Palast
Das
Geschrei war so laut, daß man es bereits in der großen Vorhalle deutlich
vernehmen konnte. Der Regent war wieder einmal verdrießlich; ein Zustand, der
in der letzten Zeit zur Normalität im Palaste von Tirania geworden war. Kein
Wunder bei der Fülle schlechter Nachrichten, die aus allen Teilen des Landes
hier zusammentrafen. Der Leibarzt des Regenten war in großer Sorge um dessen
Gesundheit. Sein Rat, jegliche Aufregung zu meiden und sich einige Zeit auf dem
Lande zu erholen, war nicht nur auf taube Ohren gestoßen, sondern hatte selber
einen weiteren Ausbruch hervorgerufen.
Der
bärtige junge Mann, der die breite Haupttreppe emporstieg, war guten Mutes. Ein
scharfes Lächeln umspielte seine Lippen, während er mit weiten Schritten den
mit kostbaren Marmorfliesen ausgelegten Flur entlang schritt und sich
zielstrebig der hohen Flügeltür am Ende näherte. Die Wache präsentierte die
Hellebarde und salutierte ehrerbietig bei seinem Herannahen. Auf sein forsches
Klopfen wurde ein Türflügel von innen geöffnet und er trat hinein. Seinen
schwarzen Augen bot sich ein merkwürdiger Anblick, der jeden Fremden in nicht
geringe Verwunderung, ja sogar Unbehagen gestürzt hätte, ihn aber, welcher
dergleichen von früheren Besuchen beim Regenten gewohnt war, nicht mehr
beeindruckte.
Der
Raum — es war vielmehr ein riesiger Saal — maß gute zwanzig Meter in der Länge
und nicht weniger als zwölf in der Breite. Die Decke wölbte sich mehr als
sechs Meter über den Köpfen der Umherstehenden. Ein gutes Dutzend Personen
befand sich in der Mitte um einen mächtigen Kartentisch stehend. Es handelte
sich durchwegs um würdige Herren in unterschiedlicher, sehr kostbarer Tracht.
Minister, Sekretäre, Generäle und Beamte seiner Exzellenz des Regenten Tiras.
Ein älterer Herr mit würdigem weißem Schnurrbart, angetan mit einer altväterlichen,
knöchellangen, pelzverbrämten schwarzgrauen Robe eilte durch den Saal. In
seinen Händen hielt er einen winzigen silbernen Becher und eine kleine bauchige
Flasche aus blauem Glas.
»Exzellenz!
Ich bitte Euch! Ihr solltet jetzt wirklich Eure Arznei einnehmen. Denkt doch an
Euer Herz und an die Leber!« Der Angesprochene tobte wie von Sinnen herum.
Tiras
war ein schlanker, hochgewachsener Mann von annähernd sechzig Jahren. Er trug
das Haar kurzgeschnitten und sein kleiner Bart wirkte auf Grund seiner
tiefschwarzen Farbe irgendwie deplaziert.
»Bleib
er mir damit vom Leibe, alter Giftmischer! Noch ist’s dir nicht gelungen, mich
mit deinen Pulvern und Tinkturen unter die Erde zu bringen.« er keuchte und ließ
sich schwer in einen bereitstehenden Sessel fallen. Widerstandslos ließ er sich
zwei Becherchen aus der blauen Flasche verabreichen, die er mit einer Grimasse
des Ekels schluckte. Auf eine unwirsche Handbewegung hin zog sich der alte Arzt
in den Hintergrund zurück.
»Exzellenz!
Wenn ihr jetzt zu ruhen wünscht…«
»Nein,
General Baldur! das wünsche ich nicht! Alles was wir wünschen ist ein vernünftiger
Plan zur Rückeroberung Carlans und zur Bestrafung dieses elenden
Rebellengesindels. Ich will daß das ganze Lumpenpack ausgerottet wird!« Seine
Stimme überschlug sich.
Ein
vernehmliches Räuspern ließ seinen Blick in Richtung Tür wandern.
»Was
gibt’s, Meister Kalorim? Welche Schreckensbotschaft habt Ihr wieder für mich?
Oder kommt Ihr etwa um mir den blauen Kristall zu bringen?«
Der
Angesprochene verzog das Gesicht und trat einige Schritte vor und verbeugte sich
steif.
»Nein,
Herr!« sprach er mit leiser Stimme. »Ich habe Euch etwas anderes mitzuteilen.«
Er verstummte und blickte sich nach den am Tisch Stehenden um.
»Los!
Redet endlich! Es gibt nichts, was diese Stümper dort nicht hören könnten.
Wenn sie auch als Minister und Generäle nicht viel taugen, so kann ich mich
wenigstens auf ihre Loyalität verlassen.«
»Ich
kann Euch vermelden, daß der Vogel in seinem Nest sitzt«, sagte er
geheimnisvoll. Tiras, der den Sinn dieser Botschaft sofort erfaßte, sprang auf
und rief: »Meine Herren! Ich brauche Sie nicht mehr. Sie sind entlassen. Das
gilt auch für die Diener.«
Als
alle fort waren, sprach er erregt auf Kalorim ein: »Kommt näher! Setzt Euch
und berichtet mir ausführlich. Das ist mit Abstand die beste Nachricht seit
Wochen. Meinen Sohn Tibor wird das besonders freuen.«
»Im
Grunde war es ganz einfach. Nachdem unsere Leute von der Sache bei Carlan
erfahren hatte, durchkämmten sie gründlich die Gegend, bis sie endlich fündig
wurden. Jetzt galt es nur noch den richtigen Augenblick abzuwarten, um dann
zuzuschlagen. Ich glaube, die Kleine war derart überrascht, daß sie kaum
Widerstand geleistet hat.«
»Wo
ist sie?«
»Ich
habe — Eure Zustimmung vorausgesetzt — veranlaßt, daß sie im Nordturm
untergebracht wurde. Dort ist es ruhig. Wir wollen doch vorderhand jedes unnötige
Aufsehen vermeiden.«
»Das
ist ja großartig! Ich will sie gleich in Augenschein nehmen.« Tiras klatschte
vor Freude in die Hände und rieb sie gegeneinander.
»Aber
sagt, warum habt Ihr den anderen nicht geschnappt — ich meine diesen Kerl?«
»Das
war gar nicht notwendig. Außerdem hatte ich nicht genügend Leute vor Ort. Und
ich wollte den Erfolg der Unternehmung nicht gefährden. Aber ich war noch nicht
fertig. Ich habe nämlich ein besonderes Präsent für Euch, Exzellenz.«
Kalorim griff nach der Klingelschnur und zog einige Male daran. Dem Lakaien, der
kurz darauf erschien, flüsterte er einige Worte ins Ihr.
»Nun,
was ist es denn? Spanne er mich nicht auf die Folter?«
»Habt
bitte noch einen winzigen Augenblick Geduld, Exzellent. Ich verspreche Euch, daß
es sich lohnen wird.« Kalorim grinste auf eine beinahe unverschämte Art. Er
war sich seines Erfolges so sicher, daß er auf die Etikette wenig Rücksicht
nahm. Er überlegte gerade, was für einen Preis er für sein neuestes
Schelmenstück wohl fordern könnte.
Endlich
erschien ein anderer Diener. Er trug einen flachen, langen Holzkasten, den er
hochkant abstellte. Kalorim schickte ihn hinaus, nachdem er Hammer und
Brecheisen an sich genommen hatte. Der Regent trat neugierig näher.
»Ihr
werdet gleich verstehen, warum ich den Kasten persönlich aufmache, den ich auch
eigenhändig verschlossen und versiegelt hatte.« er tastete nach einem kleinen
runden Wachsfleck und betrachtete das unversehrte Siegel. Mit wenigen Schlägen
trieb er das Brecheisen unter den Deckel, der knirschend und ächzend nachgab.
Eine Schicht Holzwolle kam zum Vorschein.
»Nun?«
Der Regent verlor langsam die Geduld.
»Königliche
Hoheit! Ich überreiche Euch hiermit das goldene Schwert Thalidon von König
Brunnar dem Starken.« Er zog das Schwert schwungvoll aus dem Kasten, so daß
die Hobelspäne nach allen Seiten davon flogen und hielt es seinem Herrn unter
die Nase. Tiras wurde fahl und wich einen Schritt zurück. Vor ihm funkelte tatsächlich
das echte, alte Schwert des sagenhaften Königs. Er brachte keinen Laut über
die Lippen, als er mit zitternden Händen darnach griff. Ein Schauder durchlief
den greisen Leib, als er das kühle, scharfe Metall berührte.
Kalorim
stand schweigend abseits und beobachtete aufmerksam und mit nicht geringer
Befriedigung Reaktion und Mienenspiel seines Herrn. Nie war der Zeitpunkt günstiger,
dem Alten seine Forderungen zu unterbreiten. Endlich würde er erster
Hofzauberer werden und Minister. Damit würde er seinen ehemaligen Lehrmeister
überflügeln; und das brächte ihm die größte Befriedigung. Der alte Callidon
war eiskalt abserviert worden und hauste allein in der Einöde, während er,
Kalorim, der ungeschickte und träger Schüler, es zu einem der mächtigsten Männer
im Reich gebracht hatte. Aber das war ihm nicht genug. Er hegte noch andere,
weit ehrgeizigere Pläne.
»Kalorim!
Ihr seid in der Tat erstaunlich. Ich gebe gerne zu, daß ich Euch dies nicht
zugetraut hätte. Ab heute soll man Euch den ersten Hofzauberer heißen. Ihr
habt Euch eine fürstliche Belohnung verdient. Ich verdopple Eure Bezüge. Habt
Ihr noch irgend einen anderen Wunsch? Sprecht und sagt es frei heraus!«
»Nun,
in der Tat gäbe es da etwas, was mir trefflich zu statten käme. Ich möchte
von Euch, Hoheit, den Ostturm erbitten. Er eignet sich vorzüglich für meine
Studien und…«
»Gewährt,
mein Bester, gewährt.« Das ging viel leichter, als Kalorim es sich ausgemalt
hatte. Auf den Ostturm hatte er seit seiner Ankunft bei Hofe vor vier Jahren ein
Auge geworfen, aber alle vorsichtigen Vorstöße in dieser Richtung waren
bislang fruchtlos geblieben. Er überlegte sich, was es als nächstes fordern könnte.
Ein Landhaus, Diener, Wagen und Pferde? Aber er dürfte es nicht übertreiben.
Zu rasch konnte man bei dem wankelmütigen und jähzornigen Temperament des
Regenten in Ungnade fallen. Ein Vorgang, den er in der kurzen Zeit seiner Präsenz
am Hof nur allzu häufig hatte beobachten können.
»Meister
Kalorim! Wie Ihr wißt, machen uns dieser Prinz Peter und die Rebellen in Carlan
zur Zeit einige Schwierigkeiten.« Das war gelinde gesagt eine Untertreibung. In
Wirklichkeit stand das Reich kurz vor dem zusammenbrechen. »Wenn es doch nur
einen Weg gäbe, ihn unschädlich zu machen. Ihr habt doch sonst so originelle
Einfälle.«
»Ich
denke, für’s erste dürfte er bedient sein. Der Verlust seines Schätzchens
und des Zauberschwertes müssen ihn recht empfindlich getroffen haben. Sein
Selbstvertrauen ist beschädigt und das Schwert, die einzige Legitimation, die
seinen Anspruch auf den Thron begründet, ist er los. Ich denke daher, daß die
Gelegenheit jetzt sehr günstig ist, ihn aus dem Weg zu räumen.«
»Ja,
das sehe ich ein. Aber zuerst müßt Ihr ihn in die Finger kriegen. Und das ist
bisher weder meinen Männern noch Euren Schatten gelungen.«
»Aber Hoheit! Das wird gar nicht notwendig sein. Er wird selber hierher kommen
und seinen Kopf in die Schlinge stecken. Und das geht so: Mit Speck fängt man
bekanntlich die Mäuse; und den Jüngling mit einem hübschen Mädchen.«
»Ihr
sprecht von der Prinzessin Alissandra?«
»Genau.
Ich schlage vor, Ihr laßt ihre Anwesenheit im Palaste öffentlich
bekanntmachen. Ihr legt einen Termin für ihre Hochzeit mit Eurem Sohne fest und
ladet den ganzen Adel des Landes ein. Jeder, der Rang und Namen hat, soll dabei
sein. Dann begnadigt Ihr ihren Bruder, den Prinzen Armin und seine Genossen. Den
Aufständischen und den Bauern macht Ihr einige Zugeständnisse; das alles wird
die Lage beruhigen — zumindest so lange, bis Ihr den blauen Kristall besitzt,
dann kann Euch nichts und niemand mehr aufhalten.«
»Niemand,
außer diesem Störenfried, der mir den Thron streitig macht und das Volk gegen
mich aufhetzt.«
»Aber
ich bitte Euch! Das ist das geringste Problem. Sobald er erfährt, daß sich
Prinzessin Alissandra hier aufhält, wird er herkommen, um sie zu befreien. Das
ist die Gelegenheit. Die Falle schnappt zu, und…«
»Ab
ist der Kopf! Ha, ha! das gefällt mir! Aber dann wird die Kleine nicht mehr
mitspielen. Eine öffentliche Trauung kommt nicht in frage.«
»Aber
nicht doch, Hoheit!« Kalorim schüttelte den Kopf. Seine Methoden waren viel
subtiler und wirkungsvoller.
»Ich
rate Euch dringend davon ab, gegen den Burschen Gewalt anzuwenden. Ich habe
einen viel besseren Plan. Wenn Ihr ihn tötet, dann wird er ein Held und Ihr
werdet ihn nimmermehr los. Er bleibt ein Gespenst, das Euch ewig verfolgen und
anklagen wird. Wenn er sich aber von selbst davon machte, wenn er in seine
Heimat zurückkehrte? Dann hielte man ihn für einen Feigling und Verräter.
Alissandra müßte Euren Sohn heiraten. Noch in der Hochzeitsnacht könnte sie
einem Attentat zum Opfer fallen. Die Schuld könnte man den Aufständischen in
die Schuhe schieben. Das Volk wird sich von ihnen abwenden und wir hätten einen
Anlaß schärfer gegen das Gesindel vorzugehen, als es bislang ratsam war.«
Kalorim setzte ein böses Grinsen auf. Der Regent sah ihn scharf an und
erwiderte dann, ebenfalls lächelnd: »Kalorim! Ihr seid ein gerissener Hund.
Mitunter könnte selbst mir vor Euch bange werden. — Aber wie bringen wir den
Burschen dazu, sich davon zu machen?«
»Das
ist doch simpel. Die Kleine liebt ihn wie verrückt. Sie würde niemals
zulassen, daß ihm ein Haar gekrümmt würde. Auf ihre Mitarbeit können wir
daher zählen. Und er ist ein schüchterner Tropf und ebenfalls ganz in die
Kleine vernarrt. Wenn sie ihm den Laufpaß erteilte, würde ihm das Herz
brechen. Freiheit weg, Thron weg, Freunde weg, Liebste weg; was hätte er noch für
einen Grund zu bleiben? Entweder er verläßt uns freiwillig, oder wir helfen
diskret nach.«
»Kalorim!
Ihr seid ein wahrer Teufel. Nehmt Euch in acht. Nicht daß Euch eines Tages noch
Hörner wachsen.« Der Regent ließ ein dröhnendes Gelächter erschallen.
»Ich
hoffe, Ihr schätzt die beiden richtig ein.«
»Keine
Sorge, Hoheit, das tue ich.«
»Einen
Augenblick noch, Kalorim! Ehe Ihr geht. Was versprecht Ihr
Euch von der ganzen Sache?« Kalorim wandte sich um und tat, als ob er nachdächte.
Dann sagte er bedächtig: »Ich werde Minister in Eurem reich.« Er sprach diese
Worte so aus, daß an der Erfüllung dieser Prophezeiung kein Zweifel mehr
blieb. Das war kein Wunsch, keine Bitte, das war ganz einfach das, was geschehen
würde.
Tiras’
Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er langsam nickte. Mehr gab es
nicht zu bereden. Kalorim war entlassen. Nachdem dieser längst die Tür hinter
sich geschlossen hatte, stand der alte Tiras am Fenster und starrte in den Hof
hinab. »Tibor, mein Sohn«, murmelte er, »mit dem Kerl wirst du noch zu tun
bekommen.«
Behend
erklomm Kalorim die achtundsiebzig Stufen der engen Wendeltreppe. Am oberen Ende
angelangt, gönnte sich der frischgebackene Erste Hofzauberer eine kurze
Verschnaufpause, bevor er in das kreisrunde Turmzimmer eintrat. Hier im Südturm
befand sich Kalorims ,Laboratorium‘, falls man das chaotische Durcheinander
von Gerätschaften, Büchern und Krempel als solches bezeichnen durfte.
Seine
Ankunft wurde bereits erwartet. Er erkannte die Rauchschwaden, die aus dem
Sessel mit der hohen Rückenlehne aufstiegen, welcher mit dem rücken zur Tür
am geschlossenen Fenster stand.
»Müßt
Ihr unbedingt hier euren ekligen Knaster rauchen, Frau Kollegin?« Kalorim
konnte diesen Gestank, der sich tagelang im Raum hielt und sich auch durch
intensives Lüften nur schwer vertreiben ließ, auf den Tod nicht ausstehen.
»Jetzt
macht Euch mal nicht ins Hemd wegen der paar Rauchkringel. Ich brauche das, um
mich zu konzentrieren.« Eine schlanke, nicht zu große Frau erhob sich aus dem
Sessel. Zuerst wurde ein dichter Schopf unnatürlich blonder Locken sichtbar,
dann drehte sie sich um und wandte Kalorim ihr Gesicht zu.
»Frau
Verdel! Ich ersuche Euch, endlich diese garstige Pfeife auszumachen.« Kalorim
trat ans Fenster und stieß beide Flügel weit auf. Ebenso öffnete er das
zweite Fenster an der Seite. Das dritte ließ sich nicht öffnen, da ein Tisch
mit einem wüsten Berg von Bücher und Papieren davor stand.
»Na
los, redet endlich! Ich wüßte zu gern, was für ein Gesicht der alte Tiras
gemacht hat, als ihr im das Schwert ausgehändigt habt.«
»Dem
sind beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen. Im ersten Moment dachte ich, der
Schlag hätte ihn getroffen. Aber der Alte ist zäh«, lachte Kalorim froh.
»Der
wird sich noch mehr wundern, wenn erst der Jung in unserem Kerker sitzt.«
Verdel kicherte auf eine recht unziemliche Weise.
»Habt
Ihr ihm unseren Plan erklärt?«
»Ja,
und der Alte schien davon ganz begeistert zu sein.«
»Wenn
er wüßte, wie es weitergeht, dann würde seine Begeisterung rasch verfliegen.«
»Die
Frage ist allerdings, wie bekommen wir den Jungen aus dem Kerker heraus?«
»Das
ist das geringste Problem. Ich habe mich vor einiger Zeit mit dem Hauptmann der
Kerkerwache angefreundet. Er ist ganz versessen auf meinen selbstgebrannten Kräuterschnaps.
Bei Bedarf lassen sich leicht einige zusätzliche Kräutlein hinzufügen, und
jeder, der davon trinkt, macht ein langes, tiefes Nickerchen.«
»Das
klingt fabelhaft. Euer Abdruck war zwar nicht sehr gut, aber ich hoffe, daß es
trotzdem gehen wird. Das hat mich übrigens eine ganz schöne Mühe gekostet,
bis ich das Ding zurecht gefeilt hatte.« Kalorim betrachtete seine
Fingerspitzen, die unter der Arbeit mit der winzigen Feile etwas gelitten
hatten.
»Wie
weit seid Ihr mit dem blauen Kristall, Kalorim?«
»Das
wird sich bald zeigen. Es ist mir gelungen, seinen Aufenthaltsort auf ein überschaubares
Gebiet einzugrenzen. Noch ein paar nächtliche Sitzungen und wir haben ihn.
Zusammen mit dem Schwert und dem Jungen werden wir im Nu die Macht ergreifen.
Der Prinz wird zum König gemacht. Mit Hülfe Eurer Spezial-Tinkturen und meiner
geistiger Kräfte wird er wie Wachs in unseren Händen sein, das wir nach
Belieben formen können. Wenn er erst einmal König ist, dann werden wir
Minister und Reichsverweser sein. Eure Tochter ist kein häßliches Kind. Wenn
sie sich des unglücklichen Jungen freundlich annimmt, wer weiß — Eine
Verbindung zwischen den beiden wäre nicht das Schlechteste.«
»Aber
die Prinzessin Alissandra…«
»Keine
Sorge. Um sie wird Tibor sich kümmern.«
»Nur,
wieso sollte sie…?«
Kalorim
seufzte und sprach: »Ganz einfach. Tibor wird ihr klarmachen, daß, wenn sie
den kleinen Prinzen nicht verstößt und sich von ihm lossagt, er es wird büßen
müssen. Man wird ihr das Gruselkabinett im Keller zeigen und ihr erläutern,
welche schmerzhaften Prozeduren an ihrem kleinen Liebling ausprobiert werden.
Das wird sie bestimmt überzeugen.«
»Ihr
habt recht. So wie ich den Knaben einschätze, wird er das nicht verwinden. Es
ist schon seltsam, daß ausgerechnet so
einer dazu auserwählt wurde, König zu werden.«
»Was
ja auch geschehen wird, so oder so.« Kalorim ging zum Schrank und holte eine Kristallkaraffe
hervor, die mit einer dunkelgrünen, öligen Flüssigkeit gefüllt war.
»Ihr
nehmt doch auch einen Schluck — zur Feier des Tages?« Er fand — nach
einigem Suchen — zwei kleine, nicht besonders saubere Gläser, die er bis zum
Rande mit dem klebrigen, intensiv duftenden Likör füllte.
»Lang
lebe der König!« sagte Kalorim und stieß mit der Hexe an.
Wenn
Peter erst einmal auf dem Thron säße und er als enger Berater und
Reichsverweser den Hofstaat kontrollierte, dann würde die gute Verdel bald überflüssig
sein. Wen würde es da wundern, wenn sie vom Kräutersammeln im Walde nicht mehr
zurückkehrte? Schließlich gab es noch immer genügend Wölfe und anderes
wildes Getier. Kalorim nickte ihr lächelnd zu und hob seinen Becher.
Verdel
lächelte zurück und erwiderte den Toast. Im Augenblick war der Dummbart noch
sehr nützlich. Vor allem seine Fähigkeiten beim Aufspüren des blauen
Kristalls waren höchst willkommen. Aber später könnte vielleicht ein kleiner
Unfall im Laboratorium die Lage gründlich ändern. Die Gefährlichkeit
alchemistischer Versuche waren allgemein bekannt…
Wenn
Peter ihre Tochter zur Frau nähme, dann würde sie Königin-Mutter werden.
›Armes Arkanien! Wenn ich einst hier das Sagen haben werde, dann werden sich
einige noch sehr wundern‹, dachte sie, während sie die scharfe, süße Flüssigkeit
die Kehle hinabrinnen ließ. ›Warum trinkt der Kerl denn selber nicht?‹
dachte sie, während sie Kalorim über den Rand ihres Glases beobachtete.
»Vater!
Ist das wahr, was ich gehört habe? Ist Prinzessin Alissandra wirklich hier im
Palast?« Prinz Tibor war ohne anzuklopfen in das Privatkabinett des Regenten
hineingestürmt.
Der
Alte sah ihn unwillig an.
»Muß
ich dir etwa Manieren beibringen? Noch ist dies mein Kabinett. Und niemand, ich
wiederhole, niemand kommt hier unaufgefordert herein!«
Tibor
zuckte zusammen. »Ja, Vater«, sagte er kleinlaut. Sein Gesicht blieb
ausdruckslos, so daß es unmöglich war, zu erkennen, welcher Art seine
Zerknirschung in Wirklichkeit war.
Tibor
war ein stattlicher Mann in den besten Jahre. Groß gewachsen, von kräftiger,
vielleicht ein wenig grobschlächtiger Statur. Angetan mit der leichten Rüstung
eines Kürassiers, ein Schwert an der linken, ein Hirschfänger an der rechten
Seite tragend, bot er einen Ehrfurcht gebietenden Anblick. Seine Gesichtszüge
hatten eine so auffallende Ähnlichkeit mit jenen des alten Regenten, daß manch
einer der älteren Höflinge glauben mochten, dem jungen Tiras gegenüber zu
stehen. Der einzige und auffälligste Unterschied bestand in der Farbe des
Haares. Während Tiras in jungen Jahren tiefschwarzes Haar besessen hatte,
leuchteten Tibors Schopf und Schnurrbart und einem fuchsbraunen Rot; ein Vermächtnis
der Mutter, deren blondes Haar im ganzen Lande bewundert und von der weiblichen
Jugend zu der Zeit vielfach nachgeahmt, aber niemals erreicht worden war.
Tibor
stand breitbeinig im Raum und tappte ungeduldig mit den Füßen, wobei seine
goldenen Radsporen leise klirrten.
»Ja,
es ist wahr. Kalorims Spione haben sie bei Trondelheim aufgelesen. Zwei von
ihnen hat sie so böse zugerichtet, daß sich der Feldscher um sie kümmern mußte.«
Tibor lachte.
»Wo
finde ich sie, meine wilde, ungezähmte Stute?«
»Du
wirst dich etwas gedulden müssen, bevor du mit der Zähmung der Widerspenstigen
beginnen kannst. Im Augenblick dient sie uns als Köder für einen größeren
Fisch. Wir müssen jetzt sehr vorsichtig sein und dürfen uns keinen Fehler
erlauben. — Aber jetzt störe mich nicht weiter. Ich bin gerade dabei die
Angel auszuwerfen.« Tiras drückte ein großes Siegel in das heiße Wachs am Fuße
einer Urkunde. Er klingelte nach einem Diener.
»Ich
wünsche, daß dies hier vervielfältigt und im ganzen Reich ausgerufen und
angeschlagen wird. Die schnellsten Postreiter sollen sich bereit machen.« Der
Diener nahm die Schriftrolle in Empfang, verneigte sich tief und eilte hinaus.
»Darf
man fragen, was das zu bedeuten hat?«
»Aber
gewiß, mein Sohn. Ich habe gerade deine Hochzeit mit Prinzessin Alissandra Thaïda
von Arkanien-Antal proklamiert.«
Tibor
zog die Augenbrauen hoch. »So etwas nennt man wohl das Angenehme mit dem Nützlichen
verbinden«, sagte er.
»Sohn!
Du mußt noch vieles lernen, bis du ein richtiger Regent wirst, und ich zweifle
sehr, daß dir das jemals gelingen wird. Aber wenn meine Pläne in Erfüllung
gehen, wirst du vielleicht bald der König von Arkanien sein.«
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