Gebirge
Wilo
war mit seinen beiden Begleitern zeitig aufgebrochen. Auf den gut befestigten,
breiten Handelsstraßen, welche von Carlan ausgingen, kamen die Pferde rasch
voran. Sie hatten sich für einen vierspännigen leichten Reisewagen
entschieden, der die Pferde mehr schonte, als wenn sie mitsamt dem Gepäck
rittlings unterwegs wären. Ursprünglich wollte der Rat von Carlan Wilo einen
Geleit-Troß zur Verfügung stellen, aber dieser hätte sie nur unnötig
aufgehalten. Außerdem würde ihre Reise sie durch Gegenden führen, welche von
den Truppen des Regenten gut kontrolliert wurden. Ein bewaffneter Trupp würde
sofort auffallen, und am Ende würden sie noch in Gefechte verwickelt werden.
Ein einzelner Wagen aber war verhältnismäßig unauffällig. Später könnten
sie ein großen Stück Weges auf dem großen Fluß zurücklegen, welcher nach über
hundert Meilen nach Westen abbog. Dort würden sie auf Pferde umsteigen. Wilo
hatte ausgerechnet, daß sie bei günstigen Bedingungen in gut zwei Wochen in
den Bergen anlangen könnten.
Wilo
lehnte sich zurück in die Polster des Wagens. Seit zwei Stunden versuchte er,
ein wenig Schlaf zu finden, was ihm aber nicht recht gelingen wollte. Wie sollte
man auch schlafen können, wenn man in einer Kutsche durcheinandergerüttelt
wurde; ganz zu schweigen von dem Lärm, den die eisenbeschlagenen Wagenreifen
und Pferdehufe auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße verursachten.
Neidig betrachtete er seinen Reisegefährten, einen dunkelhaarigen jungen Mann
namens Renal, der, die zerknautschte Reisemütze tief in die Stirn geschoben,
leise schnarchend auf der gegenüberliegenden Bank saß.
Dieser
Kerl könnte vermutlich auch neben einem Wasserfall schlafen, dachte Wilo und
versuchte, wenigstens ein wenig zu dösen. Nach der nächsten Rast mußte er
Lukan, den Kutscher ablösen. Wenn es ihnen gelänge, auf der nächsten
Poststation frische Pferde zu bekommen, dann könnten sie viel Zeit einsparen.
Die Lage in der Hauptstadt war explosiv, und nach Alissandras Entführung drängte
die zeit. Wilo hatte daher beschlossen, den ersten Teil der Strecke, welche sie
auf dem gut ausgebauten Straßennetz zurücklegen konnten, in möglichst kurzer
Zeit zu bewältigen, denn die Wasserverhältnisse auf dem Fluß konnten sich
leicht von Tag zu Tag ändern. Und wenn sie Pech hätten, und kein Schiff
vorhanden war, würden sie viel zeit verlieren. Später, im Norden, wo das Land
dünn besiedelt war, und erst recht in den Bergen, wo es kaum vernünftige Straßen
gab, würden sie nur noch langsam vorwärts kommen.
Im
Grunde mußten sie die Gleiche Strecken zurücklegen, wie Peter und Alissandra
bei ihrer Reise nach Carlan, und noch ein gutes Stück weiter hinauf in den
Norden. Allerdings konnten sie die Hauptverkehrsstraßen und Handelswege nehmen,
welche durch Städte und Dörfer führten und wo es in regelmäßigen Abständen
Herbergen, Poststationen und Wirtshäuser gab, wo Menschen und Pferde sich stärken
konnten und müßten sich nicht abseits von jeder Zivilisation auf
verschlungenen Wegen fortbewegen, wie die beiden es auf ihrer Flucht getan
hatten.
Mit
einem leisen Seufzer verfolgte Wilo die draußen vor den Fenstern gemächlich
vorbeiziehende Landschaft. Er hoffte inständig, daß diese Reise ein Erfolg würde.
Ohne die Unterstützung der Widerstandskämpfer aus den Nordprovinzen würde es
sehr, sehr schwierig werden, in dem großen Lande die Macht des Regenten zu
brechen. Zugleich war Wilo diese Mission aber auch aus mehreren Gründen höchst
unangenehm. Zum einen gab es gerade zu diesem Zeitpunkt in Carlan sehr viele
wichtige Angelegenheiten zu regeln, welche er nur ungern anderen überließ, zum
anderen wußte er nicht, was für eine Aufnahme er bei den Rebellen finden würde.
Zwar trug er ein Empfehlungsschreiben eines Mittelsmannes in der Tasche, welches
ihn als einen Bundesgenossen auswies, aber durch die zahlreichen Spione des
Regenten, waren die Widerstandsgruppen vorsichtig und mißtrauisch gegenüber
Fremden geworden, so daß es vielleicht eine geraume Zeit in Anspruch nehmen könnte,
sie von seiner Mission zu überzeugen.
Zu
alledem kam hinzu, daß Alissandras Bruder sich bei jenen Rebellen aufhielt, und
Wilo die unangenehme Aufgabe zukäme, ihn vom Schicksal seiner jüngeren
Schwester zu unterrichten.
Die
Fahrt ging flott voran. Wilo hatte den Kutscher angewiesen, nicht durch das Dorf
Goldbrunn zu fahren, welches am Wege lag, sondern einen Bogen darum zu machen.
Dies lag nicht etwa daran, daß er etwas gegen die Leute von Goldbrunn hatte,
sondern, weil er befürchtete, daß man ihn dort so gastfreundlich aufnehmen und
empfangen würde, daß dies seine Reise erheblich aufhalten würde.
Nach
der Mittagsrast in einem der Gasthöfe an der Landstraße, wo sich hauptsächlich
Kaufleute und fahrende Handwerksgesellen aufhielten, bestieg Wilo den
Kutschbock, während Lukan, der Kutscher sich im Wagen ausruhte.
Während
der folgenden zwei Tage ereignete sich nichts erwähnenswertes. Die Reise
verlief ohne Zwischenfälle oder Ungelegenheiten. Es schien als stände Wilos
Vorhaben unter einem guten Stern, bis sich am dritten Tage, nur wenige Meilen
vor Lienenbronn, einem kleinen Städtchen am Fluß, wo sich die Reisenden
einzuschiffen gedachten, ein böses Unglück ereignete. Das geschah so.
Es
war bereits gegen Abend und der junge Renal saß auf dem Kutschbock. Da sie die
Stadt noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollten, trieb er die Pferde an.
Leider war er kein erfahrener Wagenlenker, sonst hätte er besser auf die Straßenverhältnisse
geachtet. Die Pferde galoppierten mäßig voran, als Renal ein tiefes Schlagloch
übersah. Mit einem gewaltigen Schlag blieb der wagen stecken, die Deichesel
brach und das rechte Rad des Wagens fiel auseinander, nachdem zwei Speichen
gebrochen waren. Die Pferde erschraken und gingen durch. Der unglückliche Renal
aber wurde von dem Wagen herab geschleudert. Er überschlug sich mehrere Male,
bis er endlich regungslos im Straßengraben liegen blieb.
Auch
die beiden Insassen wurden heftig durcheinandergeschleudert, kamen aber mit dem
Schrecken und einigen leichten Blessuren davon. Sogleich stürzten Wilo und
Lukan aus dem schwer beschädigten wagen, um ihrem verwundeten Kameraden
beizustehen.
Im
ersten Augenblick dachten sie, der arme Renal sei tot, als sie seinen verdrehten
und geschundenen Leib im Straßengraben liegen sahen. Aber zum Glück atmete er
noch und, nachdem sie ihn vorsichtig umgedreht und am Straßenrand niedergelegt
hatten, kam er langsam wieder zu sich. Er hatte eine stark blutende Platzwunde
am der Sturm und der linke Arm war gebrochen. Ansonsten schien ihm, außer
zahlreichen Prellungen und Hautabschürfung nichts zu fehlen.
Da
Wilo aus seiner Militärzeit einige Kenntnisse im Versorgen von Verletzungen
besaß, gelang es ihnen, den Arm notdürftig zu schienen und die Wunden zu
verbinden. Weil sich der beschädigte Wagen an Ort und Stelle in Ermangelung der
benötigten Werkzeuge und Ersatzteile nicht reparieren ließ, schickte Wilo den
Kutscher Lukan in die Stadt, um Hilfe zu holen, derweil er bei dem Verwundeten
wachen wollte. Vielleicht gelänge es Lukan sogar, das durchgegangene Gespann
unterwegs wieder einzufangen.
Es
dauerte weniger als eine Stunde, bis der Kutscher mit einem Wagen und einem Arzt
aus der Stadt zurückkehrte. Der Verletzte wurde nach Lienenbronn geschafft und
dort der Obhut des Arztes anvertraut, der versprach, sein bestes zu tun, damit
der junge Mann bald wieder auf die Beine käme.
Wilo
bat Lukan, bei dem Verletzten zu bleiben, derweil er die Reise allein fortsetzen
wolle. Es gelang ihm, bei den Landungsstegen am Flußufer einen Schiffer zu
finden, der um ein mäßiges Entgelt bereit war, ihn flußabwärts bis zu der
großen Biegung zu befördern.
Am
nächsten Morgen bereits betrat Wilo den schwankenden Boden des kleinen Nachens,
der außer ihm selbst und dem Schiffer, auch dessen ältesten Sohn beförderte.
Beim Anblick des winzigen Schiffleins und dem Gefühl der schwankenden und
schaukelnden Planken unter seinen Füßen, wurde es Wilo freilich ein wenig flau
im Magen. Er war noch nie zur See gefahren, und nachdem ihm eine Fahrt auf dem
Fluß bereits nicht sonderlich geheuer war, verspürte er noch weniger
Verlangen, sich jemals auf das Meer hinaus zu wagen, gleichgültig, wie
abenteuerlich und verlockend die Schilderungen der Seefahrer waren, denen er als
Kind so gerne gelauscht hatte.
Das
Boot war mit zwei Paar Riemen ausgestattet, so daß es möglich war, bei
geringer Fließgeschwindigkeit zusätzlich Fahrt zu machen.
Während
das Boot gemächlich den Fluß hinab trieb, gab es an Bord nicht viel zu tun,
und Wilo ließ sich von dem Sohn des Schiffers in die Kunst des Angelfischens
einweihen.
Nach
anfänglichen Mißerfolgen und Verdruß über die Schnur, die sich dauernd
verhedderte, gelang es Wilo endlich, die Rute richtig auszuwerfen, und am Ende
desselben Tages bereits war auch ihm das sprichwörtliche Anfängerglück hold:
er zog eine prächtige Forelle an Bord, welche den dreien vorzüglich zum
Abendbrot mundete.
Nachts
war es ein wenig beengt, aber bei dem schönen und milden Wetter war es kein
Problem, sich einen geeigneten Lagerplatz am Ufer oder auf einer der zahlreichen
Flußinseln zu suchen, während die beiden Schiffer, welche es nicht anders
gewohnt waren, es vorzogen, an Bord des fest am Ufer vertäuten Bootes zu nächtigen.
Die
Flußfahrt dauerte drei Tage, während derer Wilo sich mit den beiden Schiffern
ein wenig anfreundete, und als sie in Pornitz, einer größeren
Provinzhauptstadt, dem Ziel ihrer Fahrt anlegten, fiel ihnen das Scheiden nicht
leicht.
In
Pornitz hielt Wilo sich nicht lange auf. Er kaufte ein Pferd und etwas Proviant
und machte sich sogleich weiter auf den Weg, obgleich die Stadt, in welcher er
sich zum ersten Male aufhielt, einiges an Sehenswürdigkeiten bot.
Nach
der Schaukelei in der Kutsche und dem Schwanken des Bootes war er froh, endlich
wieder auf einem Pferderücken zu sitzen. Das Roß erwies sich als ein guter
Kauf, und so kam er schneller voran, als erwartet. In einem bis zwei Tagen würde
er in die Gegend von Antal, Alissandras Heimat, gelangen.
In
dem Herzogtum Antal hielt er sich nicht lange auf. Von Ferne konnte er im Tale
unten zwischen den grünen Laubwäldern das Schloß des Herzogs leuchten sehen.
Das schöne, langgestreckte Gebäude inmitten des zu der Jahreszeit farbenprächtig
erblühten Parks bot einen angenehmen und gefälligen Anblick; es strahlte
Pracht und verspielte Heiterkeit aus. Aber der schöne Schein trog, das wußte
Wilo genau. Das prächtige Schloß stand beinahe leer und in dem Inneren der weiß
getünchten Mauern herrschte Gram und Sorge. Wilo wendete sein Pferd und ritt
von dem Ort weg, der ihn an Alissandra gemahnte und ihm zugleich das Ziel seiner
weiten Reise ins Bewußtsein rückte.
In
der Tat konnte einen die liebliche Landschaft Antals leicht ablenken. Von seinem
erhöhten Standort ließ Wilo den Blick weit in das Land schweifen, welches von
dunklen Laubwäldern, fetten Wiesen voller großer schwarz-weiß gescheckter Kühe
und von in voller Blüte stehenden Kornfeldern geprägt wurde. Etwas weiter im Süden
war er an ausgedehnten Weinbergen vorbei geritten, welche sich beiderseits an
den flachen Hängen eines breiten Flußtales entlang zogen.
Der
Anblick dieser schönen Landschaft ließ Wilo für einen Augenblick vergessen,
in welch schrecklichem Zustande sich das Land und die Menschen befanden. Den grünen,
sonnenbeschienenen Tälern und Ebenen sah man weder den Hunger noch die Unterdrückung
der Menschen an. Aber in jedem Dorf, durch welches Wilo kam, konnte er die
traurigen Augen hungriger Kinder, die ausgemergelten Gestalten der alten Leute
und die von schwerer Arbeit gebeugten Schultern der Bauern sehen. Der schöne
Schein der blühenden Felder ließ aus der Ferne nicht erkennen, daß in diesem
Teil Arkaniens der Boden keine so reiche Ernte hergab, wie in Carlan. Alles mußte
der Erde in harter, körperlicher Arbeit abgerungen werden. Hinzu kam, daß die
Winter lang und streng waren und die Vorräte der Landbevölkerung kaum für den
eigenen Bedarf reichten, geschweige denn für den Hof des Regenten und das große
Heer, welches Tiras sich halten mußte, um des immer größer werdenden Unmuts
in der Bevölkerung Herr zu werden.
Wilo
trieb sein Pferd an . Bald würde er das Vorgebirge erreichen.
Nach
zwei Tagen im Sattel veränderte sich die Landschaft schlagartig. Wo zuvor
friedliche Bäche und kleine Flüsse träge plätschernd zu Tale zogen,
spritzten und gurgelten hier weiß gischtende Wasserläufe in steinigen Betten.
Das Gelände wurde immer steiler, die Wege schmaler, steiniger und
kurvenreicher. Sogar der fruchtbare Erdboden schien dünner zu werden. An immer
mehr Stellen war die dünne Kruste fruchtbarer Erde aufgebrochen und hervor
lugten Steine und scharfkantige Felsen. Die hellgrünen Laubwälder wichen
dunklen Fichten und Nadelhölzern.
Als
Wilo zum ersten Male am Horizont einen schneebedeckten Berggipfel sah, wußte
er, daß er seinem Ziele nicht mehr fern war.
Je
höher er in die Berge aufstieg, desto öfter mußte er vom Pferde absteigen und
es auf den schmalen Saumpfaden führen. Auf der einen Seite standen scharfe
Felskanten im Wege und versperrten den Blick um die nächste Wegbiegung, auf der
anderen ging es steil hinab. Mehr als einmal schauderten Pferd und Reiter beim
Anblick der Tiefe. Aber so lange Wilo schon bergauf ging, hatte er dennoch das
Gefühl, noch immer am Fuße der schier unüberwindlichen Berge zu stehen. Er wußte
freilich, daß diese Berge, welche kaum mehr als 3500 Meter hoch waren, im
Vergleich zu dem Riesengebirge im Osten sich nur wie flache Hügel ausnahmen;
dennoch war er von ihrem Anblick tief beeindruckt.
Das
eigentliche Ziel seiner Reise bildete der Ort Flimsdorf, eine winzige Gemeinde
im Tale. Es war der letzte ganzjährig bewohnte Ort vor dem Paß, welcher über
das Gebirge in die nördlichsten Länder Arkaniens, die im äußersten Norden an
das Eismeer grenzten, führte. Da aber jene äußersten Nordprovinzen nur sehr dünn
besiedelt waren, gab es auch kaum Reisende, welche den beschwerlichen Weg
dorthin auf sich nahmen. Auf der Paßhöhe befand sich eine einsame Zollstation,
welche nur im Sommer besetzt war und unten im Tale lag eine kleine Garnison.
Das
diese Gegend aber eine Hochburg der Rebellen war, welche über ausgezeichnete
Ortskenntnisse verfügten und in den zahlreichen Schluchten und Tälern über
unzählige Zufluchten und Stützpunkte verfügten, wo sie sich oft Wochenlang
dem Zugriff der Armee entziehen konnten, hatte der Regent es irgendwann
aufgegeben, neue Truppen in diese Gegend zu entsenden und beschränkte sich
darauf, die kleine Garnison, die nicht viel mehr als ein Außenposten war, zu
unterhalten. Vor den Soldaten in der Garnison hatten die Rebellen nichts zu befürchten.
Viele von ihnen stammten selber aus der Gegend und hatten sich heimlich mit den
Widerstandskämpfern verbrüdert. So kam es nur zu gelegentlichen, meist
harmlosen Scharmützeln, um wenigstens den Schein zu bewahren.
Aber
Tiras war schlau; als er einsehen mußte, daß mit militärischer Gewalt nichts
auszurichten war, hatte er begonnen, Spione und Saboteure in die
Widerstandsgruppen einzuschleusen. Diese hatten sich zu einer wirklichen Gefahr
entwickelt, besonders weil sie es außerordentlich schwierig machten, neue
Mitglieder und Verbündete, welche nicht aus der unmittelbaren Umgebung kamen
und den Leuten am Orte unbekannt waren, aufzunehmen. So konnten die Gruppen nur
sehr langsam Zuwachs gewinnen und bildeten für die Macht des Regenten keine
ernst zu nehmende Gefahr.
Neuankömmlinge
wurden von den Rebellen daher gründlich unter die Lupe genommen, bevor sie
Zugang zu den geheimen Verstecken und Kontakt mit den Führern bekamen.
Wilo
war von dem Mittelsmann in Carlan beschieden worden, sich in der einzigen
Herberge von Flimsdorf einzuquartieren und dort nach einem Manne namens Rognar
zu fragen.
Als
Wilo in das Dorf kam, fühlte er mit einigem Mißbehagen die mißtrauisch
fragenden Blicke der Bewohner aus sich lasten. Zu Gesichte bekam er freilich außer
einigen Kindern kaum jemanden.
Allerdings
befanden sich nicht alle Bewohner im Dorf selber, sondern viele lebten während
der Sommermonate auf den Almen, wo das Vieh in den Steilhängen weidete und der
berühmte Bergkäse hergestellt wurde.
Wilo
wäre beinahe an der Herberge vorbei geritten, als er halb versteckt unter einem
hölzernen Balken ein von der Sonne ausgebleichtes Schild entdeckte.
Alle
Häuser in dem Dorfe waren nach der selben Bauweise errichtet. Das Fundament und
das Erdgeschoß waren aus Natursteinen und grob zugehauenen Feldsteinen
gemauert, während das Obergeschoß — die meisten Häuser besaßen nur zwei
Etagen — aus Holz gezimmert waren. Die Dächer waren entweder mit
Holzschindeln oder Schieferplatten gedeckt.
Obgleich
es bei Wilos Ankunft bereits gegen Mittag zu ging, fand er die Herberge
verschlossen. Erst auf sein wiederholtes heftiges Pochen an die wettergegerbte Tür,
erschien eine alte Frau in einem einfachen Kleid mit einer schwarzen Haube auf
dem Kopf.
»Was
wünscht Ihr?« fragte sie in einem nicht besonders einladenden Tone.
»Ich
suche eine Unterkunft. Ist die Herberge nicht geöffnet?« fragte er so höflich,
wie er es unter diesen Umständen vermochte, angesichts des in ihm aufsteigendem
Unmuts.
»Um
diese Zeit haben wir selten Gäste«, lautete die wenig informative Antwort.
»Ich
suche einen Mann namens Rognar.«
Das
Weib erstarrte und fixierte Wilo mit einer Mischung aus Neugier und Mißtrauen
mit ihren kleinen, wasserblauen Äuglein.
»Der
ist nicht hier«, brummte sie.
»Dann
werde ich eben hier auf ihn warten«, meinte Wilo, dessen Ton bereits eine Spur
schärfer wurde. Er hatte zwar schon einiges über die verschlossene und
zuweilen etwas grantige Art der Bergler gehört, und es für übertrieben und
voreingenommen gehalten, aber jetzt schienen sich seine Befürchtungen zu bestätigen.
Wenn sich die Rebellen als vom gleichen Schlage erweisen sollten, würde sich
seine Mission weitaus schwieriger gestalten, als er je befürchtet hatte.
Er
folgte der Alten ins Haus. Die Gaststube war winzig. Außer einem rußgeschwärzten
Ofen mit einer steinernen Ofenbank hatten gerade vier kleine Tische Platz in dem
gänzlich mit Holz verkleideten Raum, dessen winzige Fenster nicht gerade viel
Licht herein ließen.
Wilo
konnte sich gut vorstellen, was für eine Enge an den kalten, dunklen
Winterabenden in der Schankstube herrschen mochte, welche wohl den
gesellschaftlichen Mittelpunkt des Dorfes darstellte.
Das
Nachtlager, welches ihm angeboten wurde, war nur wenig besser, als das seines
Pferdes. Aber als Soldat hatte er sich zum Teil bedeutend schlechter
einquartiert befunden. Von daher erschütterte ihn so leicht nichts mehr.
Allerdings hätte er sich als General und Stellvertreter Peters in Carlan
durchaus eine bessere Behandlung gewünscht. Aber es war ihm natürlich klar, daß
seine ehrfurchtgebietenden Titel im Augenblick nur erst auf dem Papier
bestanden, und daß es noch ein weiter Weg wäre, bis er tatsächlich in Amt und
Würden stände.
Nachdem
Wilo sein Pferd versorgt und ein einfaches Mahl in der Herberge zu sich genommen
hatte, ging er ein wenig in dem Dorfe und indessen näherer Umgebung spazieren.
In der Herberge war er der einzige Gast und es schien ihm wenig wahrscheinlich,
daß Rognar gerade zu dieser Stunde auftauchen würde. Also wanderte er ein
wenig in dem engen Tale umher und ließ seine Blicke über die steilen Hänge,
die als Viehweiden und sogar als Felder bewirtschaftet wurden und zum Teil in
schmale Terrassen angelegt waren, um der Erosion der dünnen Schicht fruchtbaren
Ackerbodens Einhalt zu gebieten. Es war ihm schier unbegreiflich, wie die
kleinen grauen Kühe es fertig brachten, auf den steilen Abhängen zu grasen,
ohne hinab zu stürzen, und er verspürte eine große Hochachtung vor diesen
Bergbauern, welche dem Berg noch das kleinste Stückchen fruchtbaren Bodens
abzuringen verstanden.
Wie
klein und ohnmächtig nahmen sich die winzigen Hütten und Dörfer gegenüber
den mächtigen Gebirgsmassen aus, deren von Schnee bekrönte Häupter sich in
den blauen Himmel erhoben. Wer hier aufgewachsen war, der konnte keinen Respekt
vor irgend einem Herrscher oder Regenten in der fernen Hauptstadt empfinden;
hier herrschte das mächtige, unbarmherzige aber gerechte Gesetz der Natur. Ein
falscher Tritt genügte, um seine Unvorsichtigkeit mit dem Leben zu bezahlen,
eine schlechte Ernte bedeuteten Hunger und Not im Winter, ein Unwetter konnte
den Verlust der Herde und der Kulturen bedeuten. Es gab hier keinen Handel,
keine Manufakturen, kaum Gewerbe. Die Land- und Viehwirtschaft stellte die
einzige Lebensgrundlage für die Menschen dar. Erst einige hundert Meilen weiter
im Osten hatten reiche Silbervorkommen den Bergbewohnern einen geradezu märchenhaften
Reichtum beschert. In dieser Gegend aber gab es keinen Bergbau. Zwar gab es
einige Kundige, welche in den öden Felsmassen erfolgreich nach seltenen
Mineralien und Kristallen suchten, aber das bot ihnen nur einen geringfügigen
Zuerwerb, da es für solche Waren keinen organisierten Handel gab.
Tief
beeindruckt von der rauhen Schönheit der Gebirgslandschaft wanderte Wilo den
ganzen Nachmittag herum. Hie und da wechselte er ein paar Worte mit den
Menschen. Die meisten, denen er auf seinen Wanderungen begegnete, waren ältere
Leute, Frauen und kleine Kinder. Die jungen Leute und die erwachsenen Männer
lebten oben in den Alphütten, wo sie das Vieh hüteten, denn im Tal gab es
nicht genug Futter; und das wenige mußte als Wintervorrat eingelagert werden.
Auf
seinem Spaziergang fiel Wilo eine Sache besonders auf: An mehreren steilen Hängen
hatten die Leute hölzerne Zäune in mehreren Reihen hintereinander angelegt,
welche einen ziemlich soliden Eindruck machten und mit dicken Pfählen fest im
Untergrund verankert waren. Anfangs konnte er sich keinen Reim darauf machen.
Erst später sollte er erfahren, was es damit auf sich hatte. Diese Verbauungen
sollten im Winter die Schneemassen aufhalten und verhüten, daß sich
Schneebretter lösten und als Lawinen von ungeheurer Zerstörungskraft ins Tal
hinabstürzten, wobei sie alles was sich auf ihrer Bahn befindet mit sich reißen.
Eine solche Lawine konnte im schlimmsten Falle sogar eine breite Schneise in die
Fichtenwälder reißen, welche zum Teil ebenfalls als Schutz eigens aufgeforstet
worden waren.
Wilo
konnte sich gar nicht vorstellen, was eine richtige Schneelawine ausrichten
konnte, bis ihm einer der Dorfbewohner eine Stelle im Hang zeigte, wo vor
einigen Jahren eine große Lawine herunter gekommen war. Auf einer Breite von
gut fünfzig Metern und einer Länge von mehreren hundert hatten die
Schneemassen alle Bäume mitsamt ihren flachen Wurzeln herausgerissen. Wo einst
dunkle Nadelbäume standen, schien jetzt der nackte Felsen hervor. Es würde
viele Jahre dauern, bis diese Narbe verheilt wäre.
Nach
mehreren Stunden kehrte Wilo abends ins Dorf zurück. Obzwar die Sonne längst
hinter den Bergkämmen verschwunden war, und es sogleich merklich kühler wurde,
blieb es noch lange hell.
Wilo
war gerade im Begriffe, in die Herberge einzutreten, als sich ihm ein Mann in
der gewöhnlichen Arbeitskleidung der Bergbauern in den Weg stellte.
»Ihr
habt nach Rognar gefragt?« redete er Wilo an. »Was wollt Ihr von ihm?«
»Das
will ich ihm lieber selbst sagen«, erwiderte Wilo. Als der andere daraufhin
schwieg fügte er hinzu: »Ich habe ein Empfehlungsschreiben aus Carlan.«
Der
Mann schien einen Augenblick lang zu überlegen; schließlich sagte er: »Ich
werde Euch zu ihm führen. Seid Ihr allein?« Wilo nickte.
»Dann
folgt mir!« befahl er und ging zügig voraus.
Er
führte Wilo zum Ende des Dorfes, wo ein kleiner, windschiefer Stall direkt in
den Hang hineingebaut war, so daß er keine Rückwand besaß. Er bedeutete Wilo
draußen auf ihn zu warten, während er hineinging.
Durch
die Ritzen der grob zusammengefügten Holzbretter konnte Wilo erkennen, wie
drinnen ein Licht angezündet wurde. Er vernahm ein leises Gemurmel. Offenbar
befand sich noch mindestens eine weitere Person in dem Stall.
Es
wurde merklich dunkler und Wilo fing an zu frieren. Er schlug seinen Mantel, den
er bisher über dem Arm getragen hatte
um die Schultern und knöpfte ihn zu.
Wenig
später kam der Mann, mit dem er gesprochen hatte in Begleitung eines anderen,
älteren Mannes und eines kleinen isabellfarbigen Pferdchens heraus.
»Ich
hoffe, es macht Euch nichts aus, wenn wir Euch bis wir dort sind die Augen
verbinden«, sagte der ältere und zog ein riesiges blau-weiß gemustertes
Schnupftuch aus der Tasche. Er faltete es zu einer breiten Binde und band diese
sorgfältig um Wilos Kopf. Nachdem er sich davon vergewissert hatte, daß Wilo
nun nichts mehr sehen konnte, hieß er ihn auf das Pferd steigen, wobei ihm der
andere behilflich war.
Wilo
gehorchte wortlos, obgleich ihm diese Sache ein wenig ungeheuer vorkam. Die
beiden Unbekannten führten das Pferd auf schmalen wegen und Pfaden bergwärts.
An dem Geräusch der Hufe und der Haltung des Tieres konnte Wilo erkennen, daß
es auf felsigem Grund steil bergauf ging. Mehrmals mußte er sich an der Mähne
festhalten, als das Tier mit kraftvollen und erstaunlich sicheren Schritten
manchen steile Anhöhe nahm.
Je
höher sie hinaufstiegen, desto mulmiger wurde ihm zumute. Er stellte sich die
schmalen felsigen Pfade und die tiefen Abgründe vor, und bei jedem Stein, der
sich unter den Hufen des Pferdes löste und talwärts verschwand, ohne daß er
einen Aufprall vernahm, zuckte er zusammen.
Nach
beinahe zwei Stunden Marsches, während denen sie nur drei Mal eine kurze
Verschnaufpause einlegten, langten sie endlich an ihrem Ziele an.
Das
Geräusch der Schritte veränderte sich plötzlich; es bekam einen dumpfen
Widerhall und auch die Luft roch auf einmal anders. Sie mußten sich irgendwo im
Inneren der Erde befinden, wahrscheinlich in einer Höhle, wie Wilo vermutete.
Als er endlich absteigen durfte und ihm die Augenbinde abgenommen wurde, fühlte
er sich sehr erleichtert.
Anfangs
hatte er Schwierigkeiten sich zu orientieren, dann aber erkannte er, daß er
sich in einer riesigen Höhle befand. Das unterirdische Gewölbe war so hoch und
weit, daß er die Decke nicht erkennen konnte, obgleich in regelmäßigen Abständen
Pechfackeln an den Wänden angebracht waren. Sie waren inzwischen nicht mehr
allein; ein Dutzend bewaffneter Männer umringte sie und starrte Wilo mit
unverhohlener Neugier an.
Ein
kräftiger Mann von ungefähr vierzig Jahren löste sich aus der Gruppe und trat
vor Wilo hin.
»Ihr
wollt mich sprechen? Ich bin Rognar«, sagte er.
Wilo
stellte ich vor und überreichte Rognar das versiegelte Schreiben des
Mittelsmannes aus Carlan. Rognar nahm den Brief an sich und sprach: »Seid
willkommen! Ruht Euch aus. Man wird Euch zu Essen und zu Trinken geben. Später
werden wir reden.«
Wilo
bedankte sich und ließ sich durch die Höhle führen. Gleich hinter dem gut
geschützten und bewachten Eingang befanden sich die Ställe für die Pferde,
große aus Brettern gezimmerte Pferche. Es handelte sich dabei ausnahmslos um
jene kleinwüchsigen, ungemein ausdauernde und trittsichere Rasse von
Gebirgspferden, welche seit Jahrhunderten als Saumtiere in dieser Gegend gezüchtet
wurden und zu denen auch das Tier gehörte, welches ihn hinauf getragen hatte.
Weiter hinten wurden auch andere Tiere, vornehmlich Ziegen, eine Handvoll Schafe
und einiges an Kleinvieh gehalten.
Neben
der großen Haupthöhle, welche sich auf über hundert Metern Länge durch den
Berg zog, gab es mehrere kleinere Gänge, welche von dem Hauptgang abzweigten
und in ein unterirdisches Labyrinth von Gängen, Höhlen und Spalten führten,
in denen jeder unkundige sich rasch rettungslos verirren würde und elendiglich
verschmachten müßte, wenn er nicht vorher in eine der bodenlosen Spalten
fiele.
Viele
der breiteren Gänge und auch die große Höhle selber waren durch Bretterwände
und Verschläge unterteilt und dienten den verschiedensten Zwecken. Die ganze
Anlage glich einem unterirdischen Bunker.
Es
gab Schlafräume, Vorratskammern, eine Werkstatt mit einer Schmiede, eine Küche,
eine Waffenkammer, sowie zahlreiche Aufenthaltsräume und viele andere
Einrichtungen mehr, welche Wilo vorläufig nicht zu Gesichte bekam.
Wie
viele Männer und Frauen sich hier aufhielten, mochte er nicht feststellen, aber
es durften an die hundert sein.
Seine
Ankunft löste eine gewaltige Aufruhr aus, denn es war bereits mehrere Wochen
her, seit die letzte Nachricht aus dem Süden eingetroffen war, und ein jeder
wollte dem Fremden aus dem fernen Carlan — eine Stadt, welche die allermeisten
von ihnen nur vom Hörensagen kannten — sehen und seinen Berichten lauschen.
Wilo
wurde in die »große Halle«, wie die Haupthöhle genannt wurde, dort, wo sie
am höchsten und am weitesten war, geführt. In der Mitte brannte ein gewaltiges
Lagerfeuer in einer Einfassung aus zusammengefügten Felssteinen. Der Rauch zog
nach oben ab, wo er irgendwo im Dunkeln verschwand. Wahrscheinlich gab es dort
Spalten, welche mit der Außenwelt in Verbindung standen und die für einen
gewissen Luftzug sorgten, denn die Luft in der Höhle war frisch und klar.
Wilo
bekam den besten Platz am Feuer angeboten und man reichte ihm eine Schale mit
einer heißen, lecker duftenden und würzig schmeckenden Suppe und ein großes
Stück frischen Brotes. Anscheinend wurde hier auch regelmäßig gebacken.
Gespannt warteten alle darauf, daß Wilo seine Mahlzeit beendete und endlich zu
berichten anfinge. Voller Ungeduld scharte sich eine Gruppe junger Leute um ihn,
dessen jüngste beinahe noch Kinder waren. Wilo fragte sich, was das wohl für
Menschen waren, und was für ein Schicksal sie an einen Ort wie diesen
verschlagen hatte, denn nicht alle sahen aus wie die Menschen aus den Bergen.
Kaum
hatte Wilo den letzten Bissen hinabgeschluckt und die Schüssel beiseite
gestellt, als er von allen Seiten mit Fragen bestürmt wurde. Der ärmste kam
kaum damit nach, auf alle Fragen eine Antwort zu geben, obgleich er die meisten
Fragen mit »ich weiß es nicht« beantworten mußte, denn viele wollten von ihm
wissen, wie es um ihre Heimatdörfer und -Städte bestellt sei, oder ob es
Nachricht von ihren Verwandten gäbe.
Endlich
aber kehrte Rognar, der innerhalb der Gruppe so etwas wie ein Anführer zu sein
schien, obgleich Wilo bislang keine Anzeichen einer strengen hierarchischen
Ordnung hatte erkennen können.
Rognar
bedeutete den aufgeregt durcheinanderschwatzenden Leuten Ruhe zu geben, damit er
mit Wilo sprechen könne. Als es einigermaßen stille war, setzte Rognar sich zu
ihm und hub wiefolgt zu sprechen an:
»Nach
dem, was in dem Brief steht, seid Ihr ein bedeutender Mann in Carlan und habt
trotz Eures jugendlichen Alters beachtliches geleistet. Aber sagt! wie kommt es,
daß Ihr ganz allein unterwegs seid?«
Wilo
berichtete von dem Unfall auf der Landstraße und meinte, daß es sicherer und
besser gewesen sei, sich allein hierher zu durchzuschlagen, als mit einem auffälligen
und langsamen Begleittroß.
Ja,
es sei wahr, daß Carlan erobert und völlig unter die Kontrolle der Rebellen,
beziehungsweise der königlich-arkanischen Verwaltung gestellt worden sei.
»Dann
stimmt es also, was man sich erzählt, daß ein Retter erschienen ist, der uns
von dem Regenten befreien wird?« fragte einer ehrfürchtig.
»Habt
Ihr ihn gesehen, den rechtmäßigen König und Retter von Arkanien?« wollte ein
anderer wissen. Wilo bejahte lächelnd.
»Wie
sieht er aus?« fragte eine junge Frau.
»Als
ob es darauf ankäme!« rief ein junger Mann ärgerlich, der offenbar der
Verlobte jener Frau war.
»Ich
bin hierher gekommen«, sagte Wilo, um die Rede endlich auf den Punkt zu
bringen, »um euch um eure Unterstützung im Kampfe gegen Tiras zu bitten.«
Auf
einmal wurde es sehr stille in der großen Höhle.
»Wir
sind dabei ein Heer aufzustellen, um auf die Hauptstadt zu marschieren.«
»Wißt
Ihr was das bedeutet?« fragte Rognar und schüttelte ungläubig den Kopf.
»Der
Regent verfügt über ein gewaltiges Heer und über sie schrecklichsten Zauberkräfte.
Hier in den Bergen haben wir eine sichere Zuflucht gefunden, hier können uns
seine Truppen nicht aufspüren. Aber für einen Angriff auf die Hauptstadt wären
wir nie und nimmer gerüstet.«
»Das
stimmt nicht«, entgegnete Wilo heftig. »Ihr wäret nicht allein. Wenn ihr euch
mit unseren Truppen vereinigt, dann werden sich andere anschließen. Die Tage
von Tiras’ Herrschaft sind endgültig gezählt. Und was seine angeblichen
Zauberkräfte anbetrifft, so hat Prinz Peter bewiesen, das die für unbesiegbar
geltenden Schattenkrieger leicht zu besiegen und zu vernichten sind. Prinz Peter
besitzt das sagenhafte Zauberschwert von König Brunnar und bald wird er im
Besitze des allmächtigen Königsszepters mit dem Blauen Kristall sein. Außerdem
haben wir den mächtigsten und weisesten Zauberer von ganz Arkanien auf unserer
Seite…«
»Gibt
es das denn wirklich? Ich dachte, die Sache mit dem Schwert und dem Szepter sei
nur eine alte Legende«, meinte einer skeptisch.
»Es
gibt diese Dinge wirklich. Ich habe das Schwert selber gesehen und es in Händen
gehalten und seine Macht gespürt.«
Im
Augenblick hielt Wilo es freilich für klüger, nichts von dem Verlust des
Schwertes zu erwähnen. Hätte er gewußt, wie es um den armen Peter zur Zeit
stand, hätte er vielleicht selber alle Hoffnung verloren. So aber redete er
voller Inbrunst und Feuereifer auf die Leute ein.
»Ich
bitte Euch, Rognar! Als Anführer der Rebellen, überlegt es Euch gut und
sprecht mit Euren Leuten darüber!« bat Wilo sein Gegenüber.
Rognar
lächelte geheimnisvoll und sagte: »Ich bin nicht der Anführer der Rebellen,
sondern nur der Anführer dieser Ortsgruppe. Aber Ihr werdet unseren Führer
noch persönlich kennen lernen. Er ist im Augenblick unterwegs, aber wir
erwarten ihn in Kürze zurück. Wenn Ihr solange hier als unser Gast bleiben
wolltet.«
»Ich
nehme Eure Gastfreundschaft gerne an, aber meine Sachen sind noch unten in der
Herberge…«
»Wir
haben alles hierher schaffen lassen«, meinte Rognar und grinste bedeutungsvoll.
Während
der folgenden Tage lernte Wilo viel über das verborgene Leben der Rebellen in
ihrem alpinen Versteck und erfuhr von ihren mannigfaltigen Aktionen. Erst vor
einigen Wochen war es ihnen gelungen, einen Steuereintreiber des Regenten, trotz
starken Geleitschutzes zu überfallen und auszurauben. Die Beute wurde an die ärmsten
der Dorfbewohner verteilt und zum Ankauf von Getreide und Wintervorräten
gebraucht.
Wilo
erfuhr, daß es in beinahe jedem Dorf einige Mitglieder der Widerstandsbewegung
gab. Früher seien sie nur lose miteinander verbunden gewesen und ihre Aktionen
hätten sich nur gerade auf die nähere Umgebung ihrer Heimatdörfer beschränkt,
berichtete Rognar. Als aber vor zwei Jahren eine Gruppe junger Ritter und
Edelleute aus dem Süden zu ihnen gestoßen war und sie in vielen Dingen
unterwiesen hatten, so etwa in der militärischen Organisation, in der Kunst der
Kriegführung, als sie ihnen viele nützliche Informationen über die
Organisation der Regierungstruppen und militärischen Einrichtungen des Staates,
mitgeteilt hatten, da begannen sie, sich ebenfalls zu organisieren und zu
starken Kampfverbänden und schlagkräftigen Stoßtrupps zu verbünden. Sie knüpften
Kontakte zu anderen Gruppen aus entfernteren Tälern und schlossen sich in
Bezirks- und Provinzverbänden zusammen. Am Ende wurde ein gemeinsamer Anführer
gewählt, der dem Kommandostab vorstand, welcher die gemeinsamen Aktionen plante
und leitete. Auf diese Weise hatten sie sich im Laufe der Zeit zu einer ernsten
Bedrohung für die Herrschaftsansprüche des Regenten in den drei alpinen
Nordprovinzen des reiches entwickelt.
Wilo,
der inzwischen das Vertrauen der Untergrundkämpfer genoß, durfte sich in der
ganzen unterirdischen Festung frei bewegen. Da ihm die Zeit bis zur Rückkehr
des Anführers lang zu werden begann, versuchte er, sich so gut es ging nützlich
zu machen.
Am
Abend des folgenden Tages sollte seine Geduld endlich belohnt werden. Kurz nach
Einbruch der Dämmerung kam eine Abteilung Reiter an.
Die
soeben Ankommenden zogen sich gleich nach ihrer Ankunft in einen von der Haupthöhle
separierten Raum zurück, wo Rognar sich alsbald zu ihnen gesellte.
Wilo,
der die Männer nur flüchtig zu sehen bekommen hatte, war es nicht möglich
gewesen, zu erkennen, welcher von ihnen der Anführer war. Wahrscheinlich würde
man ihn aber bald herein bitten, sobald die Reiter sich ein wenig ausgeruht und
mit Rognar gesprochen hätten.
Diese
Besprechung schien aber länger zu dauern, als Wilo es erwartet hatte, denn während
gut zwei Stunden ließ man ihn draußen warten.
Irgendwie
fand er, daß er sich in einer recht unerquicklichen Lage befand. Nicht daß man
ihn in irgend einer Weise schlecht oder unhöflich behandelt hätte — im
Gegenteil — aber während er in Carlan ein wichtiger und berühmter Mann war,
der überall im Mittelpunkt einer jeden Gesellschaft stand, war hier im Norden
unbekannt und wurde dementsprechend wie ein ganz gewöhnlicher Abgesandter
behandelt. Immerhin genoß er die Aufmerksamkeit und Macht eines Würdenträgers
noch nicht so lange, daß sie ihm bereits zu Kopfe gestiegen wäre. Er war sich
im klaren, daß diese Äußerlichkeiten nicht wichtig waren und daß er sich der
ihm übertragenen Macht und Privilegien erst einmal würdige erweisen mußte,
bevor er ihrer zu Recht genießen durfte. Aber die langen Jahre des
Herumschweifens ohne Ziel und Sinn und die bittere Erfahrung, daß man als
mittelloser Adliger weder von den Angehörigen seines Standes, noch vom gemeinen
Volke als ihm zugehörig betrachtet wurde, hatten ihn den Wert der
gesellschaftlichen Achtung und des allgemeinen Wohlgelittenseins gelehrt. Aus
diesem Grunde fiel es ihm, bei allem intellektuellen Verständnis für die
Situation, auf der emotionalen Ebene dennoch schwer, sich mit der indifferenten
Haltung dieser Menschen ihm gegenüber abzufinden.
Als
Wilo schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, noch am selben Abend dem
geheimnisvollen Anführer vorgestellt zu werden, trat Rognar endlich an ihn
heran und bat ihn, ihm zu folgen.
Rognar
führte ihn in den hinteren Teil der Höhle, wo eine Bretterwand einen etwa drei
auf fünf Meter großen Raum abtrennte. Der Raum enthielt einen großen Tisch,
mehrere Stühle und einige Kerzenleuchter. Auf dem Tisch standen Krüge und
Becher mit Wein und ein großer Laib Brot. Auf den Stühlen saßen mehrere jüngere
Männer.
Bei
Wilos Eintreten erhoben sie sich höflich und der Mann am Kopfende des Tisches
begrüßte ihn und bot ihm einen Stuhl an. Dieser Mann schien tatsächlich der
Anführer zu sein, obgleich er kaum in Wilos Alter war. In der Tat war er sogar
einige Jahre jünger. Wilo schätzte ihn auf knappe zwanzig. Was ihn aber am
meisten erstaunte, war die ungeheure Ähnlichkeit mit einer ihm wohlbekannten
Person. Der junge Mann, der soeben aufgestanden war, um ihm die Hand zu schütteln,
war das genaue männliche Ebenbild zu Alissandra. Da waren die gleichen großen,
ausdrucksstarken, dunklen Augen, die entschlossenen Brauen, das spitze Kinn,
welches bei ihm ohne die weibliche Rundung noch härter und entschlossener
wirkte, das dichte schwarzbraune Haar und der helle, beinahe ein wenig blasse
Teint.
Wilos
überraschter Blick war seinem Gegenüber nicht entgangen. Er sah ihn fragend
an.
»Ihr
seid wohl der Prinz von Antal, wie ich annehme?« eröffnete Wilo seine Rede.
Diese
Worte ließen den Prinzen voller Erstaunen die Stirne runzeln.
»Ich
darf bemerken, daß Ihr eurer Schwester ungemein ähnlich seht, deren
Bekanntschaft zu machen ich unlängst die Ehre hatte.«
»Ihr
sprecht von Alissandra? Ihr habt sie gesehen, mit ihr gesprochen? Wie geht es
ihr? Habt Ihr auch meinen Vater gesehen?«
Wilo
schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte nicht das Vergnügen die Bekanntschaft
Eure werten Eltern zu machen, aber…« er verstummte abrupt.. Konnte es sein,
daß Albert noch nichts von der geplanten Vermählung seiner Schwester mit dem
Prinzregenten wußte. Wenn dies der Fall war, dann hatte er jetzt die höchst
unerfreuliche Aufgabe, ihm dies noch anderes mitzuteilen.
Er
setzte sich auf den angebotenen Stuhl und ließ sich einen Becher kühlen Weines
einschenken, aus dem er mehrere langsame Schlucke trank. Dann hub er an zu reden
und berichtete den atemlos lauschenden Zuhörern, was er gemeinsam mit
Alissandra, Peter und der kleinen Tamina erlebt hatte. Er berichtete Albert auch
von Alissandras Flucht aus dem elterlichen Schloß und von Peters Ankunft und
Erwählung zum König — wobei er einige Details ausließ, wie etwa die Umstände
seines ersten Zusammentreffens mit Alissandra.
Zwischendurch
wurde er von Prinz Albert unterbrochen, der bei einigen Punkten seiner
Schilderung präzise Zwischenfragen stellte. Schließlich berichtete er wie sie
den alten Callidon besucht hatten.
»Callidon
lebt noch? Seit so vielen Jahren hat man nichts mehr von ihm gehört. Da wird
meine Lissi sich aber mächtig gefreut haben. Sie hat den Alten immer sehr gerne
leiden mögen.«
»Ich
war leider nicht persönlich dabei. Ich war zu der Zeit in Carlan… Aus diesem
Grunde kann ich auch nichts genaues sagen, über die Umstände ihrer Entführung…«
Albert
wurde sichtlich bleich und ergriff die Tischplatte mit beiden Händen und hielt
sie fest umklammert.
»Alissandra
ist in den Händen des Regenten?« flüsterte er atemlos.
»Wir
müssen sie retten! Ich werde sogleich mit Euch aufbrechen.«
»Bitte
Hoheit, besinnt Euch!« mahnte einer der Genossen in der Runde.
»Ein
solcher Entschluß ist leicht zu begreifen und wir alle fühlen mit Euch. Aber
diese Angelegenheit erfordert ein besonnenes Handeln. Es geht schließlich um
die Interessen vieler Menschen.«
»Ihr
habt natürlich recht, aber ich sprach nur von mir selber. Ich kann Euch nur
bitten, mir Eure Hülfe und Unterstützung zu gewähren, aber gleichgültig, wie
Ihr Euch entscheidet, werde ich auf dem raschesten Wege in die Hauptstadt reiten
um meine Schwester zu retten.« das war deutlich.
Wilo
berichtete ihnen von seinen Bemühungen in Carlan ein Heer aufzustellen. Wenn es
den Rebellen hier im Norden ebenfalls gelänge, eine Streitmacht aufzubauen,
denn könnte man den Marsch nach Tirania wagen. Bestimmt würden sich ihnen
unterwegs weitere Leute anschließen.
»Wo
befindet sich der geheimnisvolle Retter?« fragte Albert.
»Er
ist bereits unerkannt in die Hauptstadt gereist. Ich hoffe, daß er bald zu uns
zurückkehren wird, um unser Heer anzuführen«, erklärte Wilo.
Die
anderen Ritter um Albert berieten sich die ganze Nacht lang. Gelegentlich wurde
die Debatte recht hitzig geführt, und ihr Ausgang stand lange Zeit offen. Immer
wieder mußte Wilo Fragen beantworten.
Am
frühen Morgen endlich war die Entscheidung gefallen: Die Anführer der
Ortsgruppen sollten ihre Männer sammeln. Man wollte sich am Zusammenfluß
zweier kleinerer Flüsse, etwa fünfzig Meilen südlich von Flimsdorf treffen.
Albert sollte das Heer anführen und nach Süden marschieren, während Wilo mit
einem Geleitschutz auf dem kürzesten Wege nach Carlan reiten und dort seine
Truppen sammeln und nach Norden in Richtung der Hauptstadt führen wollte.
Noch
am selben Tage brachen sie auf. Es lag ein weiter Weg vor ihnen.
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© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 24. Februar 2002 02:29 |