Verrat
Alissandra
saß am Fenster am Fenster in ihrem Zimmer im Nordturm. Ihre Blicke schweiften
in die Ferne, tasteten den verschwommenen Horizont ab. Nur ihre Gedanken waren
noch weiter weg. Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, seit sie auf dem Weg
nach Callidons Haus mitten Im Walde von den Häschern des Regenten überfallen
und verschleppt worden war. Man hatte sie auf direktem Wege in die Hauptstadt
geschafft. Dieser Überfall und ihr Transport waren so gut vorbereitet gewesen,
hatte so reibungslos funktioniert, daß kein Zweifel bestehen konnte, daß alles
von langer Hand geplant gewesen war. Wahrscheinlich hatte man sie schon längere
Zeit ausspioniert und dann eine günstige Gelegenheit abgepaßt.
Das
Schlimmste aber war, daß dem Regenten nicht nur sie allein in die Hände
gefallen war, sondern auch das kostbare Zauberschwert von Peter.
Den
Regenten und dessen Sohn Tibor hatte sie in den Tagen ihrer Gefangenschaft nur
ein einziges Mal zu Gesichte bekommen; und das reichte ihr auch. Man hatte ihr
von der geplanten Hochzeitsfeier erzählt, und sie hatte es schweigend zur
Kenntnis genommen. Es war für sie selbstverständlich, daß diese Hochzeit
niemals stattfinden würde.
Ihre
einzige Sorge galt Peter. Hoffentlich würde er keine Dummheiten begehen und
sich in Gefahr begeben. Aber Peter war viel zu klug und umsichtig, um sich unüberlegt
in irgendwelche Gefahren zu stürzen, dachte sie. Aber das tröstete sie wenig.
Genau
in diesem Augenblick schrillte unten die Alarmglocke los. Alissandra sprang auf
die Füße. Sie lief zur Tür und preßte horchend das Ohr ans Holz.
»Bitte
laß es nicht Peter sein!« flehte sie und lauschte weiter. Aber von unten war
kein anderes Geräusch zu vernehmen, als das langsamer werdende Klingeln der
Glocke, welches endlich verstummte.
Seit
sie in dem oberen, im Übrigen sehr bequem und elegant eingerichteten,
Turmzimmer gefangen gehalten wurde, war sie völlig von der Außenwelt
abgeschnitten. Sie hatte keine Ahnung, was draußen im Lande oder auch nur außerhalb
dieses Turmes vor sich ging. Außer den Wächtern und den Dienerinnen, welche
sie versorgten, bekam sie nie einen Menschen zu Gesicht; und jene durften kein
Wort mit ihr sprechen. Aber abgesehen davon wurde ihr jeder Wunsch erfüllt. Man
brachte ihr an Kleidern, Büchern und Speisen, was immer sie begehrte. Aber
meistens war es ihr egal, was auf den Tisch kam. Sie aß und trank, um bei Kräften
zu bleiben, aber ohne Appetit und verlangen.
Was
war dort unten im Treppenhaus geschehen? Wer hatte den Alarm ausgelöst? was es
nur eine Übung, um die Aufmerksamkeit ihrer Bewachter zu kontrollieren, oder
hatte wirklich jemand versucht, zu ihr durchzudringen? Vielleicht ihr geliebter
Peter, der den Bösewichten in die Hände gefallen war? Aber Peter würde doch
nicht allein kommen. Er käme mit einem mächtigen Heer, angeführt von Wilo, um
die Hauptstadt und den Palast zu erobern.
Das
waren ihre Gedanken, als ihr plötzlich das Zauberschwert wieder einfiel. Wie könnte
Peter gegen den Regenten kämpfen ohne den Schutz und Beistand des goldenen
Schwertes von König Brunnar?
Wenn
es ihr doch nur gelänge, einen der Bediensteten auf ihre Seite zu bringen,
damit sie wenigstens erführe, was geschehen war. Aber bislang hatte alles
Bitten und Flehen nichts gefruchtet, und sogar die Auslobung eines hohen
Bestechungsgeldes hatte keinen der Angestellten dazu bringen können, sein
Schweigen zu brechen — zu groß war die Angst vor dem Zorn des Regenten, der
in diesen Belangen besonders peinlich war. In diesen schlimmen Zeiten, wo das
Schwert des Henkers locker saß, wollte niemand seinen Hals riskieren; schon gar
nicht, wenn zu Hause eine Schar hungriger Kinder wartete. Alissandra mochte es
den Leuten nicht einmal verdenken. Für die einfachen Leute war sie, die
Prinzessin von Antal, auch nur irgend eine Adlige, welche von der Gunst des
Regenten und auf Kosten der ausgehungerten Bevölkerung lebte.
Ein
Rasseln an der Tür ließ sie zusammenfahren. Mit einem raschen Blick auf die
Pendeluhr an der Wand vergewisserte sie sich, daß es noch nicht Essenszeit war.
Es mußte also etwas mit dem Alarm zu tun haben, wenn zu dieser Stunde jemand zu
ihr heraufkam.
Der
Besucher war der bärtige junge Mann im Jagdkostüm, welcher niemand anderer
war, als Prinz Tibor, der Sohn von Tiras, dem Regenten von Arkanien. Alissandra
nahm eine aufrechte Haltung ein und versuchte, mit stolzer Miene möglichst
unbeteiligt dreinzuschauen.
Tibor
deutete eine höfliche, aber ein wenig spöttische Verbeugung an uns schloß die
Tür hinter sich.
»Ich
habe eine Neuigkeit für Euch, meine schöne zukünftige Braut, welche Euch
bestimmt sehr interessieren wird.«
»Ich
bin nicht Eure Braut und ich werde es auch nimmer sein«, gab sie kühl zurück.
»Das
wird die Zukunft weisen, meine Liebe«, fuhr Tibor ungerührt fort.
»Ich
habt doch sicher die Glocke gehört und Euch gefragt, wer wohl so töricht
gewesen sein könnte, uns in die Falle zu gehen. Es wird Euch freuen, zu hören,
daß es sich um einen alten Bekannten handelt. Es ist Euer Freund Peter.«
Alissandras
Augen weiteten sich und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Aber sie
beherrschte sich und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.
Daher sagte sie einfach in beinahe beiläufigen Tone: »So? Das glaube ich
nicht. Ihr müßt ihn mir schon zeigen, bevor ich Euch das abnehme.«
»Oh,
Ihr werdet ihn sehen und sogar sprechen können — schon sehr bald. Aber vorher
haben wir beide noch etwas zu bereden.«
Alissandra
ballte hinter dem Rücken die Hände zu Fäusten. War es wirklich Peter, den sie
vorhin geschnappt haben? — Lieber, guter, tapferer, dummer Peter! dachte sie.
Jetzt hatte Tibor sie in der Hand, und an seinem Gesicht sah sie, wie er seinen
Triumph bereits jetzt auskostete. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, daß
Tibor sich irrte, und der unglückliche gefangene nicht ihr Peter war. Immerhin
hatte Tibor ihn noch nie zuvor gesehen.
»Zuvor
aber will ich Euch noch etwas anderes zeigen, damit Ihr meine Vorschläge später
besser beurteilen könnt.« Er reichte Alissandra die Hand, welches sie
ignorierte und ihn statt dessen herausfordernd ansah.
Tibor
zuckte mit den Achseln und griff nach der Glockenschnur an der Wand. Kurz darauf
klopfte es an der Tür und herein traten zwei Offiziere der Leibgarde. Tibor
bedeutete ihnen, die Prinzessin zu geleiten. Zu viert stiegen sie hintereinander
die Treppe hinab und betraten das Palastgebäude. Tibor führte sie über schier
endlose Gänge und unzählige Treppen, bis hinab in das Kellergeschoß. Er nahm
eine der Pechfackeln, welche in einer Halterung an der Wand hing und zog einen
großen, rostigen Schlüssel aus der Tasche. Damit schloß er eine uralte,
schwarze, mit dicken, ebenfalls angerosteten eisernen Beschlägen verstärkte Tür
auf.
»Ich
darf vorausgehen«, sagte er und hielt die Fackel in die Höhe, damit sie den
Weg besser ausleuchtete.
»Vorsicht!
Jetzt kommt eine steile Treppe. Gebt auf Euren Rocksaum acht.«
Eine
schmutzige, aus groben Steinen gemauerte Treppe führte steil hinab in
unheimliche Tiefen. Nach der Feuchtigkeit und Kälte, die ihnen entgegen
schlugen, und dem modrigen Geruch zu schließen, mußten sie sich bereits
mehrere Meter tief unter der Erde befinden. An den Wänden schimmerte Schimmel
und auf dem Fußboden hatten sich glitschige Pfützen gebildet. Alissandra
begann zu frösteln.
»Wo
führt Ihr mich hin?« fragte sie Tibor, aber noch bevor er ihre Frage
beantworten konnte, hatten sie bereits das Ende der Treppe erreicht.
Jetzt
konnte Alissandra selber im flackernden Feuerschein der Fackel erkennen, wo sie
sich befanden: in der alten Folterkammer des Palastes. An dem Ende des großen
unterirdischen Gewölbes konnte sie die Zellen der Unglücklichen sehen, welche
vor Zeiten darauf warteten, das gleiche Schicksal zu erleiden, wie jener, dessen
Pein sie direkt vor ihren Augen mitverfolgen konnten. Eine weitere schwere Tür
mit doppelten Riegeln führte wahrscheinlich in die Verließe hinab, welche sich
noch eine Etage tiefer befanden.
»Dieser
Raum wurde lange Zeit nicht mehr benutzt«, hub Tibor an und ging durch den
weiten Raum, der mit den abscheulichsten Folterwerkzeugen ringsum vollgestellt
war. Tibor zündete weitere Fackeln an, welche den Keller in ein gespenstisches
Licht tauchten.
»Wie
Ihr seht, habe ich die Geräte größtenteils wieder herrichten lassen.«
er
ging von einem der Geräte zum nächsten, wie ein Verkäufer, der seine Waren
anpreist.
»Dies
hier zum Beispiel ist eine Streckbank. Davon habt Ihr bestimmt schon gehört.
Und das hier dient dazu, dem Delinquenten die Kniegelenke zu zerquetschen. Dort
ist die Esse, wo die Brenneisen und Zangen glühend gemachte werden. Und das da
ist eine kleine Auswahl an Peitschen. Aber im Grunde genommen bevorzuge ich die
kleineren, aber raffinierteren Apparate. Mit diesem Gerät etwa kann man einem
feine Nadeln unter die Fingernägel treiben und…« er brach ab, als er sah,
wie Alissandra bleich und schwer atmend an der Wand lehnte.
»Egal,
was Ihr mir antut, ich werde Euch niemals heiraten!« preßte sie hervor.
»Aber
nicht doch! Ich würde Dir niemals so etwas antun. Für derlei barbarische
Methoden bist du viel zu hübsch. Es wäre geradezu ein Verbrechen, diese Schönheit
in irgend einer Weise zu beschädigen«, entgegnete Tibor milde.
»Warum
habt Ihr mich dann hier hergeführt?«
»Um
dich darauf einzustimmen, was wir mit deinem kleinen Freund anstellen werden.
Und du wirst dabei zuschauen dürfen. Ich werde sogar einen Sessel für dich
bereitstellen lassen.«
Alissandra
stand bleich und zitternd da. Ihre Lippen bebten, aber sie brachte keinen Laut
darüber.
»Vielleicht
fangen wir mit den Daumenschrauben; der Kleine hat so zarte Finger, damit hat er
bestimmt noch nie etwas gearbeitet. Dann macht es wohl auch nichts, wenn er sie
hinterher auch nicht mehr dazu gebrauchen kann. Oder vielleicht ist die
Streckbank doch das bessere Mittel. Da könnte er sogar über sich selber
hinauswachsen.«
Alissandra
gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich und sank zusammen. Hätte einer der Wächter
sie nicht geistesgegenwärtig aufgefangen, so wäre sie auf den schmutzigen
Steinboden gefallen.
»Bringt
sie wieder hinauf. Sie ist jetzt reif!« befahl Tibor und spielte hämisch
grinsend mit der Kurbel der Streckbank.
Als
Alissandra die Augen aufschlug, lag sie auf ihrem Bett im Turmzimmer. Tibor saß
mit weit von sich gestreckten Füßen in einem Sessel neben dem Bett und wartete
geduldig, bis sie sich erhob.
»Ich
will jetzt auf der Stelle Peter sehen. — Falls Ihr ihn wirklich festgenommen
habt«, fügte sie hinzu. Sie hatte sich jetzt wieder in der Gewalt und schämte
sich ein wenig für ihre Schwäche.
»Du
wirst ihn gleich sehen und sprechen können, aber ich fürchte, du wirst wenig
Freude an dieser Begegnung haben. Ich werde dir jetzt deine Instruktionen geben.
Du möchtest doch, daß dein kleiner Freund am Leben und bei guter Gesundheit
beleibt, oder?«
Alissandra
nickte stumm.
»Gut.
Du wirst ihn hier in diesem Zimmer empfangen und ihm folgendes mitteilen: Du
willst ihn nicht wiedersehen, da du den Prinzregenten zu heiraten
beabsichtigest. Er solle sich fortscheren. Am besten kehre er wieder dorthin zurück,
woher er gekommen ist. Du sagst ihm, daß du ihn nicht liebest, ihn nie geliebt
habest, und daß alles nur Theater war, usw. …«
»Das
wird er mir nie glauben. Schon gar nicht, wenn er sieht, daß Ihr mich dazu
zwingt.«
»Ihr
beide werdet ganz allein hier drinnen sein. Es gibt keine Wachen, keine Fesseln,
keine abgeschlossenen Türen…«
»Ha!
Und wie käme ich dann dazu, Eure absurden Bedingungen zu erfüllen?« rief
Alissandra und fixierte Tibor mit einem herausfordernden Blick.
»Ganz
einfach, meine Liebe. Ich selber werde dort hinter dem Vorhang stehen und alles
hören und sehen, was hier geschieht. Wenn die also das Leben und die Gesundheit
deines Freundes etwas wert ist, dann wäre es besser, meine Anweisungen peinlich
zu befolgen. Du wirst ihn übrigens nicht berühren. Ich dulde kein Anfassen,
keine Umarmung, keinen Kuß und kein Geflüster und keine Gesten. Ich habe dich
genau im Blick. Wenn ich auch nur den Verdacht
habe, daß du mich hintergehst, ist es um ihn geschehen.«
»Warum
macht Ihr so etwas? ich kann das nicht tun. Das würde Peter das Herz brechen.«
Alissandra rang verzweifelt die Hände und begann wie von Sinnen in dem Zimmer
auf und ab zu gehen.
»Ist
es dir lieber, wenn ich ihm das Herz breche? Allerdings geschähe dies mit etwas gröberen
Mitteln. — Aber ich will es dir erklären, damit du es besser verstehst und
deine Rolle glaubwürdiger spielen wirst. Es wäre ein leichtes für mich,
deinen Peter umzubringen, aber das würde am Ende nur einen Helden aus ihm
machen — eine Rolle, für die er sich nach meinem Dafürhalten ohnehin nicht
eignet.«
Alissandra
preßte die Lippen aufeinander. Am liebsten hätte sie diesem Widerling Bescheid
gestoßen, aber sie wußte nur zu gut, daß sie damit Peter nur noch mehr in
Gefahr brächte.
Tibor
fuhr fort: »Wenn der Kerl dich vergißt und einer Heirat von uns beiden nicht
mehr im Wegen steht, dann wird sich alles wieder beruhigen.«
Angenommen,
ich täte, was ihr von mir verlangt, was wird dann aus Peter?«
»Wir
werden ihn wohl bis zur Hochzeitsfeier als Gast in unserem Palast beherbergen…«
›Kerker‹
meinst du wohl! dachte Alissandra.
»Aber
ich verspreche dir, daß ihm kein Haar gekrümmt wird.«
Alissandra
fühlte sich schlecht und ihr war ganz flau im Magen. Was man von ihr verlangte,
war einfach zu viel für sie. Sie erkannte, was Tibor ihr nicht gesagt hatte, nämlich,
daß er darauf spekulierte, daß Peter ohne sie der Mut verließe und daß er in
seine Heimat zurückkehrte. Tibor könnte sie dann ungehindert heiraten und sie
würde ihren Peter nie mehr wiedersehen. Aber dazu würde es nicht kommen. Wenn
Peter wirklich das Amulett zerstörte und in sein Land zurückkehrte, dann würde
sie ihm dorthin folgen. Wenn es ihm gelungen war, nach Arkanien zu kommen, dann
gab es auch irgend einen Weg in seine Welt; und diesen Weg würde sie finden.
Meister Callidon würde ihn bestimmt kennen. Selbst wenn sie für immer dort
bleiben müßte, und nie wieder nach Arkanien zurückkehren könnte, würde sie
nicht Zögern, ihrem Geliebten zu folgen. Wenn Peter in Sicherheit wäre, dann hätte
Tibor kein Druckmittel mehr gegen sie in der Hand; dann gäbe es keine Hochzeit
mehr. Sobald die große Schlacht geschlagen und Arkanien befreit wäre, würde
sie ihrem Peter folgen.
»Wenn
du etwas Zeit brauchst, um über meinen Vorschlag nachzudenken, dann…«
»Das
wird nicht nötig sein«, schnitt sie ihm das Wort ab.
»Ich
will ihn sofort sehen, dann habe ich es hinter mir. — Schwört mir aber, daß
Ihr ihm nichts antun werdet. Wenn ihm ein Leid geschieht, dann bringe ich Euch
um«, sagte sie und man konnte es ihr ansehen, daß sie es todernst meinte.
Tibor
nickte und griff nach der Klingelschnur. Dem Wächter, der kurz darauf erschien,
flüsterte er einige kurze Anweisungen ins Ohr. Der Offizier nickte stumm,
salutierte und ging hinaus.
»Ihr
wißt also, was Ihr zu tun habt, Prinzessin!« sagte Tibor und begab sich in
sein Versteck.
Alissandra
ging zum Tisch. Mit zitternden Händen schenkte sie sich ein Glas Wasser aus
einer Kristallkaraffe ein. Sie leerte das Glas in einem Zug. Ihre Kehle war wie
ausgedörrt. Hätte sie die Kraft, das zu tun, was von ihr verlangt wurde? Sie
mußte ihren Freunde, ihren Geliebten verraten — schlimmer, sie mußte ihn demütigen.
Das würde Peter nie überwinden.
Einen
Augenblick lang dachte sie daran, ob es nicht besser wäre, gemeinsam mit ihm zu
sterben. Aber das würde Tibor nicht zulassen. Er würde Peter langsam zu Tode
quälen, und sie müßte hilflos dabei zuschauen, in der Gewißheit, den
Peiniger ihres Geliebten später als ihren Gatten zu kennen.
So
weit durfte es nicht kommen. Peter mußte leben, um jeden Preis. Außerdem
bestand immer noch die Hoffnung, daß Wilo rechtzeitig ein Heer aufstellen könnte,
um gegen den Regenten anzutreten, noch bevor die Hochzeit stattfände.
Das
waren die einzigen Gedanken, welche sie in ihrem Kummer und in ihrer
Verzweiflung ein wenig aufrichteten.
Alissandras
Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte schier endlos lange,
bis es endlich zaghaft an der Tür pochte.
»Spiele
deine Rolle gut!« mahnte Tibor leise hinter dem Vorhang hervor.
»Herein!«
rief Alissandra mit brüchiger Stimme.
Langsam,
ganz langsam, tat sich die Tür auf. Herein trat Peter, der, als er Alissandras
ansichtig ward, sogleich auf sie zustürzte. Der freudig-erregte Ausdruck auf
Peters Gesicht, als er sie erkannte und sah, daß sie wohlauf war, gab ihr einen
Stich ins Herz.
›Es
tut mir leid, Peter. Du mußt mir verzeihen, aber es geschieht zu deinem
Besten‹, dachte sie.
Als
Peter Anstalten machte, sie heftig zu umarmen und zu küssen, wehrte sie ihn ab
und stieß ihn grob zurück.
Peter
stutzte, das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb.
»Alissandra!
Was ist los? Freust du dich nicht, mich zu sehen? Sie haben mich vorhin
geschnappt, aber ich bin ihnen gerade eben wieder entwischt. Die haben sich wie
Idioten angestellt. — Oh, Lisa! Du siehst einfach großartig aus in diesem
Kleid. Ich hoffe, sie behandeln dich anständig.« Er drehte sich um, ging zur Tür
und spähte kurz hinaus. Dann kehrte er wieder zu ihr zurück.
»Die
suchen mich irgendwo im Palast. Wir müssen von hier verschwinden, bevor die auf
die Idee kommen, hier nachzusehen.«
Alissandra
stand wie angewurzelt da. Schließlich holte sie tief Luft und begann schnell zu
sprechen.
»Ich
werde nicht mitkommen.«
»Wie
bitte? was redest du da?« Peter schaute sie verdutzt an. Was war geschehen? Was
hatten sie mit Alissandra angestellt?
»Ich
muß mir dir reden, Peter.«
»Ja,
natürlich. Ich verstehe, daß du viel zu berichten hast. Aber wir müssen hier
weg, solange noch Zeit dazu ist.«
»Ich
sagte, daß ich nicht mit dir kommen werde, Peter. Ich werde hier bleiben. Wie
du weißt, will der Prinzregent mich heiraten und ich — ich habe mich dazu
entschlossen, in die Hochzeit einzuwilligen.«
Peter
starrte sie mit offenem Mund an.
»Alissandra!
das ist jetzt nicht die Zeit für solche Scherze.« Als er sah, daß ihr Gesicht
ernst und gefaßt war, stockte er.
»Um
Himmels Willen! Was haben sie mit dir angestellt? Haben sie dir eine Gehirnwäsche
verpaßt, oder stehst du unter Drogen?«
»Laß
diesen Unsinn, Peter! Ich habe es mir gründlich überlegt. In den vergangenen
Tagen hatte ich genügend Zeit dazu.«
»Aber
ich… — ich dachte, wir liebten uns…«
Alissandra
lachte — laut und schallend.
»Ach
du Dummer! Das war doch nicht ernst gemeint!«
Diese
Worte verletzten ihn, aber noch viel, viel schmerzvoller war ihr Lachen. Es war,
als drängen glühende Pfeilspitzen durch seine Ohren ein, suchten sich ihren
Weg durch seinen Leib und bohrten sie mit Gewalt in sein Herz. Er konnte es
beinahe körperlich fühlen.
Nein!
Dies hier war nicht seine Alissandra. Er vernahm ihre Worte wohl und sah den
Ausdruck in ihren Augen, allein er mochte einfach nicht glauben, wie ihm hier
geschah. Gleichgültig, was man mit ihr angestellt hatte, oder welche Beweggründe
hinter ihrem rätselhaften und verletzenden Verhalten standen, das alles würde
er später ergründen, wenn er sie in Sicherheit gebracht hätte.
»Alissandra!
Ich weiß, daß du nicht meinst, was du sagst. Ich werde dich von hier
wegbringen, ob du willst oder nicht. Gemeinsam werden wir dich wieder zur
Besinnung bringen.«
Er
ergriff ihren Arm und wollte sie zu sich heran ziehen. Alissandra machte ein
entsetztes Gesicht und stieß einen leisen Schreckensschrei aus.
»Nein,
Peter! Nicht! es tut mir leid, aber du läßt mir keine Wahl.« Sie entwand sich
heftig seinem Griff und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
Eigentlich
war es kein richtiger Schlag, vielmehr ein leichter Klaps. Aber Peter traf er
wie ein Zentnergewicht. Fassungslos taumelte er ein, zwei Schritte zurück und
starrte sie an. Aber noch bevor er irgend etwas hätte sagen oder tun können,
stürzte Alissandra zur Wand
und riß heftig an der Klingelschnur. Gleichzeitig rief sie laut nach der
Wache.
Schwere
Stiefel polterten die Treppe herauf und nur einen Augenblick später stürzte
ein Trupp Wärter mit blanken Schwertern herein.
»Führt
diesen Eindringling weg. Ich will ihn nicht mehr sehen!« rief sie und wandte
sich abrupt ab. Ihre Finger krallten sich in den weichen Stoff ihres Kleides.
Sie wagte es nicht, Peter noch einmal anzusehen.
Die
Wächter umringten Peter, der sich widerstandslos von ihnen abführen ließ. Er
fühlte sich wie betäubt und schritt beinahe wie in Trance die Stufen hinab.
Alissandra
stand mit gesenktem Kopf unbeweglich im Zimmer. Sie mußte sich an einer
Stuhllehne festhalten. Ihr Atem ging stoßweise. Zu ihren Füßen netzten
winzige Tropfen die Steinfliesen.
Der
Vorhang, der den kleinen Nebenraum abtrennte, teilte sich und Tibor kam hervor.
Um seine Mundwinkel spielte ein feines, rasiermesserscharfes Lächeln. Wie sehr
genoß er diesen Augenblick!
»Du
hast dich selber übertroffen, Alissandra. Keine noch so begabte Schauspielerin
hätte es besser machen können. — Unserer Hochzeit in zwei Wochen steht jetzt
nichts mehr im Wege.« Er lachte laut und roh.
»Und
um die Sache perfekt zu machen, erlaube, daß ich mir schon einmal einen kleinen
Vorgeschmack nehme.« Er trat vor sie hin, ergriff ihr Kinn mit der einen Hand
und zog sie mit der Anderen dicht an sich heran. Dann stahl er sich einen Kuß
von ihren bebenden Lippen.
»Hhm!
Nicht schlecht für den Anfang. Aber das muß noch viel besser werden«, meinte
er und verließ lachend das Zimmer.
Alissandra
blieb allein zurück. Ein unüberwindlicher Ekel begann sie zu schütteln. Sie
hatte einfach keine Kraft mehr gehabt, sich zu wehren.
Mit
einem halb erstickten Schluchzen warf sie sich auf das Bett und zerwühlte die
Kissen und Laken mit beiden Händen.
Früher
hatte sie sich immer mehr oder weniger beherrscht, wenn sie sich verletzt oder
unglücklich gefühlt hatte, jetzt aber unternahm sie nicht einmal den Versuch,
irgend etwas zurück zu halten.
Sie
weinte lange und heftig, bis ihr übel wurde und sie sich vor Schmerz den Bauch
halten mußte. Irgendwann, spät in der Nacht, versiegten ihre Tränen endlich,
und sie schlief vor Erschöpfung ein.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:29 |