt.

Der Besen schubste ihn unsanft zur Seite und watschelte auf strohernen Beinen Stufe um Stufe mit einem wischenden Geräusch die Treppe hinab. An zwei dürren hölzernen Ärmchen hingen zwei leere Eimer, die scheppernd gegen den Stiel schlugen.

Peter riß sich von diesem grotesken Anblick los und stürmte weiter, hinein ins Bad. Die Tür des Badezimmers stand halb offen. Den Anblick, welcher sich Peter dort bot, würde er nie vergessen. Alissandra stand aufrecht in der Wanne, Mund und Augen weit aufgerissen. Sie war kreidebleich und schrie hysterisch: »Um Himmels Willen, Peter! Was war das?«

Peter stand wie blöde da, Mund und Augen ebenfalls weit offen. »Da — das ist nur mein kleines Helferlein. Er trägt das Wasser für mich«, stotterte Peter, der den Blick von der nassen Schönen nicht abwenden konnte. Welch ein Anblick bot sich ihm da. Wassertropfen perlten von der samtenen, elfenbeinfarbenen Haut, das braune Haar klebte in feuchten Strähnen um ihre Schultern. Streifen weißen Seifenschaumes rannen über Arme und ihre wundervoll… — Alissandras schrille Stimme unterbrach seine Betrachtungen: »Peter! Was stehst du blöd herum? Unternimm etwas!« Peter unternahm nichts, sondern stand und starrte weiter.

Alissandra gewann ihre Beherrschung rasch wieder, und als sie Peters Blicken folgte, errötete sie heftig und ließ sich in die Wanne fallen, wobei sie ihre Blöße zu verdecken suchte.

»Mach daß du nauskommst!« rief sie empört. Noch ehe Peter etwas sagen konnte, verspürte er einen schmerzhaften Stoß im Rücken. Hinter ihm stand der Besen mit zwei vollen Eimern und begehrte Einlaß.

»Nein, nein! Hör auf damit. Wir brauchen kein Wasser mehr«, sagte Peter und stellte sich dem hölzernen Gesellen in den Weg. Allein der Besen wollte nicht auf ihn hören. Er versetzte Peter mit seinem Stiel einen heftigen Schlag auf den Kopf und stieß ihn zur Seite.

»Muß Wasser tragen«, schnarrte der Besen und schüttete die Eimer in die Wanne, der armen Alissandra über den Kopf.

»Was?! Das Ding kann auch reden?« prustete sie. »Und du bist immer noch da?«, fauchte sie Peter an. »Weißt du nicht, was sich gehört?«

»Doch, doch, aber weißt du — ich mußte die ganze Zeit daran denken… —«

»Was?«

»Wie umwerfend du ausschaust, wenn du so naß bist und diese kleinen Schaumkrönchen, die gerade über deine…«

»Peter!!!« Ein Schwamm verfehlte sein Gesicht um Haaresbreite. Peter machte sich hinaus, um nach dem ungehobelten Helfer zu sehen.

In der Küche fand er den hurtigen Wasserträger, der gerade seine Eimer füllte.

»Höre, Besen! Wir brauchen deine Dienste nicht mehr. Wir haben genug Wasser.« Der Besen gab keine Antwort und schwang weiter fleißig den Pumpenschwengel.

»Hörst du nicht? Es reicht!« Der Besen achtete nicht auf Peters Worte. Peter wurde das ganze langsam zu bunt. Er nahm einen der Eimer und schüttete ihn im Schüttstein aus. Der Besen unterbrach seine Arbeit und sah Peter mit einem Knirschen aus dem winzigen hölzernen Mund derart feindselig an, daß Peter es vorzog, den Rückzug anzutreten.

Alissandra hatte sich inzwischen halbwegs abgetrocknet und notdürftig angekleidet.

»Peter, das mit diesem Ungeheuer zahle ich dir noch heim! Wo hast du dieses Ding her?« Peter erzählte es ihr.

»Du hast mit Callidons Zauberstab gespielt? Na warte, der wird dir was erzählen, wenn er… Iiih! Das Ding ist ja immer noch da!« Der garstige Besen hatte seine Eimer wieder voll und war auf dem Weg ins Bad.

»Unternimm endlich was, bevor das ganze Haus davon schwimmt.« Peter wünschte, er könnte das.

»Wie lautet der Zauberspruch? Ich meine, was hat der Kerl in der Geschichte getan?«

»Äh, der hat… — O-O!«

»Was heißt O-o?«

»Tja, also… — der Typ konnte den Besen nicht aufhalten, weil er den Zauberspruch vergessen hatte, also nahm er eine Axt und…«

»Genau, das ist die Lösung! Machen wir ihm den Garaus. Hinter dem Haus steht der Hackklotz mit der Axt.«

»Ich fürchte, das wird nichts bringen«, wandte Peter zögernd ein.

»Wieso? Wir machen Kleinholz aus dem Ding.«

»Das hat der Kerl in dem Gedicht auch versucht. Aber dann bekam er es mit zwei Besen zu tun.« Alissandra hatte genug. Sie packte Peter am Hals und schüttelte ihn. »Wie geht die Geschichte aus? Raus mit der Sprache. Wie hat er den Besen aufgehalten?«

»Gar nicht«, stöhnte Peter und entwand sich ihren Händen. Alissandra war drauf und dran, ihn ernsthaft zu erwürgen.

»Am Ende kam der alte Hexenmeister und hat den Besen entzaubert.«

»!!!«

»Herr! Die Not ist groß; die ich rief die geister, werd’ ich nun nimmer los!« zitierte Peter, der sich vorsichtshalber außer Alissandras Reichweite gebracht hatte.

»Halt! Warte Alissandra! Wo willst du hin?« rief er ihr hinterher.

»Die Axt holen«, schallte es zurück.

»Aber die hilft doch nicht gegen den Zauberbesen.«

»Nein, aber gegen den Zauberlehrling!« Da gab’s nur noch eines: Peter suchte sein Heil in der Flucht.

»Was ist denn hier los?« rief eine vertraute Stimme. Es war Tamina, die mit einem schweren Beutel auf dem Rücken soeben aus dem Wald hervorkam.

»Habt ihr beiden Streit? Oder wieso ist Alissandra mit einer Axt hinter dir her?«

»Das ist eine lange Geschichte. Wo ist Callidon. Ist er nicht mit dir zurückgekommen?« fragte Peter atemlos und blickte sich nach seiner Verfolgerin um.

»Doch, hier bin ich schon, Peter!« ertönte die Stimme des Meisters zwischen den Bäumen hervor. »Ein alter Mann ist schließlich kein D-Zug.«

Endlich trippelte das Eselchen mit dem großen alten Mann auf seinem Rücken auf dem Pfad heran. Normalerweise hätte Peter den Anblick des langen Reiters, dessen Beine fast den Boden berührten durchaus in seiner unfreiwilligen Komik zu würdigen gewußt, in dieser Lage aber hatte er ganz andere Sorgen.

»Meister Callidon, Ihr müßt schnell zum Haus kommen. Wir haben — äh — ein Problem —.«

»Da ist ein Ungeheuer von einem Besen im Haus und setzt alles unter Wasser«, rief Alissandra, die eben die Szene betrat.

»Ich verstehe nicht ganz…«

»Peter hat gezaubert«, platzte Alissandra schadenfroh heraus.

»Peter, du hast nicht etwa meinen…«

»Ich fürchte doch, Meister. Ich fand den —äh — Zauberstab.« Callidon stieß einen Schreckensruf aus und sprang von dem Reittier. So schnell ihn seine Füße trugen rannte er zum Haus; die anderen hinterher.

Ein Schwall Wasser schwappte ihm entgegen, als er die Tür aufstieß. Callidon blieb auf der Schwelle stehen und besah sich die Bescherung. Die Treppe hatte sich in einen Sturzbach verwandelt. Von Stufe zu Stufe ergoß sich plätschernd und spritzend das Naß. Kleine Schauminseln trieben in der Diele. Callidon stöhnte und griff sich an den Kopf. Als ihm auf der Treppe der emsige Wasserträger begegnete, stieß er einen Schreckensruf aus — es mochte wohl auch ein Fluch sein.

»Ihr bleibt draußen«, rief er den andern zu und verschwand im Haus. Darauf herrschte für eine Weile Stille.

Schließlich konnte man ein Poltern und Spritzen vernehmen. Kurz darauf erschien Callidons Kopf am Fenster.

»Kommt herein, Kinder. Aber sein vorsichtig; es ist glatt.«

»Mann, hier sieht’s aber aus«, sagte Tamina beim Eintreten. Callidon kam vorsichtig die Treppe herunter.

»Ist der…«

»Nein, Alissandra! Der Besen macht euch keine Schwierigkeiten mehr. Er steht jetzt in der Abstellkammer bei seinen Kameraden.«

»Es ist alles meine Schuld«, sagte Peter mit gesenktem Haupt.

»Wir beide sprechen uns später«, sagte Callidon ernst. »Zunächst aber müssen wir das Wasser aufwischen. Tamina, geh du bitte in die Küche und packte die Einkäufe aus. — Du Alissandra ziehst dir etwas an und trocknest die Haare, bevor du dich erkältest. — Und dir, junger Mann, rate ich, dich hier eine Weile nicht blicken zu lassen. Mach am besten einen schönen, langen Spaziergang. Das hilft dir beim Nachdenken.«

Kleinlaut schlich der Zauberlehrling davon. Peter fühlte sich mies und elend. Callidon war so ein freundlicher und gütiger alter Herr, der sie in seinem kleinen Haus gastfreundlich aufgenommen hatte. Und wie vergalt man ihm seine Gastfreundschaft? Indem er sein Haus unter Wasser gesetzt und mit seinen persönlichen Dingen herumgespielt hatte. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, in das Arbeitszimmer einzudringen? Hätte er bloß dir Finger von dem Zauberstab gelassen! Aber wie konnte er auch ahnen, daß dieses unscheinbare Stäbchen die Macht hatte einem unbelebten Gegenstand Leben einzuhauchen und aus einem lustigen alten Gedicht bitteren Ernst werden lassen?

Wer weiß, wie lange es dauern würde, die Schweinerei im Haus und auf der Treppe zu beseitigen. Alles wegen zwei lächerlichen Eimern Wasser, die er Faulpelz hinaufzutragen sich zu schade war.

Am liebsten würde er sich diskret aus dem Staube machen. Irgendwohin gehen, wo man ihn nicht kannte.

Nein. Das war natürlich Unsinn. Aber Peter schämte sich sehr. Was mochte Alissandra wohl von ihm denken? Nach diesem peinlichen Zwischenfall hatte er bei ihr sicher endgültig ausgespielt.

Aber vielleicht wäre das auch besser so. Das würde den Abschied leichter machen. Er hätte ohnehin nur wenige Tage bleiben können; jetzt würde er halt gleich abreisen. Alissandra war abmachungsgemäß bei Callidon abgeliefert worden. Damit hatte er seine Schuld ihren Eltern gegenüber erfüllt. Tamina würde vorerst auch dableiben können. Er selber mußte zurück nach Carlan. Alles weitere würde sich finden. Jetzt war also der Zeitpunkt gekommen, wo sich ihre Wege endgültig trennen würden.

Peter blieb stehen. Seine Füße hatten ihn unbewußt bis an das Ende der großen Wiese geführt. Vor ihm lag ein tiefer Abgrund. Er befand sich oberhalb jenes auffälligen Felssturzes, der er am Morgen aus der Ferne gesehen hatte. Zögernd machte er zwei, drei Schritte vorwärts Richtung Abgrund.

Er wagte nicht näher an die Bruchkante heranzutreten, aus Furcht, daß sich ein Stück des Boden lösen könnte. Tatsächlich hing die Wiese ein kleines Stück über den Bruch hinaus. Die dichte Grasnarbe hielt das Erdreich fest, aber nach einem kräftigen Regenguß konnte es schon vorkommen, daß sich ein Stück Erde ablöste und ins Tal hinabstürzte. Auf diese Weise war die Wiese in den vergangenen Jahren um einige Meter geschrumpft. Irgendwann würde das lockere Erdreich soweit erodiert sein, daß die nackten Felsen einem weiteren Abtrag ein Ende bereiteten.

Peter setzte sich ins Gras und ließ seinen Blick über das Tag und das weite Land in der Ferne schweifen. Wie schön war Arkanien.

Dunkelgrüne Nadelwälder wechselten mit hellgrünen Wiese. Auf den frisch bepflanzten Feldern sproß das erste zarte Grün. Zierliche weiße Häuslein mit hellen Ziegeldächern lagen friedlich im stillen Talgrund. Weißbraunes Vieh und wollige Schafe weideten behaglich unter den Augen des wachsamen Hirten. Weißschäumende Wasserfälle stürzten über nackten Fels und ergossen sich in verschleierte Bächlein und Teiche, die ihrerseits das kristallklare Naß an den in lustigen Mäandern das Tal durchströmenden Fluß abgaben. Fern, weit im Norden ahnte man die schneebedeckten Wipfel der Berge, die im Blau des Himmels verschwammen. Eine leichte Brise fächelte kühle Luft vom Talgrund her in Peters Gesicht.

Tief sog er die frische, von Sauerstoff und dem Duft frischer Blüten gesättigte Luft ein. Mit jedem Atemzug verspürte er ein Gefühl unbeschreiblicher Leichtigkeit und Freiheit. Wenn er die Augen schloß hatte er das Gefühl als könne er sich einem Adler gleich in die Lüfte erheben und leicht wie eine Feder vom Winde getragen ins Tal hinab schweben.

Langsam und ohne Furcht ging er auf den Abgrund zu. Die Schatten der Bäume wurden allmählich länger und die Luft kühlte sich ein wenig ab. Der Zauber des Frühlingstages schwand und wurde von jener unbeschreiblich schönen wie wehmütig schmerzlichen Abendstimmung abgelöst, die stets das Ende eines unvergeßlichen Tages zu begleiten schien. Peter setzte sich an den Rad das Abhangs und zog die Knie hoch bis zum Kinn. Er stützte sein Haupt auf die verschränkten Arme. Ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch veranlaßte ihn sich umzuwenden.

Einige Meter hinter ihm stand Callidon und sah unter halb geschlossenen Lidern in die Ferne. Trotzdem machte er nicht den Anschein eines Geistesabwesenden, vielmehr konnte diese Mine genauso gut Zeichen höchster Konzentration sein.

Als Peter ihn erblickte, stand er sofort auf und ging einige unentschlossene Schritte auf den Alten zu.

»Meister Callidon! Seid Ihr schon lange hier?«

»Erst kurze Zeit. Ich bin gekommen, um …«

»Es war alles meine Schuld. Ich weiß auch nicht mehr, warum ich den Zauberstab genommen habe. Ich verstehe, daß Ihr jetzt sehr wütend auf mich seid. Ich nehme auch jede Strafe auf mich und werde den Schaden ersetzen…« Die Worte sprudelten nur so aus Peters Mund hervor.

»Jetzt sei erst mal still und höre mir zu. Ich bin nicht gekommen um zu schimpfen und schon gar nicht um dich zu bestrafen. Das würde ich mir niemals anmaßen.«

»Ich bitte Euch, Ihr seid ein würdiger Meister eures…«

»Jetzt halt aber die Klappe!« Das wirkte. Peter verstummte und starrte den Alten mit offenem Mund an. Callidon lächelte und wirkte beinahe verlegen und erstaunt über seine eigenen Worte.

»Ich bin in erster Linie hier, um dich zum Abendbrot zu holen. — Das mit dem Besen«, Callidon lachte, »kann ich verstehen. Auch ich war einmal jung und hielt die alten Lehrer für Spinner und Langweiler. Zauberei, das war etwas aus den alten Geschichten und Märchen. Wer kannte schon einen echten Zauberer? Scharlatane und Schwindler gab es genug. Als ich meinem alten Lehrmeister das erste Mal begegnet bin, da hielt ich ihn auch für einen dieser Narren. Aber irgendwie war er anders. Ich mußte also herausfinden, ob er wirklich das war, für den man ihn mir ausgab. Was tat ich also? Ich schlich mich heimlich in seinen Turm, durchstöberte die Sachen und versteckte mich in einem Schrank, als der Alte unerwartet nach Hause kam. Natürlich wußte er sofort, wo ich steckte und er erteilte mir eine Lektion, die ich sobald nicht vergaß. Es war furchtbar. Zuerst hörte ich etwas rascheln, dann spürte ich, wie sich neben mir im Schrank etwas bewegte. Dabei war der Schrank bis auf einige alte Mäntel ganz leer gewesen. Etwas feuchtes, kaltes kroch mein Bein hoch. Draußen hörte ich den Meister laut sprechend hin und her gehen. Ein zweites etwas schlang sich um meinen Arm und auf meinem Rücken spürte ich es krabbeln. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich stürzte wie ein Wahnsinniger lauthals schreiend aus dem Schrank hervor. An mir hingen kleine goldene Schlänglein, die mich freundlich aus glitzernden Äuglein anschauten und zu mir sprachen. Ich versuchte sie abzuschütteln, aber es ging nicht. Ich wollte fliehen, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich rief um Hülfe, aber statt dessen fing jetzt erst richtig ein gespenstischer Reigen an. Die Gegenstände in dem Raum erwachten zum Leben. Ich sah Stühle im Galopp um den Tisch laufen. Krüge und Kannen tranken sich selber aus. Bücher flatterten durch die Luft wie Schmetterlinge. Der Spuk dauerte Stunden. Ich war nahe daran, mich aus dem Fenster zu stürzen, als alles plötzlich aufhörte und der alte Meister vor mir erschien. Noch nie im Leben hatte ich so große Furcht verspürt. Ich saß vor ihm auf dem Boden, das Hemd klebte mir am Leib und ich zitterte wie Espenlaub. Der Meister sah mich streng an, und ich ließ jede Hoffnung fahren. In den alten Geschichten über die ich so oft gespottet hatte, wurden immer wieder von Menschen berichtet, die von bösen Hexen und Zauberern verwunschen oder in Tiere verwandelt wurden. Mein einziger Wunsch bestand darin, nicht in eine Kröte oder ein anderes garstiges Tier verwandelt zu werden, als mich der Meister fragte, ob ich nicht gewillt sei, sein Schüler zu werden. Ich sagte sofort zu, noch ehe ich richtig begriff, was mir da bevorstehen würde, und war überglücklich. Es sollten aber noch viele Jahre vergehen, bis er endlich zufrieden mit mir war und ich die letzte seiner Prüfungen bestanden hatte. —

Ja, und heute bin ich der alte Meister. Du siehst, ich kann gut nachempfinden, was für ein Gefühl das war, dem bösen Besen gegenüber zu stehen. Wie kamst du nur auf die Idee, einen Besen zum Wasserträger zu machen? So etwas mögen die gar nicht.«

Peter erzählte ihm von der alten Ballade des Dichters Goethe, worauf Callidon in ein schallendes Gelächter ausbrach.

»Ihr seid mir nicht mehr böse?« fragte Peter zögernd.

»Nein, jetzt nicht mehr. Aber noch vor einiger Zeit warst du so kurz davor, selber in einen Besen verwandelt zu werden. Wir haben nämlich jemanden zum Aufwischen gebraucht, und wer weiß, wenn die beiden Mädel nicht mit Engelszungen auf mich eingeredet hätten …« Peter schluckte.

»Gute alte Tamina! Ich glaube Alissandra hätte mich gern als Besen gesehen, nur um sich den Spaß zu machen, mich mit der Axt in zwei Hälften zu spalten.«

»Nein, da irrst du dich. Gerade Alissandra hat dich besonders in Schutz genommen.«

»Wirklich?« Peter war echt überrascht.

»Dabei kann sie mich doch gar nicht besonders leiden. Ich glaube sie wird ganz froh sein, wenn sie mich in ein paar Tagen los wird.« Peter seufzte leise.

»Das glaube ich nicht, Peter. Es würde ihr wahrscheinlich das Herz brechen. Ich weiß nicht genau, was ihr fehlt, aber ich fühle, daß ihr irgend ein Kummer schwer auf der Seele liegt. Du mußt mit ihr sprechen.«

»Ihr habt recht. Ich muß endlich Bescheid wissen.« Callidon legte seine Hand auf Peters Schulter und führte ihn zum Haus zurück.

»Du hast eine knappe halbe Stunde Zeit, bis wir essen.« Peter beeilte sich mit dem Waschen und umziehen.

Er stand gerade in seinem neuen Anzug vor dem Spiegel in seinem Schlafzimmer und versuchte vergeblich einen Scheitel in sein widerspenstiges Haar zu kämmen, als es an der Tür leise klopfte. Es war Tamina, aber das erkannte er erst auf den zweiten Blick. Das lange Kleid aus schimmernder Seide paßte farblich perfekt zu ihrem blonden Haar, welches zu einer künstlichen Frisur geflochten und toupiert war.

»Der Anzug steht dir gut«, sagte sie und musterte ihn von allen Seiten. »War Callidon sehr böse?«

»Aber nein, wir haben uns sehr freundlich unterhalten. — Aber laß mich dich einmal richtig anschauen.« Das einfache Mädchen vom Lande hatte sich in eine richtige Prinzessin verwandelt.

»Etwas fehlt aber noch«, sagte Peter.

»Was meinst du?« Tamina sah enttäuscht an sich herab. Sie hatte sich doch so viel Mühe gegeben.

»Komm her, setz dich aufs Bett und mach die Augen zu. — Nicht blinzeln!« Peter ging zum Schrank, wo er eine kleine Schachtel hervor holte. Er öffnete sie und entnahm ihr einen glitzernden Gegenstand. Es war ein Halsband von unzähligen geschliffenen weißen und acht großen roten Steinen, in Weißgold gefaßt. Er schlang es Tamina um den Hals und mahnte sie, stillzuhalten und nicht zu schauen, als sie von der Berührung des kalten Metalls auf der bloßen Haut erschrak.

»Was ist das?«

»Komm mit zum Spiegel.« Sie tat wie geheißen. Als sie die Augen aufschlug und das kostbare Geschmeide um ihren Hals sah, stieß sie einen leisen Schrei aus. Ungläubig starrte sie auf die blitzenden Steine.

»Das ist wunderschön«, hauchte sie. »So etwas kostet doch ein Vermögen. Wo hast du das her, Peter?«

»Pscht!« zischte er. »Es ist ein Geschenk von mir und als Regent von Arkanien kann ich mir das leisten.« Der Schmuck befand sich unter den erbeuteten Schätzen.

Tamina war ganz außer sich vor Freude. Sie sprang an Peter empor und küßte ihn heftig auf beide Wangen.

»Das muß ich Alissandra zeigen und … oh!«

»Was ist denn?«

»Was wird sie denken, wenn du mir den teuren Schmuck schenkst?«

»Was sollte sie dagegen haben?«

»ich dachte nur … ich meine, ihr beide …«

»Keine Sorge, ich habe auch an Alissandra gedacht. Aber ich werde es ihr erst später geben.«

»Kann ich — es mal sehen?«

»Nur wenn du schweigen kannst.« Peter brachte ein weiteres, größeres Kästchen zum Vorschein. Tamina machte es auf und hielt den Atem an.

»Meinst du, es wird Alissandra gefallen?« fragte Peter.

»Welcher Frau würde so was nicht gefallen«, sagte Tamina atemlos und klappte den Deckel zu. Sie reichte das Kästen an Peter zurück und sagte: »Wir müssen jetzt hinunter zum Essen.« Sie wandte sich abrupt ab. Peter folgte ihr hinaus. An der Tür nebenan blieb er stehen und pochte gegen das dunkle Holz.

»Bist du es, Peter? Ich bin grad’ soweit. Nur noch einen Augenblick! Geh schon voraus!« Peter war unschlüssig, entschied sich aber dazu, auf Alissandra zu warten.

Es dauerte noch eine Weile, bis sich die Tür auftat und Alissandra in ihrer ganzen Pracht ihm entgegentrat.

»Peter, du hast auf mich gewartet? Wie lieb von dir. Das Lila steht dir aber gut.« War das jetzt ernst gemeint, oder trieb sie ihren Spott mit ihm? Peter erwiderte das Kompliment und fügte hinzu: »So etwas solltest du öfter tragen.«

Alissandras Kleid war ein Traum in Samt und Seide. Am besten aber gefiel Peter ihr Haar, das teils in schimmernden Kaskaden über ihre Schultern wogte, teils zu zierlichen Zöpfchen geflochten um ihr Haupt geschlungen und mit mehreren unsichtbaren Nadeln und einer zum Kleid passenden Schleife gehalten wurde.

»Du siehst einfach umwerfend aus.« Alissandra lächelte verlegen, konnte aber ein Zeichen der Befriedigung nicht verbergen.

»Wirklich, du bist wunderschön — auch ohne Kleid«, fügte Peter hinzu und beeilte sich, die Treppe hinabzusteigen. Alissandra errötete schamvoll und senkte den Kopf. Zum Glück war Peter so taktvoll, ihr in diesem Moment nicht in die Augen zu schauen.

Tamina saß bereits unten im Eßzimmer am Tisch. Callidon, der noch in der Küche beschäftigt war, rief ihnen zu, sich ebenfalls zu Tisch zu begeben. Peter rückte Alissandra galant den Stuhl zurecht, bevor er ihr gegenüber Platz nahm. Er beobachtete diskret ihre Reaktion, als sie Taminens neuen Schmuckes ansichtig wurde. Peter grinste still in sich hinein, als er sah, wie sie mit regelrechten Stielaugen nach dem gleißenden Geschmeide äugte. Ihr Mund öffnete sich, aber außer einem leisen »Oh!« brachte sie zunächst nichts heraus. Dann aber tat sie, was wohl jede getan hätte. Es hielt sie nicht länger auf ihrem Stuhl; sie mußte es aus der Nähe betrachten. Als Tochter eines der ersten Fürsten im Reich hatte sie in den höchsten Kreisen verkehrt und schon zahlreiche kostbare Pretiosen gesehen. Sie selber hatte das eine oder andere schöne Stück besessen, aber ein vergleichbares Halsband mit nur annähernd so vielen und großen Steinen hatte sie noch nie gesehen.

»Meine Güte, Peter. Wen hast du dafür umgebracht?«

»Ich bitte dich, Alissandra! Das ist doch nur eine bescheidene Geste meiner Dankbarkeit und Freundschaft. Wenn ich König bis, dann werde ich …«

»…das Land ruinieren«, vollendete Alissandra seinen Satz. »Ich jedenfalls kann auf derlei Prunk leicht verzichten. Ich gebe mehr auf die inneren Werte, als auf den äußeren Schein.«

»Na ihr Lieben! Streitet ihr euch schon wieder?« Callidon trat eben im richtigen Augenblick aus der Küche heraus. Er schob ein Wägelchen mit dampfenden Schüsseln und Schalen beladen herein. Beim Anblick und dem Duft der köstlichen Speisen verstummte sogleich jede Disputation.

Callidon war ein Meister der feinen Küche, und wäre er nicht für seine übernatürlichen Kräfte bekannt gewesen, so hätten die drei nimmer glauben können, daß er allein solch eine Menge und Mannigfaltigkeit an Speisen in der kurzen Zeit zu Stande gebracht hatte. Die aufregenden Erlebnisse des Tages hatten den jungen Leuten einen riesigen Appetit beschert, und so griffen sie beherzt zu.

Nach einer mit aromatischen Kräutern aus dem eigenen Garten verfeinerten Suppe gab es Filets von in Butter gebackener Forelle, dazu junges Frühlingsgemüse. Das Hauptgericht bildete ein gefüllter Fasan, den sie auf dem Markt im Dorf erstanden hatten. Die Sauce tunkten sie mit frisch gebackenem Brot auf. Aus seinem Vorrat für besondere Gelegenheiten hatte Callidon einen ganz besonderen Wein ausgewählt. Es war ein milder Rosé aus Tribanthia, jenem märchenhaften Eiland im Süden, wo die süßesten Früchte und erlesensten Weine gediehen. Leider hatte Tiras es sich mit dem Herrscher jenes kleinen, aber von der Natur mit einem überaus milden Klima, fruchtbarer Erde und einer leichtherzigen Menschenrasse beglückten Reich verdorben, als er einen hohen Tribut forderte, so daß es mit dem Handel und den in der Vergangenheit weithin geschätzten Wein-Importen ein jähes Ende nahm. Wer immer in Arkanien einige Flaschen oder gar ein Fäßchen tribanthinischen Weines sein eigen nennen konnte, durfte sich glücklich schätzen und hütete diesen besonderen Schatz sorgfältig.

Peter ließ es sich nicht nehmen, sein Glas zu erheben und auf das Wohl ihres großherzigen Wirtes anzustoßen.

Mit jedem Bissen und jedem Schluck wurde die Gesellschaft lauter und die Stimmung ausgelassener.

Endlich stöhnte Peter: »Ich bin so satt, daß kein Bissen mehr hinein geht, sonst platze ich noch.«

»Willst du meine heißen Honigküchlein etwa verschmähen?« fragte Callidon und schob Peter ein Körbchen mit dem verführerisch duftenden Backwerk unter die Nase. Natürlich ließ Peter sich nicht zweimal bitten und griff zu. Auch einen ordentlichen Schlag süßer Sahne lehnte er nicht ab.

»Wollt ihr wirklich nichts mehr?« fragte Callidon schließlich, worauf die drei nur die Augen verdrehten und wohlig stöhnten.

Tamina bot an, beim Abwasch zu helfen, aber Callidon wehrte brüsk ab und erklärte, es komme nicht in Frage, seine Gäste arbeiten zu lassen. »Außerdem habe ich da so meine kleinen Helfer. Allerdings habe ich sie etwas besser im Griff«, meinte er mit einem verschmitzten Blick auf Peter, der verschämt die Augen niederschlug.

»Ihr könntet euch doch ein wenig im Garten ergehen. Peter, Alissandra, das tut gut nach dem Essen.« Später erzähle ich euch alles, was ihr über König Brunnar und die alten Legenden wissen möchtet.

»Laß uns gehen.« Alissandra stand auf und streckte sich. »Ich kennen einen schönen Platz in der Nähe.«

»Ist gut. Ich hole nur rasch unsere Mäntel. Es kann nachts ziemlich kühl werden.« rief Peter ihr zu und lief hinauf.

»Kommst du nicht mit, Tamina?«

»Nein. Geht ihr beide nur alleine. Ich weiß mir schon die Zeit zu vertreiben«, sagte diese, denn sie wußte, oder ahnte, was geschehen würde.

Peter kehrte wieder mit den Mäntel über dem Arm. Auf dem Kopf trug er den federgeschmückten Hut und an der Seite das goldene Schwert. Er sah prächtig aus in dieser Adjustierung und so fühlte er sich auch. Er bot Alissandra seinen rechten Arm, den sie lächelnd annahm. Sie gingen einige schritte.

Die Sonne hatte bereits den Horizont überschritten. Bald würde sich der Mantel der Nacht über das Land senken. Im Gras zirpten die Grillen, die Luft war lau und mild. In einigen Wochen würde sich die Sommerhitze vom Süden her breit machen.

Peter und Alissandra schlenderten über die Wiese. Keiner sprach ein Wort. Beide genossen die wundervolle Abendstimmung. Dennoch lag eine seltsame Spannung in der Luft. Jeder versuchte innerlich in Worte zu fassen, was ihn seit langem beschäftigte. Schließlich langten sie an dem Felssturz am Ende der Wiese an.

»Das könnte mein Lieblingsplatz werden. Die Aussicht ist so schön; vor allem am frühen Morgen und am späten Nachmittag«, meinte Alissandra und steckte die Arme aus, als wolle sie die Landschaft umfassen. Peter trat neben sie.

Wir schön sie jetzt in dem milden Abendlicht aussah. Ihr Anblick war für Peter so wunderbar, daß es ihn beinahe schmerzte, sie anzuschauen. Sein Herz begann wie wild zu schlagen und er fühlte einen heftigen Adrenalinstoß, der ihm beinahe die Luft raubte. Es war die letzte Gelegenheit. Er mußte es ihr sagen. Und doch — ein dicker Frosch stak in seinem Hals.

»Alissandra — ich — äh …«

»Ja, Peter?«

Natürlich — das Geschenk!

»Ich habe hier eine Überraschung für dich.«

»Eine Überraschung? Was ist es denn?« Peter holte das Kästchen hervor, das er unter dem Mantel verborgen hatte. Er klappte den Deckel auf und nahm einen silbern funkelnden Gegenstand heraus. Es war ein diamantenbesetztes Diadem, bestehend aus einhundert Steinen, welches er in Händen wog.

Alissandra stieß einen leisen Schrei aus. »Peter! Das kann doch nicht dein Ernst sein. Das ist mehr wert als ein Königreich.«

»Es ist nur billig, daß die schönste Frau der Welt den schönsten Schmuck erhält«, erwiderte Peter. Er beobachtete wie ein Schimmer über ihre Wangen flog. Alissandras Pupillen weiteten sich. Vorsichtig drückte er ihr das Krönchen ins Haar. Es saß wie angegossen. Alissandra sah aus wie eine Königin, und vielleicht — eines fernen Tages — würde sie es sogar sein.

Alissandra war sprachlos.

»Danke, Peter«, sagte sie endlich. »Wofür ist das? Ich meine, ich habe nicht einmal Geburtstag. Ach, ich wünschte, ich könnte mich sehen. Ich muß sofort ins Haus zurück.«

»Nicht nötig«, sagte Peter und zog einen Taschenspiegel hervor. Er war gut vorbereitet. Alissandras Freude war riesig. Peter genoß das Leuchten in ihren Augen. Für einen Augenblick sah es tatsächlich so aus, als wollte sie ihm um den Hals fallen. Dann flog ein Schatten über ihr Gesicht und sie wurde ernst.

»Lisa! Ich wollte dir schon vor so langer Zeit sagen, wie sehr ich … — ich meine, schon bei unserer ersten Begegnung im Wald dachte ich … —« er seufzte und legte seinen Arm um ihre Schultern. Sie erbebte und wich zurück.

»Bitte nicht«, hauchte sie leise. Peter zog seine Hand zurück und rief verdrießlich: »Verdammt, Alissandra! Ich versuche meinen ganzen Mut zusammen zu nehmen, um dir zu sagen daß — daß ich dich liebe! So sehr und heftig, daß ich gar nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Aber du meidest mich wie die Pest.« Er ließ sich ins Gras fallen und saß mit angezogenen Knien und gesenktem Kopf am Boden.

»Ich kann verstehen, wenn du nicht das gleiche empfindest. Schließlich bin ich alles andere als ein Märchenprinz. Ich weiß selber, wie ich aussehe und … und —« seine Stimme brach. »Ich werde morgen früh nach Carlan reiten, dann brauchst du mich nie wieder zu sehen. Ich habe dich zu Callidon gebracht, damit ist unsere Vereinbarung erfüllt.« Alissandra gab einen winselnden Laut von sich und lief davon. Peter sah ihr verwirrt nach. Dann sprang er auf und lief ihr hinterher. Die langen schweren Röcke behinderten Alissandra beim Laufen, so daß Peter sie bald eingeholt hatte.

Er fand sie im Wald auf einem schroffen Felsen sitzend. Sie barg das Gesicht in ihren Händen und ein heftiges Schluchzen und Weinen schüttelte die zierliche Gestalt. Peter war völlig bestürzt. Er hatte sie bereits einmal einen heftigen Weinkrampf durchmachen gesehen; damals, als man ihr die Nachricht von den Heiratsplänen des Prinzregenten überbracht hatte. Aber das war nicht so schlimm gewesen, wie jetzt.

»Alissandra! Bitte sag’ doch was du hast.« Peter nahm sie in den Arm. Aber alles, was die völlig Aufgelöste herauswürgte, war: »Bitte Peter! geh fort! Du mußt mich verlassen.« Peter überlegte, wie er ihr helfen könnte. Normalerweise wäre bei einem solchen hysterischen Anfall ein Schlag ins Gesicht angebracht, aber das brachte er nicht übers Herz. Statt dessen packte er sie und rüttelte sie heftig durch.

»Nein, Lisa! Ich werde dich niemals verlassen. Ich liebe dich! mehr als alles andere in der Welt!« Er drückte sie an sich und streichelte ihr schimmerndes Haar, während sie ihren Kopf gegen seine Schulter drückte.

»Peter! Ich liebe dich auch, aber das darf nicht sein.«

»Warum um alles in der Welt denn nicht?«

»Weil ich allen Menschen nur Unglück bringe. Und denjenigen, die mich lieben ganz besonders. Ich bin verwünscht.« erneut begann sie heftig zu weinen.

»Alissandra, Liebste! Was redest du da?« Sie machte sich los und atmete mehrmals tief durch. Dann wischte sie sich die Tränen aus dem geschwollenen Gesicht.

»Ich will dir alles erzählen, von Anfang an, dann wirst du verstehen, warum wir nicht zusammenkommen dürfen — um deinetwillen.« Peter reichte ihr sein Taschentuch, das sie ausgiebig nutzte. Die roten Flecken auf ihrem Gesicht wurden langsam blasser und ihr Atem ging wieder ruhiger, als sie endlich zu sprechen anhub:

»Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es gibt Menschen, die vom Pech verfolgt werden, egal was sie anfangen. Und andere bringen ihrer Umgebung Unglück. Dazu gehöre auch ich. — Nein! Widersprich mir nicht! Ich weiß, wovon ich rede. — Als ich geboren wurde, ließ mein Vater von einer weisen alten Frau, die damals in der Nähe unseres Schlosses lebte, die Sterne deuten. Leider gab sie keinen guten Bescheid und lange Zeit behielt mein Vater ihre Weissagung für sich. Als ich aber später davon erfuhr, ließ ich meinen Eltern keine Ruhe, bis sie mir die Deutung, die damals aufgeschrieben worden waren, zu lesen gaben.

Es stand viel darin über die Stellung der einzelnen Gestirne zueinander, was mir nichts sagte. Aber alles, was über meine Fähigkeiten und Neigungen gesagt wurde, stimmte — jedenfalls zum größten Teil. Über meine Zukunft hieß es, daß durch mich ein großes Unglück über alle meine Lieben kommen würde, daß ich einst die Gemahlin eines mächtigen Herrschers würde und daß auf große Liebe, Verrat, Schmerz, Verzweiflung und Tod folgen würden. Außerdem war die rede von einer großen reise, von einer Höhle einem eisernen Roß und brennendem Wasser im Lande jenseits des Wassers.«

»Aber Alissandra! Das ist doch alles Unsinn. Eiserne Pferde, brennendes Wasser. Diese Hexen und Scharlatane prophezeien für Geld doch jeden Unsinn. Man sollte so etwas verbieten.«

»So viel ich weiß, wollte sie kein Geld — im Gegenteil, sie wollte nichts annehmen, was Vater ihr angeboten hatte. Callidon hat mir später dann diesen Glücksstern geschenkt, damit er mich vor allem Übel behüte. Aber genützt hat er nicht viel.« Sie hielt den kleinen siebenzackigen Goldstern empor, den sie auf ihrer Brust trug.

»Verstehst du denn nicht? Bis jetzt ist alles genau so geschehen, wie es die Alte vorausgesagt hatte. Unmittelbar nach meiner Geburt fiel mein Onkel Arlin in Ungnade, dann ging mein Bruder fort und schloß sich den Rebellen an, mein Vater verlor sein Amt bei Hofe, mein kleiner Bruder starb und ich …«

»Du hattest einen kleinen Bruder? Davon hast du nie etwas erzählt. Was ist geschehen?« Peter ergriff Alissandras Hand und drückte sie ermunternd.

»Das war vor einigen Jahren. Meine Eltern haben nicht mehr damit gerechnet, noch weitere Kinder zu bekommen. Aber dann bekam Mutter den kleinen Aristan. Er war so süß und wir alle freuten uns sehr. Aber nach wenigen Monaten bekam er plötzlich hohes Fieber. Der Arzt konnte nicht helfen und nach vier Tagen ist er gestorben. Meiner Mutter brach es das Herz und mein Vater hat sich seither sehr verändert. Er wurde so still und in sich gekehrt.«

»Das tut mir leid, Alissandra. Aber was hast du damit zu tun? So etwas kann immer geschehen.«

»Ich hatte mich sehr über das kleine Brüderchen gefreut und habe es oft im Arm gehalten und gewiegt oder bin an seiner Wiege gesessen, als er schlief. Ich liebte ihn sehr. — Und jetzt ist er tot.« erneut schossen ihr die tränen in die Augen. Peter streichelte ihre Hände.

»Lisa! Bitte glaube mir. Du hast damit nichts zu tun. So etwas wie Verwünschungen öder böse Blicke gibt es nicht. Es ist nicht deine Schuld. Und mir wird auch nichts geschehen. Schließlich trage auch ich ein Schutzzeichen.« Er deutete auf den Goldring mit dem durchsichtigen Kristall, der an seinem Halse hing.

»Ich weiß nicht. Was ist mit der Reise und der Heirat?«

»Ich bitte dich. Jeder macht irgendwann eine Reise und welchem Mädchen wird nicht eine Hochzeit mit einem Märchenprinzen geweissagt?« Alissandra hob den Kopf und sah Peter aus großen, roten, feuchten, zugeschwollenen Augen an.

»Ich könnte es nicht ertragen, wenn die durch meine schuld etwas zustieße«, sagte sie und zog die Nase hoch.

»Lisa! Was du da vorhin gesagt hast. — Ich meine — daß du — mich magst. War das ernst gem… —«

»Ich sagte, ›Ich liebe dich, Peter‹ Und das war mein voller ernst.«

»Aber wieso? Ich meine was…«

»Es sind nicht deine grünen Augen, nicht dein süßes Lächeln oder die Art wie du die Augenbrauen hochziehst. Auch nicht deine lustigen Einfälle, oder die Geschichten, die du erzählst. Es ist — irgendwie — alles zusammen. Ich kann es nicht beschreiben. Aber als ich dich bei den Steinblöcken sah, da hatte ich so ein unbeschreibliches Gefühl — ich kann es nicht in Worte fassen. Später fand ich dich recht — äh — enttäuschend. Aber dann, mit der Zeit, ich meine, als wir zusammen unterwegs waren, und vor allem als du plötzlich verschwunden warst —« Peter legte ihr zärtlich den Finger auf den Mund. Sie verstummt. Ihr Gesicht war heiß aber ihre Hände waren eiskalt; sie schlangen sich um Peters Hals. Er faßte sie um die Hüfte. Dann berührten sich ihre Lippen. Erst zaghaft und beinahe scheu, dann heftiger. Sie küßten sich, und es dauerte eine Ewigkeit. Obwohl er die Augen geschlossen hatte, sah Peter gleißende Lichter und inmitten Alissandra.

Es war ein Gefühl, wie er es noch nie zuvor im Leben gespürt hatte. Für einen Augenblick glaubte er, er müsse sterben, so riß es in seinem Herzen. Alissandra drückte sich so heftig an ihn, daß er jeden Schlag ihres Herzens spürte. Er fühlte ihren heißen Atem auf seiner Wange und ihm wurde so heiß, daß er dachte er müsse gleich schmelzen.

»Bitte verlaß mich nicht!« flüsterte Alissandra. »Du darfst morgen nicht fortgehen.« Natürlich dachte Peter nicht mehr daran, jemals wieder von hier wegzureiten — jedenfalls nicht ohne Alissandra.

In dieser Nacht — es war inzwischen stockdunkel geworden — waren die beiden wohl die glücklichsten Menschen Arkaniens.

Später — viel später — kehrten sie auf die große Wiese zu ihren Mänteln zurück. Im Licht des Dreiviertelmondes und der funkelnden Sterne setzten sie sich ins Gras, hüllten sich eng aneinandergeschmiegt in ihre Mäntel und betrachteten die Sterne und das Glitzern des im Mondlicht silbern schimmernden Flusses im Tal unten.

Wie lange sie dort saßen? wer mochte das sagen? Als sie schläfrig und von der Nachtkälte fröstelnd zum Haus zurückkehrten, fanden sie alle Lichter erloschen. Callidon und Tamina schliefen bestimmt schon lange.

Alissandra hielt Peter am Ärmel zurück und flüsterte: »Wir wollen die beiden doch nicht aufwecken. Die alte Treppe knarrt entsetzlich.«

»Wo sollen wir dann schlafen?«

»Komm mit!« Sie schob Peter hinaus in den Garten.

»Das ist doch nicht dein Ernst!« protestierte er. »Im Stall bei den Viechern?«

»Pssst!« Im Stall war es stille. Peter zündete eine der Laternen an. Die drei Pferde lagen ruhig da; nur das Spiel der spitzen Ohren verriet, daß sie wach waren. Callidons kleiner Esel stand in seiner Ecke und gab ein leises Wiehern von sich.

»Pssst!« machten Alissandra und Peter gleichzeitig und mußten darob laut lachen.

Sie bereiteten sich aus Stroh und Heu ein knisterndes und stacheliges Lager. Ihre Mäntel dienten als Unterlage und Decke.

»Weißt du noch, wie wir damals im Wirtshaus vor Carlan im Heu geschlafen haben?« fragte Alissandra. »Und keiner ahnte, daß der andere nur wenige Ellen entfernt lag.«

»Ja, aber damals warteten keine weichen Betten mit flauschigen Kissen und molligen Decken im Haus auf uns.«

»Ich finde es auch hier ganz mollig«, meinte sie lachend und legte ihren Kopf auf Peters Brust. Peter streichelte ihr Haar und kraulte sie hinter dem linken Ohr.

»Wenn du damit fortfährst, fange ich vielleicht noch zu schnurren an«, flüsterte sie.

Welch reizvolle Vorstellung!

 

»Ihr seid heut’ aber früh aufgestanden«, begrüßte Callidon de beiden, als sie ihm im Flur begegneten, wie er auf dem Weg zu seiner Morgentoilette war.

»Ja — wir dachten …«

»Heute kümmern wir uns um das Frühstück«, ergänzte Peter. Callidon zeigte sich sehr erfreut über diese Aufmerksamkeit. Er fragte daher auch nicht, warum Alissandra am frühen Morgen bereits ein Abendkleid trug.

Tamina sprach kein Wort, aber die Blicke, mit denen sie die beiden beim Essen abwechselnd musterte, sprachen Bände. Aus der geplanten Unterhaltung mit Callidon am vergangenen Abend war nichts mehr geworden, daher brannten Peter und Alissandra darauf, von Callidon endlich mehr über das goldene Zauberschwert Brunnars des Starken und die alte Legende zu erfahren. Peter hätte überdies gerne etwas über den geheimnisvollen Talisman erfahren, den er seit seiner Ankunft am Hals trug.

So sehr die beiden aber drängten und baten, half es doch alles nichts. Callidon vertröstete sie auf den Abend, da er den Tag über viel zu tun hatte. Vormittags arbeitete er in seinem Kräutergarten und streifte durch die Wiesen und Wälder in der näheren Umgebung, auf der suche nach Pflanzen, Kräutern, Wurzeln und Mineralien, welche er für die Zubereitung seiner Arzneien und Wundertränke benötigte. Neben seinem Ruf als bedeutender Zauberer und Hellseher stand er bei den Menschen im Tale und im weiten Umlande auch als großer Arzt und Heiler in hohem Ansehen. Da viele der Menschen, einfache Bauern und Landleute, zu arm waren, um sich einen richtigen Arzt aus der Stadt leisten zu können, hatte der gutherzige Wundermann nach und nach diese Tätigkeit aufgenommen und war darin so erfolgreich und beliebt, daß vor einigen Monaten der letzte Arzt aus der Gegend weggezogen war — aus Mangel an Patienten.

Den Nachmittag waltete Callidon in seinem Amte als Gemeindearzt im Tale, so daß die drei Freunde den Tag allein verbringen mußten. Die wenige anstehende Arbeit — sie bestand im Wesentlichen in der Wartung der Pferde und der Ausbesserung ihrer Reisesachen — war bald erledigt und so genossen sie die freie Zeit ohne Verpflichtungen, um sich nach Herzenslust zu entspannen.

Alissandra und Peter verstanden sich prächtig und tauschten den ganzen Tag über Zärtlichkeiten aus, was die arme Tamina nicht wenig verdroß. Natürlich versuchte sie, ihre Verstimmung so gut es ging vor den anderen zu verbergen. Allein, es fällt nicht leicht, zwei Liebende in seiner Nähe zu ertragen, wenn man selber allein ist und — bei aller Freundschaft — ein feiner Hauch von Neid und Eifersucht die Seele zu vergiften droht. Also trennte sie sich bald von den beiden Turtelnden und suchte die Stille der Einsamkeit um nachzudenken. Im Grunde genommen war nun endlich eingetreten, was schon lange feststand und worauf in den vergangenen Wochen ein jeder heimlich gewartet hatte. Allein mit der Liebe ist es so eine Sache; die läßt sich eben nicht nach Belieben entfachen und wieder abstellen, wie eine Flamme im Leuchter.

Für Tamina dauerte der Tag eine halbe Unendlichkeit lang; Alissandra und Peter empfanden die gemeinsam verbrachten Stunden wie einen kurzen, flüchtigen Augenblick.

Endlich kehrte Callidon von den Krankenbesuchen aus dem Dorfe zurück. Nach dem Abendbrot führte er die drei hinauf in sein Studierzimmer. Er hieß sie, sich niederzusetzen.

»Ich kann mir denken, daß ihr sehr gespannt seid, mehr zu erfahren über die Geschichte von König Brunnar und das Erbe der Königswürde Arkaniens. Ich weiß nicht wieviel, du inzwischen selbst erfahren hast«, sagte Callidon zu Peter gewandt. Peter erläuterte ihm was er von Alissandra über das Schwert Thalidon erfahren hatte.

»Ich sehe, Alissandra, du hast nicht alles vergessen, was du bei mir gelernt hast. Die Kraft dieses Schwertes hast du inzwischen bereits kennen gelernt. Die Tatsache, daß es allein dir gehorcht, Peter, beweist, daß du der Auserwählte bist.«

»Und was hat es mit diesem Medaillon auf sich?« fragte Peter und zog es unter seinem Hemd hervor. Er machte Anstalten, den Verschluß der Kette zu öffnen, als Callidon ihn warnte: »Nein, Peter! Du darfst dieses Zeichen niemals ablegen; auch nicht für einen Augenblick. Es ist ein uraltes Schmuckstück — nein, es ist viel mehr als ein Schmuck. Es besitzt große Kräfte.«

»Aber wo kommt es her und wie kam es um meinen Hals? Ich kann mich nicht erinnern, es gefunden oder bekommen zu haben.« Callidon lächelte geheimnisvoll.

»Das habe ich auch nicht erwartet. Niemand weiß, was es genau bedeutet und woher es kommt. Aber es ist ein Zeichen, welches jeden Besucher aus deiner Welt ausweist. In den alten Schriften wird von einem solchen Gegenstand berichtet. Auch König Brunnar besaß eines. — Es heißt, daß sein träger einen besonderen Schutz genießt.«

»Heißt das etwa, ich bin unverwundbar, vielleicht sogar unsterblich?«

»Jetzt übertreibst du aber!« meinte Alissandra trocken.

»Nein, das allerdings nicht«, sagte Callidon schmunzelnd. »Es schützt dich vor Gefahren und Angriffen, aber es kann die Schäden nur begrenzt abwehren und mildern. Außerdem stärkt es deinen Geist, deinen Mut und deine Entschlußkraft.«

»Das stimmt. Ich habe schon mehrmals gespürt, wie irgend eine merkwürdige, unbeschreibliche Kraft von ihm ausgeht; immer dann, wenn ich mich irgendwie schlecht oder mißmutig gefühlt habe, hat es mir geholfen.« Peter lachte künstlich und fügte etwas bitter hinzu: »Das heißt also, ohne das Ding wäre ich ein vollkommener Versager.«

»Nein, Peter, Liebster! Du bist kein Versager. Sag’ so etwas nicht.«

»Alissandra hat recht. Es besteht kein Grund, an dir selbst zu zweifeln. Das Zeichen kann dir keinen künstlichen Mut, auch keine Weisheit verleihen. Aber es hat die Macht, Vorhandenes zu stärken und schädliche, entgegenwirkende Kräfte zu abzuschwächen. Außerdem scheint seine Wirkung von verschiedenen Ursachen abzuhängen. So kann die Stimmung eine Rolle spielen.«

»Faszinierend! Aber wißt Ihr auch, was diese Schriftzeichen oder Symbole auf dem Ring bedeuten?«

»Mein Junge, das ist nicht leicht. Ich vermute, daß es sich um die Sprache der ehemaligen Bewohner Arkaniens handelt, sie, so weiß es die Sage, aus dem Lande jenseits der großen Berge im Osten eingewandert waren. — Komm her an die Lampe. Ich will versuchen, sie zu entziffern.« Peter trat an dem Tisch heran und kniete vor dem Magier nieder, so daß dieser das Medaillon dicht vor dein Gesicht halten konnte. Callidon neigte und drehte das kostbare Kleinod im Schein der Tischlampe; dabei murmelte er unverständliche Worte vor sich hin. Dann stand er unvermittelt auf und ging hinüber in seine kleine Bibliothek, wo er mehrere alte, sehr staubichte Bände aus den Regalen zog und in Gedanken versunken darin blätterte. Es schien, als habe er Peter und die Mädchen vergessen, die ihm mit neugierigen Augen nachstarrten.

Es dauerte eine ganze Weile, bis, nachdem Peter sich mehrmals vernehmlich geräuspert hatte, Callidon mit einem der Bände unter dem Arm zu ihnen zurückkehrte.

»Es ist«, hub er an, »wie ich mir gedacht habe. Ich kann diese alten Schriften nicht richtig übersetzen. Sie sind älter als die, welche in meinen Büchern beschrieben sind. Allerdings gibt es gewisse Ähnlichkeiten, so daß ich immerhin eine vage Vorstellung habe, was es vielleicht heißen könnte.«

»Ja, und?« Sechs neugierige Augen starrten den Alten fragend an.

»Eines der Worte heißt ,Stern‘ oder so ähnlich, ein anderes ,Auskunft‘, den Rest kann ich nicht entziffern. Auf der anderen Seite steht etwas von ,Mondwasser‘ und ,Jenseits‘, sowie ,Berg‘ und , Baum‘.

Es tut mir leid, Kinder. Ich kann Euch leider auch nicht weiterhelfen.«

»Schade«, meinte Peter enttäuscht. »Wie kann ich jemals König werden, wenn ich nicht einmal weiß, was ich mit diesem Ding anfangen soll?«

»Mein Junge! Du bist auf dem besten Wege dazu. Das Zauberschwert König Brunnars hast du bereits an dich gebracht. Seit hunderten von Jahren ist es niemand gelungen, es aus dem Felsenaltar von Antal zu befreien.«

»Und wenn das nur ein Zufall war? Ich meine, das ist doch nicht gerade viel, um zum König geeignet zu sein. Und außerdem hat mich niemand gefragt, ob ich überhaupt König werden will. Was ist, wenn ich keine Lust mehr habe und nach Hause zurück will? Bin ich hier gestrandet? und gibt es gar keinen Weg zurück in meine Heimat?« Callidon runzelte die Stirn. Einen Augenblick lang sah er Peter durchdringend an, dann sprach er zu ihm: »Wenn du wirklich zurück willst, dann gibt es einen Weg. Du bist kein Gefangener Arkaniens. Höre gut zu. Wenn es wirklich dein fester und endgültiger Entschluß ist, zurückzukehren — bedenke es wohl, die Entscheidung ist eine endgültige — dann geschieht die mit Hülfe dieses Zeichens. Du mußt es zerstören. Das heißt, du mußt den Kristall in der Mitte herausbrechen und wegwerfen. Im selben Augenblick wirst du Arkanien für immer verlassen, und es gibt für dich keinen Weg zurück.«

»Peter! Du willst doch nicht wirklich fortgehen?« fragte Tamina aufgeregt. Auch in Alissandras Augen flackerte eine plötzliche Angst auf.

»Nein, ich denke nicht. Ich meine, ich will mein Bestes versuchen, aber es hat mich halt interessiert. — Meister Callidon! Wenn ich nach Arkanien kommen konnte, können Arkanier auch zu uns kommen?« Callidon lächelte geheimnisvoll und sprach: »Gewiß! Ab und zu waren auch welche dort.« Peter starrte ihn an. Plötzlich dämmerte es ihm. Callidon gehörte zu jenen Besuchern, die schon einmal drüben gewesen waren. Seine ungewöhnliche Ausdrucksweise, der Geschmack der Hauseinrichtung und seine Kleidung — alles ergab auf einmal einen Sinn.

»Wie habt Ihr das nur angestellt?«

»Na, na, mein Zauberlehrling braucht nicht schon am ersten Tag alle Geheimnisse des Meisters zu erfahren«, meinte Callidon schmunzeln und machte eine abwehrende Handbewegung. Alles Drängen und Fragen half nichts, der alte Meister zeigte sich in dieser Hinsicht verschlossen wie eine Auster.

»Um zu deiner Frage zurückzukommen. Wenn du König von Arkanien werden willst, dann brauchst du außer dem Zauberschwert die restlichen Königsinsignien. Da ist einmal das mächtige Szepter mit dem blauen Kristall in der Spitze. Es verleiht seinem Besitzer eine ungeheure Macht über Dinge und Menschen. Wer es besitzt, der hat die uneingeschränkte Macht im Reich. Wie stark seine Macht wirklich ist, weiß niemand. König Brunnar hat nur selten Gebrach davon gemacht. Aber im Vergleich zu ihm ist mein Zauberstab, mit dem du gespielt hast, ein harmloser Zahnstocher.

Als drittes benötigst du die Krone mit den zwölf Steinen. Auch sie besitzt eine besondere Kraft. Sie verleiht ihrem Träger die Würde und Weisheit und Einsicht, deren er zur Herrschaft bedarf. Erst wenn die drei Insignien vereint sind, kannst du zum rechtmäßigen König von Arkanien gekrönt werden.«

»Und wo finde ich Szepter und Krone?«

»Das ist kein Geheimnis; ihr Aufenthaltsort ist allgemein bekannt. Es wird dir sicher gelingen, früher oder später in ihren Besitz zu gelangen.«

»Ja, aber dann könnte doch jeder König werden«, meinte Alissandra enttäuscht.

»Als König Brunnar kurz vor seinem Tode die Insignien getrennt hatte, war ihm wohl bewußt, daß das Versteck dieser auffälligen Gegenstände nicht lange würde verborgen bleiben. Also trug er selber Vorsorge. Das Schwert schützte sich selber. Nachdem er es in dem Felsblock gestoßen hatte, konnte niemand außer ihm es herausziehen. Das Szepter verwahrte er in der Schatzkammer seines Schlosses am Meer. Aber den blauen Kristall entfernte er aus seiner Fassung und ließ ihn an einem unbekannten Ort verwahren. Ohne den Kristall hat das Szepter keine Macht. Der Kristall allein besitzt zwar eine ungeheure Kraft, aber ohne das Szepter kann man sie nicht bändigen und er ist zu wenig nutze, aber trotzdem sehr gefährlich — besonders wenn er in die falschen Hände gerät. Den blauen Kristall außerhalb des Szepters benutzen zu wollen, hieße eine ungeheure Macht zu entfesseln, die gewaltige Vernichtungskräfte freisetzen könnte.«

»Wo finde ich König Brunnars Schloß?«

»Da brauchst du nicht hin. Das Schloß ist seit langem verlassen und halb zerfallen. Das Szepter hat der Regent Tiras vor langer Zeit in seinen Palast gebracht. — Keine Angst, es ist ihm noch nicht gelungen, den blauen Kristall zu finden. Nach ihm läßt er seit über zwanzig Jahren in jedem Winkel des Landes fahnden. Allerdings gibt es Gerüchte, wonach es nicht mehr lange dauern wird, bis er es entdeckt haben wird, denn er hat sich zwei Zauberer in den Palast geholt, welche den Kristall für ihn suchen sollen.«

»Zauberer?« Alissandra staunte. »Ich dachte, Ihr seid der letzte.«

»Nicht ganz, mein Kind. — Leider! es gibt noch den einen oder anderen bösen Magier. Tiras beschäftigt zwei von denen. Kalorim ist der eine. Er ist schlau und ein ziemlich windiger Kerl. Mit seiner Zauberei ist es aber nicht weit her. Das bißchen, was er kann, hat er von mir gelernt, bevor ich ihn hinauswarf. Aber das ist schon lange her. — Die andere heißt Verdel. Sie ist eine Hexe. Vor ihr müßt ihr euch sehr in acht nehmen. Sie ist nicht nur viel mächtiger als Kalorim, sie ist ein wahrer Teufel. Gegen sie ist Kalorim ein törichter Schulknabe.«

»Das sind ja reizende Aussichten«, brummte Peter. Von Zauberern und unheimlichen Dingen hatte er genug. Der Gedanke, sich mit zwei zaubermächtigen Bösewichtern auseinandersetzen zu müssen behagte ihm ganz und gar nicht.

»Ihr erinnert euch an die ,Schatten‘ des Regenten. Sie waren ein Werk Verdels. Sie hat dazu wahrscheinlich das Szepter benutzt.«

»Aber ich denke, das taugt ohne den Kristall zu nichts«, warf Tamina ein.

»Ich vermute, sie hat einen schwarzen Ersatzkristall hergestellt. Natürlich ist dessen Kraft begrenzt, nur ein Bruchteil dessen, was der echte blaue Kristall vermag. Mit seiner Hülfe könnten sie richtige unbesiegbare Soldaten in beliebiger Zahl hervorbringen. Wenn es ihnen gelingt, ihn in ihren Besitz zu bringen, dann ist Arkanien verloren!«

»Wie furchtbar. Und wieviel Zeit haben wir noch, ihnen zuvor zu kommen?« fragte Alissandra.

»Wer weiß? Monate, Wochen, oder nur noch ein paar Tage.«

»Könnt Ihr uns nicht helfen, den blauen Kristall zu finden? Ich meine, mit Eurer gewaltigen Zauberkraft und Erfahrung müßten wir gegenüber dem Regenten und seinen Spießgesellen im Vorteil sein«, sagte Peter. Callidon fühlte sich sehr geschmeichelt und versprach, sein Bestes zu geben.

»Was ist mit der Krone?« fragte Alissandra. »Hat Tiras die etwa auch?«

»Nein, die Krone findet ihr in der alten Sternstadt im Osten. Nach den alten Sagen soll auch dieses Land einst zu Arkanien gehört haben, bevor sich das Gebirge erhob. Sternenstadt, wie sie auch genannt wird, war einst die ehemalige Hauptstadt Groß-Arkaniens.«

»Moment mal!« protestierte Peter. »Was heißt ›bevor sich das Gebirge erhob‹? Berge brauchen viele Millionen Jahre um zu wachsen und zu verschwinden. Wir haben das in der Schule im Erdkundeunterricht gelernt.«

»Peter! Es ist nur eine alte Sage. Außerdem sind wir in Arkanien. Hier gelten andere Gesetze. Aber das ist nicht so wichtig. Mit der Krone allein ist es ohnehin nicht getan.«

»O-O! Mir schwant Böses!« sagte Peter. »Ich wette, ich muß auch noch die zwölf Edelsteine suchen, die Brunnar vorsichtigerweise herausgenommen und im ganzen Land verteilt hat.«

»Ich sehe, Peter, du bist sehr gescheit und hellmerkig. — In der Tat ist die Krone nur vollständig, wenn alle zwölf Edelsteine vereint sich an ihrem Platze befinden. — Wartet! — Vielleicht finde ich irgendwo eine Zeichnung.« Er begab sich erneut zu dem Bücherschrank, wo er einen um den anderen der brüchigen Bände herausnahm, durchblätterte und wieder zurückstellte.

»Hier ist es doch. Ich wußte, daß ich irgendwo ein Buch habe«, rief Callidon über seinen Fund höchst erfreut. Er trug einen großformatigen Folianten, den er aufgeschlagen auf den Tisch legte. Neben einem Portrait des alten Königs Brunnar — er hatte einen mächtigen weißen Bart, buschige Augenbrauen und klare, helle Augen — waren die drei Reichsinsignien abgebildet.

Das Schwert erkannte Peter sofort. Er zog es hervor und legte es neben das Buch auf den Tisch. Das Szepter und die Krone sah er zum ersten Male. Das Szepter war ungefähr vierzig Zentimeter lang, von achteckigem Querschnitt, oben und unten gerundet. An dem oberen Ende, welches keulenförmig anschwoll, befand sich eine Fassung aus vielen kleineren Edelsteinen, die einen mächtigen wie ein Diamant geschliffenen Stein trug: der blaue Kristall. Er hatte etwa die Größe eines Hühnereies.

Die Krone war sehr schlicht gearbeitet. Sie bestand aus einem breiten, gepunzten und mit zahlreichen Ornamenten ziselierten Goldreifen, von dem vier geschwungene Bügel aufstiegen und in einer von einem kugelrunden Edelstein gekrönten Spitze zusammenliefen. Auf dem Reifen waren in regelmäßigen Abständen Steine von unterschiedlicher Größe, Farbe und Form eingelassen.

In bezug auf die Pracht und Kunstfertigkeit konnte sie es nicht mit anderen berühmten Kronen aufnehmen, dennoch strahlte sie eine erhabene Würde aus, die sie über jeden kostbaren Schnickschnack und prunksüchtigen Tand emporhob.

Während die Mädchen und Peter sich über das Buch beugten, wog Callidon ehrfürchtig das goldene Schwert in Händen und betrachtete es ganz genau.

»Zwei Dinge sind jetzt wichtig«, sprach er schließlich. »Das Szepter und der Kristall. Der Kristall ist im Palast des Regenten in Tirania.«

»Wie sollen wir da nur hineinkommen?« fragte Alissandra. »Die Hauptstadt ist stark befestigt und von mehreren Festungen und Garnisonen umgeben. Wir bräuchten ein gewaltiges Heer um sie zu erobern.«

»Das haben wir aber nicht. Und um es auszuheben, brauchen wir viel, viel Zeit und Geld, was wir beides nicht haben.«

»Wir könnten uns in den Palast einschleichen und das Szepter stehlen«, schlug Tamina vor. Ihr Vorschlag erntete skeptische Blicke von den anderen.

»Wie stellst du dir das vor?« Alissandra lachte. »Wir würden sofort erkannt werden. Außerdem liegt das Ding bestimmt nicht einfach herum. Es ist sicher unter strenger Bewachung eingeschlossen.«

»Ich finde, Tamina hat recht. Niemand kennt sie und mich. Da es in Arkanien weder Fernsehen noch Zeitungen gibt, wissen nur wenige wer wir sind. Wenn ich mich ein wenig verkleide, mir vielleicht einen falschen Bart anklebe, oder so, dann könnten wir im Palast umherspazieren, ohne daß jemand ahnt, wer wir sind. Vielleicht gelingt es mir sogar, mich als Diener einstellen zu lassen oder als Wächter. Dann könnte ich im Palast ein- und ausgehen. Auf diese Weise werde ich bald herausbekommen, wo das Szepter aufbewahrt wird. Ein paar geschickte Fragen hier, ein kleines Schmiergeld da, und zur rechten Zeit das Ohr an der Tür.«

»Wenn sie euch erwischen, dann hauen sie euch die Köpfe ab, ohne mit der Wimper zu zucken. Das geht ruckzuck mit dem scharfen Henkersbeil.« Alissandra machte eine entsprechende Handbewegung. Tamina schluckte leer und sah Peter aus großen Augen an.

»Hast du einen besseren Vorschlag?« fragte Peter.

»Die Idee von Tamina ist gar nicht so übel«, meinte Callidon nachdenklich. »Wenn ihr erst einmal das Szepter besitzt, dann habt ihr genug Zeit, den Kristall zu suchen. Die größte Gefahr ist dann vorläufig gebannt. Selbst wenn der Regent den blauen Kristall bekommen sollte, so könnte er vorderhand nichts damit anfangen. Wir hätten damit Zeit gewonnen. Die könntest du nutzen, Peter, um deine Truppen aufzustellen. Wenn sich die Aufständischen von Carlan mit den Rebellen aus dem Norden vereinigen, dann sieht es für Tiras schlecht aus.«

»Wie gehen wir am besten vor, Peter?«

»Ich denke, das Beste wird sein, wenn Tamina und ich uns in die Hauptstadt begeben, während Wilo von Carlan aus versucht, mit den Rebellen im Norden Kontakt aufzunehmen.«

»Und was wird aus mir?«

»Du bleibst hier bei Callidon, wo du in Sicherheit bist, genau so wie ich es deinem Vater versprochen habe.«

»Wieso darf Tamina mit in den Palast? Denkst du etwa, das sei ungefährlich?« Alissandra geriet in Hitze.

Peter überlegte, dann sagte er: »Du hast recht, Alissandra. Ich glaube, ich komme im Palast allein zurecht. Tamina wird bei dir bleiben. Natürlich nur, wenn es Euch recht ist, Meister Callidon.« Callidon war es sehr recht.

»Augenblick mal!« protestierte Tamina. »Ich denke, ich habe hierbei auch ein Wort mitzureden. Es ist mein freier Entschluß, in den Palast zu gehen. Ich weiß, daß es gefährlich wird, aber ich denke nicht daran, hier ruhig rumzusitzen, während meine Freunde sich in Gefahr begeben. — Außerdem kenne ich mich gut in der Hauswirtschaft aus und kochen kann ich auch nicht schlecht. Ich glaube, daß ich eher eine Anstellung bei Hofe bekommen werde als du, Peter.«

»Tamina hat ganz recht. Und wenn sie geht, dann gehe ich auch!« Alissandra sah Peter triumphierend an.

»Bist du verrückt? Dich würde man im Palast sofort erkennen. Das kommt gar nicht in Frage!«

»Dann gehe ich nach Carlan zu Wilo. Und von dort aus weiter in den Norden, auf die Suche nach meinem Bruder. — Nein, du brauchst mir gar nicht zu widersprechen, Peter! Mein Entschluß ist fest.« das mußte auch Peter einsehen, dem nichts übrig blieb, als zähneknirschend zuzustimmen. Er hatte seine Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Alissandra etwas auszureden war etwa so als wolle man einem Löwen die Schmackhaftigkeit von Salat erklären.

Immerhin hatte er Vertrauen zu Wilo. Dieser würde gut auf sein Alissandra acht geben. Vielleicht sogar etwas zu gut …

»Warum hast du es eigentlich so eilig, Wilo wiederzusehen?« fragte er betont beiläufig.

»Weil er so stattlich und stark ist … — Nein, Peter. Du weißt doch, daß ich immer nur dich lieben werde.« Sie drückte ihren Peter und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Peter bekam rote Ohren, Tamina wandte sich diskret ab und Callidon schmunzelte still in seinen Bart hinein.

»Wann soll es losgehen?« fragte Callidon.

»Wir müssen noch einiges vorbereiten. Ich würde sagen, in zwei oder drei Tagen, spätestens am Freitag«, erwiderte Peter und hielt Alissandras Hand unter dem Tisch fest.

Die vier besprachen noch weitere Einzelheiten ihres Planes, bevor die schließlich Callidon eine gute Nacht wünschten und sich zurückzogen.

Am anderen Morgen mußten sie früh aus den federn. Es gab vieles zu richten und für die bevorstehende reise vorzubereiten. Kleider mußten gewaschen und eingepackt werden, Sattel- und Zaumzeug geputzt und ausgebessert werden, Proviant und Futter für die Pferde eingekauft werden. Peter beabsichtigte, einige einfache, gebrauchte Kleidungsstücke zu erstehen. In seiner prächtigen Aufmachung, ja selbst in seinem gewöhnlichen Reiseanzug würde er auffallen und könnte niemals für einen arbeitssuchenden Knecht oder Knappen gelten.

Die Vorbereitungen nahmen fast den ganzen Tag in Anspruch. Peter setzte sich an den Tisch im Eßzimmer und schrieb einen ausführlichen Brief an Wilo, in welchem er die neue Sachlage und ihren Plan erläuterte. Des Weiteren gab er ihm Anweisungen für die Verhandlungen mit den Rebellen. Sobald die Lage in Carlan sich beruhigt hätte und eine stabile Ordnung sich wieder in der Stadt etabliert hätte, solle er sich persönlich auf den Weg nach Norden machen und mit den Verbindungsleuten Kontakt aufnehmen. Was Alissandra anbetraf, so solle er alles versuchen, sie in Carlan festzuhalten. Andererseits konnte Peter sich nicht vorstellen, daß sie die Aussicht auf ein neues Abenteuer in den Bergen und ein Wiedersehen mit ihrem seit Jahren verschollenen Bruder in der Stadt ausharren lassen würde.

Callidon hatte sich in sein Studierzimmer zurückgezogen, wo er den ganzen Tag verbrachte. Er hatte die Tür hinter sich abgeschlossen und sich jede Störung streng verbeten. Nicht einmal zum Essen leistete er den drei Freunden Gesellschaft. Tamina mußte ihm das Essen auf einem Tablett vor die Tür stellen. Als sie es später abholen kam, sah sie, daß er die Speisen kaum angerührt hatte, sondern nur einige hastige Bissen von allem gekostet hatte.

Mehrere Male bleiben sie, Peter und Alissandra vor der verschlossenen Tür stehen und horchen, wenn sie im Innern Stimmen vernahmen, oder auch nur ein Stöhnen. Keiner aber wagte, an der Tür zu klopfen oder den Meister anzusprechen. Callidon versuchte nämlich, unter Aufbietung aller seiner hellseherischen Kräfte und magischen Künste, den blauen Zauberkristall zu lokalisieren.

»Ob er wohl in seine Kristallkugel schaut?« fragte Tamina.

»Oder Geister aus dem Jenseits beschwört?« unkte Peter und schnitt eine Grimasse. Er konnte es halt nicht lassen.

Endlich waren alle Einkäufe getätigt, alle Reparaturen erledigt und der größte Teil des Gepäcks verschnürt und in den Satteltaschen verstaut worden. Callidon ließ verlauten, daß es noch eine Weile dauern würde, wahrscheinlich die ganze Nacht. So nahmen die drei ihr Abendbrot allein zu sich. Später spazierten sie im Garten und auf der großen Wiese. Tamina, die merkte, daß die beiden Liebenden gern allein wären, ließ sich bald entschuldigen und trennte sich von ihnen.

Alissandra war sehr schweigsam, und auch Peter hatte eigentlich keine Lust zu sprechen. So gingen sie Arm in Arm nebeneinander und genossen die vertrauliche Zweisamkeit in der milden Abenddämmerung.

»Warum ist das Schicksal nur so grausam zu uns?« sprach sie auf einmal mit leiser Stimme.

»Was meinst du damit?«

»Kaum haben wir zueinander gefunden, da müssen wir bereits wieder auseinander gehen.«

»Aber Lisa! Es ist doch nicht für lange. In ein paar Wochen sehen wir uns wieder.« Peter streichelte ihr kühles, glänzendes Haar.

»Aber wenn sie euch entdecken und gefangen nehmen …«

»Denk nicht an so etwas. Alles wird gut gehen. Vertraue mir. Und selbst wenn sie uns festsetzen sollten. Ich habe doch mein Zauberschwert und das Schutzzeichen, und ich weiß, daß du wie eine Löwin ihre Jungen verteidigt, mir mit Wilo und seinen Leuten zu Hilfe eilen wirst.«

»Ja, mein Peterchen! Ich werde sie alle vernichten, die es wagen, dir auch nur ein Haar zu krümmen.« Sie schmiegte sich eng an ihn und bedeckte seinen Hals mit zärtlichen Küssen.

 

»Ist Callidon schon auf?« fragte Peter beim Frühstück. Tamina schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, er schläft, glaube ich. Er war die ganze Nacht auf. Für einen Herrn in seinem Alter ist das nicht gesund.«

»Ich werde nachher ins Dorf reiten. Braucht ihr noch irgend etwas?«

»Peter, bringst du mir zwei Stück Seife mit? Ich habe sie gestern vergessen. Und etwas festes, weißes Garn«, rief Alissandra aus der Küche.

Peter sattelte Mondenglanz und führte sie aus dem Stall.

»ich muß mich wieder etwas besser um dich kümmern, meine Kleine. Deine Mähne ist ganz zerzaust. Vielleicht kann ich im Dorf einen Mähnenkamm auftreiben«, sprach er zu dem Pferd. Er versuchte aufzusteigen, blieb aber auf halbem Wege stecken. »Hoppla! Das schwere Ding ist auch immer im Weg!« sagte er und schnallte sein Schwert ab. Er befestigte es am Sattel, wo er es unterwegs für gewöhnlich zu verstauen pflegte.

Im flotten Trab machte er sich auf den Weg. Wenn er sich beeilte, käme er noch rechtzeitig auf den Markt. Die besten Sachen gehen schnell weg, hatte Tamina ihm gesagt.

Auf dem Markt war wenig los. Überhaupt lag das ganze Dorf still und beinahe menschenleer da. Vielleicht war ja auch irgend ein Feiertag, oder die Leute gehen erst später einkaufen, dachte er und war froh, daß er seine Besorgungen rasch erledigen konnte. Gegen zehn Uhr war er bereits wieder zurück. Er fand die beiden Mädchen im Hof, wo sie ihre Pferde putzten.

»Hast du alles besorgen können?« fragte Alissandra.

»Ja, ich habe auch an das Nähgarn gedacht. Ich habe eine extra große Rolle gekauft.«

»Hast du die Seife nicht vergessen?«

»Oh, nein!« schimpfte Peter. Er ärgerte sich maßlos. Jetzt konnte er noch einmal ins Dorf reiten. Die ganze eingesparte Zeit war flöten gegangen.

»Ach, Peter! Ich hatte dich doch besonders darum gebeten.«

»Ist schon gut, ich gehe noch einmal«, seufzte er.

»Nein, laß nur. Ich gehe selber. Leihst du mir Mondenglanz? Ich bin gerade erst mit dem Putzen fertig geworden und Wirbel wird so leicht staubig.«

»Kein Problem. Ich kümmere mich um ihn.« Alissandra lächelte Peter strahlend an und schwang sich ohne die Bügel zu benützen sportlich in den Sattel.

»Ich bin gleich zurück!« rief sie und galoppierte davon.

Ein Schrei ließ Peter und Tamina erschrocken zusammenfahren. Ein Fenster wurde aufgerissen und das zerzauste weiße Haupt Callidons erschien im Rahmen.

»Heureka!« rief er. »Ich hab’s gefunden! Kommt nauf, Kinder!« Die beiden sahen sich an und ließen alles stehen und liegen und stürzten ins Haus.

Wirbelwind nutzte die Gelegenheit, sich wohlig im taufrischen Gras zu wälzen, während sein Kamerad Anatol im sehnsüchtig dabei zusah, denn er war am Gartenzaun angebunden und konnte sich derlei Vergnügung nicht hingeben.

»Meister Callidon, weißt Ihr jetzt, wo der Zauberkristall versteckt ist?« fragte Tamina aufgeregt. Callidon nickte und nahm einige eng beschriebene Blätter vom Tisch.

»Ich erhielt verschiedene Botschaften und Gesichte, die ich einfach nicht richtig deuten konnte«, erklärte er. »Wo ist Alissandra?«

»Die muß noch etwas im Dorf besorgen« antwortete Peter.

»Also, wie gesagt. Ich konnte mit dem, was ich gesehen hatte, nicht viel anfangen. Als ich endlich vor Erschöpfung eingenickt bin, da hatte ich einen sonderbaren Traum: Ich sah eine Höhle und einen Wald und einen spitzen Felsen. Und da kam mir die Erleuchtung. Ich weiß, welche Höhle das ist. Sie liegt gar nicht weit von hier. Sie ist etwa eine Tagesreise von der Hauptstadt entfernt, nordöstlich und befindet sich in einer Gegend, die von den Menschen gemieden wird. Mann nennt die Gegend den ,Lichterwald‘. Dort irgendwo im Wald liegt eine Felsenhöhle. Ich bin sicher, daß Brunnar den Kristall dort versteckt hat. Ich habe die Gegend hier auf dieser Karte eingezeichnet. Ihr findet darauf auch den kürzesten Weg in die Hauptstadt markiert.« Callidon war ganz außer Atem vor Aufregung.

»Das ist ja phantastisch!« rief Peter. »Ich kann es gar nicht erwarten, Alissandra davon zu erzählen.«

Dazu sollte Peter aber nicht mehr kommen. Alissandra kehrte nämlich nicht mehr aus dem Dorfe zurück. Als mehrere Stunden vergangen waren, ritt Peter selber hinab in den kleinen Ort; aber er fand keine Spur, weder von dem Mädchen noch von Mondenglanz. Von den Leuten, die er fragte, hatte keiner sie gesehen. Egal wo er suchte, egal wen er fragte, Alissandra blieb verschwunden.

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