XVIII. KAPITEL

Gebirge

Wilo war mit seinen beiden Begleitern zeitig aufgebrochen. Auf den gut befestigten, breiten Handelsstraßen, welche von Carlan ausgingen, kamen die Pferde rasch voran. Sie hatten sich für einen vierspännigen leichten Reisewagen entschieden, der die Pferde mehr schonte, als wenn sie mitsamt dem Gepäck rittlings unterwegs wären. Ursprünglich wollte der Rat von Carlan Wilo einen Geleit-Troß zur Verfügung stellen, aber dieser hätte sie nur unnötig aufgehalten. Außerdem würde ihre Reise sie durch Gegenden führen, welche von den Truppen des Regenten gut kontrolliert wurden. Ein bewaffneter Trupp würde sofort auffallen, und am Ende würden sie noch in Gefechte verwickelt werden. Ein einzelner Wagen aber war verhältnismäßig unauffällig. Später könnten sie ein großen Stück Weges auf dem großen Fluß zurücklegen, welcher nach über hundert Meilen nach Westen abbog. Dort würden sie auf Pferde umsteigen. Wilo hatte ausgerechnet, daß sie bei günstigen Bedingungen in gut zwei Wochen in den Bergen anlangen könnten.

Wilo lehnte sich zurück in die Polster des Wagens. Seit zwei Stunden versuchte er, ein wenig Schlaf zu finden, was ihm aber nicht recht gelingen wollte. Wie sollte man auch schlafen können, wenn man in einer Kutsche durcheinandergerüttelt wurde; ganz zu schweigen von dem Lärm, den die eisenbeschlagenen Wagenreifen und Pferdehufe auf der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße verursachten. Neidig betrachtete er seinen Reisegefährten, einen dunkelhaarigen jungen Mann namens Renal, der, die zerknautschte Reisemütze tief in die Stirn geschoben, leise schnarchend auf der gegenüberliegenden Bank saß.

Dieser Kerl könnte vermutlich auch neben einem Wasserfall schlafen, dachte Wilo und versuchte, wenigstens ein wenig zu dösen. Nach der nächsten Rast mußte er Lukan, den Kutscher ablösen. Wenn es ihnen gelänge, auf der nächsten Poststation frische Pferde zu bekommen, dann könnten sie viel Zeit einsparen. Die Lage in der Hauptstadt war explosiv, und nach Alissandras Entführung drängte die zeit. Wilo hatte daher beschlossen, den ersten Teil der Strecke, welche sie auf dem gut ausgebauten Straßennetz zurücklegen konnten, in möglichst kurzer Zeit zu bewältigen, denn die Wasserverhältnisse auf dem Fluß konnten sich leicht von Tag zu Tag ändern. Und wenn sie Pech hätten, und kein Schiff vorhanden war, würden sie viel zeit verlieren. Später, im Norden, wo das Land dünn besiedelt war, und erst recht in den Bergen, wo es kaum vernünftige Straßen gab, würden sie nur noch langsam vorwärts kommen.

Im Grunde mußten sie die Gleiche Strecken zurücklegen, wie Peter und Alissandra bei ihrer Reise nach Carlan, und noch ein gutes Stück weiter hinauf in den Norden. Allerdings konnten sie die Hauptverkehrsstraßen und Handelswege nehmen, welche durch Städte und Dörfer führten und wo es in regelmäßigen Abständen Herbergen, Poststationen und Wirtshäuser gab, wo Menschen und Pferde sich stärken konnten und müßten sich nicht abseits von jeder Zivilisation auf verschlungenen Wegen fortbewegen, wie die beiden es auf ihrer Flucht getan hatten.

Mit einem leisen Seufzer verfolgte Wilo die draußen vor den Fenstern gemächlich vorbeiziehende Landschaft. Er hoffte inständig, daß diese Reise ein Erfolg würde. Ohne die Unterstützung der Widerstandskämpfer aus den Nordprovinzen würde es sehr, sehr schwierig werden, in dem großen Lande die Macht des Regenten zu brechen. Zugleich war Wilo diese Mission aber auch aus mehreren Gründen höchst unangenehm. Zum einen gab es gerade zu diesem Zeitpunkt in Carlan sehr viele wichtige Angelegenheiten zu regeln, welche er nur ungern anderen überließ, zum anderen wußte er nicht, was für eine Aufnahme er bei den Rebellen finden würde. Zwar trug er ein Empfehlungsschreiben eines Mittelsmannes in der Tasche, welches ihn als einen Bundesgenossen auswies, aber durch die zahlreichen Spione des Regenten, waren die Widerstandsgruppen vorsichtig und mißtrauisch gegenüber Fremden geworden, so daß es vielleicht eine geraume Zeit in Anspruch nehmen könnte, sie von seiner Mission zu überzeugen.

Zu alledem kam hinzu, daß Alissandras Bruder sich bei jenen Rebellen aufhielt, und Wilo die unangenehme Aufgabe zukäme, ihn vom Schicksal seiner jüngeren Schwester zu unterrichten.

Die Fahrt ging flott voran. Wilo hatte den Kutscher angewiesen, nicht durch das Dorf Goldbrunn zu fahren, welches am Wege lag, sondern einen Bogen darum zu machen. Dies lag nicht etwa daran, daß er etwas gegen die Leute von Goldbrunn hatte, sondern, weil er befürchtete, daß man ihn dort so gastfreundlich aufnehmen und empfangen würde, daß dies seine Reise erheblich aufhalten würde.

Nach der Mittagsrast in einem der Gasthöfe an der Landstraße, wo sich hauptsächlich Kaufleute und fahrende Handwerksgesellen aufhielten, bestieg Wilo den Kutschbock, während Lukan, der Kutscher sich im Wagen ausruhte.

Während der folgenden zwei Tage ereignete sich nichts erwähnenswertes. Die Reise verlief ohne Zwischenfälle oder Ungelegenheiten. Es schien als stände Wilos Vorhaben unter einem guten Stern, bis sich am dritten Tage, nur wenige Meilen vor Lienenbronn, einem kleinen Städtchen am Fluß, wo sich die Reisenden einzuschiffen gedachten, ein böses Unglück ereignete. Das geschah so.

Es war bereits gegen Abend und der junge Renal saß auf dem Kutschbock. Da sie die Stadt noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollten, trieb er die Pferde an. Leider war er kein erfahrener Wagenlenker, sonst hätte er besser auf die Straßenverhältnisse geachtet. Die Pferde galoppierten mäßig voran, als Renal ein tiefes Schlagloch übersah. Mit einem gewaltigen Schlag blieb der wagen stecken, die Deichesel brach und das rechte Rad des Wagens fiel auseinander, nachdem zwei Speichen gebrochen waren. Die Pferde erschraken und gingen durch. Der unglückliche Renal aber wurde von dem Wagen herab geschleudert. Er überschlug sich mehrere Male, bis er endlich regungslos im Straßengraben liegen blieb.

Auch die beiden Insassen wurden heftig durcheinandergeschleudert, kamen aber mit dem Schrecken und einigen leichten Blessuren davon. Sogleich stürzten Wilo und Lukan aus dem schwer beschädigten wagen, um ihrem verwundeten Kameraden beizustehen.

Im ersten Augenblick dachten sie, der arme Renal sei tot, als sie seinen verdrehten und geschundenen Leib im Straßengraben liegen sahen. Aber zum Glück atmete er noch und, nachdem sie ihn vorsichtig umgedreht und am Straßenrand niedergelegt hatten, kam er langsam wieder zu sich. Er hatte eine stark blutende Platzwunde am der Sturm und der linke Arm war gebrochen. Ansonsten schien ihm, außer zahlreichen Prellungen und Hautabschürfung nichts zu fehlen.

Da Wilo aus seiner Militärzeit einige Kenntnisse im Versorgen von Verletzungen besaß, gelang es ihnen, den Arm notdürftig zu schienen und die Wunden zu verbinden. Weil sich der beschädigte Wagen an Ort und Stelle in Ermangelung der benötigten Werkzeuge und Ersatzteile nicht reparieren ließ, schickte Wilo den Kutscher Lukan in die Stadt, um Hilfe zu holen, derweil er bei dem Verwundeten wachen wollte. Vielleicht gelänge es Lukan sogar, das durchgegangene Gespann unterwegs wieder einzufangen.

Es dauerte weniger als eine Stunde, bis der Kutscher mit einem Wagen und einem Arzt aus der Stadt zurückkehrte. Der Verletzte wurde nach Lienenbronn geschafft und dort der Obhut des Arztes anvertraut, der versprach, sein bestes zu tun, damit der junge Mann bald wieder auf die Beine käme.

Wilo bat Lukan, bei dem Verletzten zu bleiben, derweil er die Reise allein fortsetzen wolle. Es gelang ihm, bei den Landungsstegen am Flußufer einen Schiffer zu finden, der um ein mäßiges Entgelt bereit war, ihn flußabwärts bis zu der großen Biegung zu befördern.

Am nächsten Morgen bereits betrat Wilo den schwankenden Boden des kleinen Nachens, der außer ihm selbst und dem Schiffer, auch dessen ältesten Sohn beförderte. Beim Anblick des winzigen Schiffleins und dem Gefühl der schwankenden und schaukelnden Planken unter seinen Füßen, wurde es Wilo freilich ein wenig flau im Magen. Er war noch nie zur See gefahren, und nachdem ihm eine Fahrt auf dem Fluß bereits nicht sonderlich geheuer war, verspürte er noch weniger Verlangen, sich jemals auf das Meer hinaus zu wagen, gleichgültig, wie abenteuerlich und verlockend die Schilderungen der Seefahrer waren, denen er als Kind so gerne gelauscht hatte.

Das Boot war mit zwei Paar Riemen ausgestattet, so daß es möglich war, bei geringer Fließgeschwindigkeit zusätzlich Fahrt zu machen.

Während das Boot gemächlich den Fluß hinab trieb, gab es an Bord nicht viel zu tun, und Wilo ließ sich von dem Sohn des Schiffers in die Kunst des Angelfischens einweihen.

Nach anfänglichen Mißerfolgen und Verdruß über die Schnur, die sich dauernd verhedderte, gelang es Wilo endlich, die Rute richtig auszuwerfen, und am Ende desselben Tages bereits war auch ihm das sprichwörtliche Anfängerglück hold: er zog eine prächtige Forelle an Bord, welche den dreien vorzüglich zum Abendbrot mundete.

Nachts war es ein wenig beengt, aber bei dem schönen und milden Wetter war es kein Problem, sich einen geeigneten Lagerplatz am Ufer oder auf einer der zahlreichen Flußinseln zu suchen, während die beiden Schiffer, welche es nicht anders gewohnt waren, es vorzogen, an Bord des fest am Ufer vertäuten Bootes zu nächtigen.

Die Flußfahrt dauerte drei Tage, während derer Wilo sich mit den beiden Schiffern ein wenig anfreundete, und als sie in Pornitz, einer größeren Provinzhauptstadt, dem Ziel ihrer Fahrt anlegten, fiel ihnen das Scheiden nicht leicht.

In Pornitz hielt Wilo sich nicht lange auf. Er kaufte ein Pferd und etwas Proviant und machte sich sogleich weiter auf den Weg, obgleich die Stadt, in welcher er sich zum ersten Male aufhielt, einiges an Sehenswürdigkeiten bot.

Nach der Schaukelei in der Kutsche und dem Schwanken des Bootes war er froh, endlich wieder auf einem Pferderücken zu sitzen. Das Roß erwies sich als ein guter Kauf, und so kam er schneller voran, als erwartet. In einem bis zwei Tagen würde er in die Gegend von Antal, Alissandras Heimat, gelangen.

In dem Herzogtum Antal hielt er sich nicht lange auf. Von Ferne konnte er im Tale unten zwischen den grünen Laubwäldern das Schloß des Herzogs leuchten sehen. Das schöne, langgestreckte Gebäude inmitten des zu der Jahreszeit farbenprächtig erblühten Parks bot einen angenehmen und gefälligen Anblick; es strahlte Pracht und verspielte Heiterkeit aus. Aber der schöne Schein trog, das wußte Wilo genau. Das prächtige Schloß stand beinahe leer und in dem Inneren der weiß getünchten Mauern herrschte Gram und Sorge. Wilo wendete sein Pferd und ritt von dem Ort weg, der ihn an Alissandra gemahnte und ihm zugleich das Ziel seiner weiten Reise ins Bewußtsein rückte.

In der Tat konnte einen die liebliche Landschaft Antals leicht ablenken. Von seinem erhöhten Standort ließ Wilo den Blick weit in das Land schweifen, welches von dunklen Laubwäldern, fetten Wiesen voller großer schwarz-weiß gescheckter Kühe und von in voller Blüte stehenden Kornfeldern geprägt wurde. Etwas weiter im Süden war er an ausgedehnten Weinbergen vorbei geritten, welche sich beiderseits an den flachen Hängen eines breiten Flußtales entlang zogen.

Der Anblick dieser schönen Landschaft ließ Wilo für einen Augenblick vergessen, in welch schrecklichem Zustande sich das Land und die Menschen befanden. Den grünen, sonnenbeschienenen Tälern und Ebenen sah man weder den Hunger noch die Unterdrückung der Menschen an. Aber in jedem Dorf, durch welches Wilo kam, konnte er die traurigen Augen hungriger Kinder, die ausgemergelten Gestalten der alten Leute und die von schwerer Arbeit gebeugten Schultern der Bauern sehen. Der schöne Schein der blühenden Felder ließ aus der Ferne nicht erkennen, daß in diesem Teil Arkaniens der Boden keine so reiche Ernte hergab, wie in Carlan. Alles mußte der Erde in harter, körperlicher Arbeit abgerungen werden. Hinzu kam, daß die Winter lang und streng waren und die Vorräte der Landbevölkerung kaum für den eigenen Bedarf reichten, geschweige denn für den Hof des Regenten und das große Heer, welches Tiras sich halten mußte, um des immer größer werdenden Unmuts in der Bevölkerung Herr zu werden.

Wilo trieb sein Pferd an . Bald würde er das Vorgebirge erreichen.

Nach zwei Tagen im Sattel veränderte sich die Landschaft schlagartig. Wo zuvor friedliche Bäche und kleine Flüsse träge plätschernd zu Tale zogen, spritzten und gurgelten hier weiß gischtende Wasserläufe in steinigen Betten. Das Gelände wurde immer steiler, die Wege schmaler, steiniger und kurvenreicher. Sogar der fruchtbare Erdboden schien dünner zu werden. An immer mehr Stellen war die dünne Kruste fruchtbarer Erde aufgebrochen und hervor lugten Steine und scharfkantige Felsen. Die hellgrünen Laubwälder wichen dunklen Fichten und Nadelhölzern.

Als Wilo zum ersten Male am Horizont einen schneebedeckten Berggipfel sah, wußte er, daß er seinem Ziele nicht mehr fern war.

Je höher er in die Berge aufstieg, desto öfter mußte er vom Pferde absteigen und es auf den schmalen Saumpfaden führen. Auf der einen Seite standen scharfe Felskanten im Wege und versperrten den Blick um die nächste Wegbiegung, auf der anderen ging es steil hinab. Mehr als einmal schauderten Pferd und Reiter beim Anblick der Tiefe. Aber so lange Wilo schon bergauf ging, hatte er dennoch das Gefühl, noch immer am Fuße der schier unüberwindlichen Berge zu stehen. Er wußte freilich, daß diese Berge, welche kaum mehr als 3500 Meter hoch waren, im Vergleich zu dem Riesengebirge im Osten sich nur wie flache Hügel ausnahmen; dennoch war er von ihrem Anblick tief beeindruckt.

Das eigentliche Ziel seiner Reise bildete der Ort Flimsdorf, eine winzige Gemeinde im Tale. Es war der letzte ganzjährig bewohnte Ort vor dem Paß, welcher über das Gebirge in die nördlichsten Länder Arkaniens, die im äußersten Norden an das Eismeer grenzten, führte. Da aber jene äußersten Nordprovinzen nur sehr dünn besiedelt waren, gab es auch kaum Reisende, welche den beschwerlichen Weg dorthin auf sich nahmen. Auf der Paßhöhe befand sich eine einsame Zollstation, welche nur im Sommer besetzt war und unten im Tale lag eine kleine Garnison.

Das diese Gegend aber eine Hochburg der Rebellen war, welche über ausgezeichnete Ortskenntnisse verfügten und in den zahlreichen Schluchten und Tälern über unzählige Zufluchten und Stützpunkte verfügten, wo sie sich oft Wochenlang dem Zugriff der Armee entziehen konnten, hatte der Regent es irgendwann aufgegeben, neue Truppen in diese Gegend zu entsenden und beschränkte sich darauf, die kleine Garnison, die nicht viel mehr als ein Außenposten war, zu unterhalten. Vor den Soldaten in der Garnison hatten die Rebellen nichts zu befürchten. Viele von ihnen stammten selber aus der Gegend und hatten sich heimlich mit den Widerstandskämpfern verbrüdert. So kam es nur zu gelegentlichen, meist harmlosen Scharmützeln, um wenigstens den Schein zu bewahren.

Aber Tiras war schlau; als er einsehen mußte, daß mit militärischer Gewalt nichts auszurichten war, hatte er begonnen, Spione und Saboteure in die Widerstandsgruppen einzuschleusen. Diese hatten sich zu einer wirklichen Gefahr entwickelt, besonders weil sie es außerordentlich schwierig machten, neue Mitglieder und Verbündete, welche nicht aus der unmittelbaren Umgebung kamen und den Leuten am Orte unbekannt waren, aufzunehmen. So konnten die Gruppen nur sehr langsam Zuwachs gewinnen und bildeten für die Macht des Regenten keine ernst zu nehmende Gefahr.

Neuankömmlinge wurden von den Rebellen daher gründlich unter die Lupe genommen, bevor sie Zugang zu den geheimen Verstecken und Kontakt mit den Führern bekamen.

Wilo war von dem Mittelsmann in Carlan beschieden worden, sich in der einzigen Herberge von Flimsdorf einzuquartieren und dort nach einem Manne namens Rognar zu fragen.

Als Wilo in das Dorf kam, fühlte er mit einigem Mißbehagen die mißtrauisch fragenden Blicke der Bewohner aus sich lasten. Zu Gesichte bekam er freilich außer einigen Kindern kaum jemanden.

Allerdings befanden sich nicht alle Bewohner im Dorf selber, sondern viele lebten während der Sommermonate auf den Almen, wo das Vieh in den Steilhängen weidete und der berühmte Bergkäse hergestellt wurde.

Wilo wäre beinahe an der Herberge vorbei geritten, als er halb versteckt unter einem hölzernen Balken ein von der Sonne ausgebleichtes Schild entdeckte.

Alle Häuser in dem Dorfe waren nach der selben Bauweise errichtet. Das Fundament und das Erdgeschoß waren aus Natursteinen und grob zugehauenen Feldsteinen gemauert, während das Obergeschoß — die meisten Häuser besaßen nur zwei Etagen — aus Holz gezimmert waren. Die Dächer waren entweder mit Holzschindeln oder Schieferplatten gedeckt.

Obgleich es bei Wilos Ankunft bereits gegen Mittag zu ging, fand er die Herberge verschlossen. Erst auf sein wiederholtes heftiges Pochen an die wettergegerbte Tür, erschien eine alte Frau in einem einfachen Kleid mit einer schwarzen Haube auf dem Kopf.

»Was wünscht Ihr?« fragte sie in einem nicht besonders einladenden Tone.

»Ich suche eine Unterkunft. Ist die Herberge nicht geöffnet?« fragte er so höflich, wie er es unter diesen Umständen vermochte, angesichts des in ihm aufsteigendem Unmuts.

»Um diese Zeit haben wir selten Gäste«, lautete die wenig informative Antwort.

»Ich suche einen Mann namens Rognar.«

Das Weib erstarrte und fixierte Wilo mit einer Mischung aus Neugier und Mißtrauen mit ihren kleinen, wasserblauen Äuglein.

»Der ist nicht hier«, brummte sie.

»Dann werde ich eben hier auf ihn warten«, meinte Wilo, dessen Ton bereits eine Spur schärfer wurde. Er hatte zwar schon einiges über die verschlossene und zuweilen etwas grantige Art der Bergler gehört, und es für übertrieben und voreingenommen gehalten, aber jetzt schienen sich seine Befürchtungen zu bestätigen. Wenn sich die Rebellen als vom gleichen Schlage erweisen sollten, würde sich seine Mission weitaus schwieriger gestalten, als er je befürchtet hatte.

Er folgte der Alten ins Haus. Die Gaststube war winzig. Außer einem rußgeschwärzten Ofen mit einer steinernen Ofenbank hatten gerade vier kleine Tische Platz in dem gänzlich mit Holz verkleideten Raum, dessen winzige Fenster nicht gerade viel Licht herein ließen.

Wilo konnte sich gut vorstellen, was für eine Enge an den kalten, dunklen Winterabenden in der Schankstube herrschen mochte, welche wohl den gesellschaftlichen Mittelpunkt des Dorfes darstellte.

Das Nachtlager, welches ihm angeboten wurde, war nur wenig besser, als das seines Pferdes. Aber als Soldat hatte er sich zum Teil bedeutend schlechter einquartiert befunden. Von daher erschütterte ihn so leicht nichts mehr. Allerdings hätte er sich als General und Stellvertreter Peters in Carlan durchaus eine bessere Behandlung gewünscht. Aber es war ihm natürlich klar, daß seine ehrfurchtgebietenden Titel im Augenblick nur erst auf dem Papier bestanden, und daß es noch ein weiter Weg wäre, bis er tatsächlich in Amt und Würden stände.

Nachdem Wilo sein Pferd versorgt und ein einfaches Mahl in der Herberge zu sich genommen hatte, ging er ein wenig in dem Dorfe und indessen näherer Umgebung spazieren. In der Herberge war er der einzige Gast und es schien ihm wenig wahrscheinlich, daß Rognar gerade zu dieser Stunde auftauchen würde. Also wanderte er ein wenig in dem engen Tale umher und ließ seine Blicke über die steilen Hänge, die als Viehweiden und sogar als Felder bewirtschaftet wurden und zum Teil in schmale Terrassen angelegt waren, um der Erosion der dünnen Schicht fruchtbaren Ackerbodens Einhalt zu gebieten. Es war ihm schier unbegreiflich, wie die kleinen grauen Kühe es fertig brachten, auf den steilen Abhängen zu grasen, ohne hinab zu stürzen, und er verspürte eine große Hochachtung vor diesen Bergbauern, welche dem Berg noch das kleinste Stückchen fruchtbaren Bodens abzuringen verstanden.

Wie klein und ohnmächtig nahmen sich die winzigen Hütten und Dörfer gegenüber den mächtigen Gebirgsmassen aus, deren von Schnee bekrönte Häupter sich in den blauen Himmel erhoben. Wer hier aufgewachsen war, der konnte keinen Respekt vor irgend einem Herrscher oder Regenten in der fernen Hauptstadt empfinden; hier herrschte das mächtige, unbarmherzige aber gerechte Gesetz der Natur. Ein falscher Tritt genügte, um seine Unvorsichtigkeit mit dem Leben zu bezahlen, eine schlechte Ernte bedeuteten Hunger und Not im Winter, ein Unwetter konnte den Verlust der Herde und der Kulturen bedeuten. Es gab hier keinen Handel, keine Manufakturen, kaum Gewerbe. Die Land- und Viehwirtschaft stellte die einzige Lebensgrundlage für die Menschen dar. Erst einige hundert Meilen weiter im Osten hatten reiche Silbervorkommen den Bergbewohnern einen geradezu märchenhaften Reichtum beschert. In dieser Gegend aber gab es keinen Bergbau. Zwar gab es einige Kundige, welche in den öden Felsmassen erfolgreich nach seltenen Mineralien und Kristallen suchten, aber das bot ihnen nur einen geringfügigen Zuerwerb, da es für solche Waren keinen organisierten Handel gab.

Tief beeindruckt von der rauhen Schönheit der Gebirgslandschaft wanderte Wilo den ganzen Nachmittag herum. Hie und da wechselte er ein paar Worte mit den Menschen. Die meisten, denen er auf seinen Wanderungen begegnete, waren ältere Leute, Frauen und kleine Kinder. Die jungen Leute und die erwachsenen Männer lebten oben in den Alphütten, wo sie das Vieh hüteten, denn im Tal gab es nicht genug Futter; und das wenige mußte als Wintervorrat eingelagert werden.

Auf seinem Spaziergang fiel Wilo eine Sache besonders auf: An mehreren steilen Hängen hatten die Leute hölzerne Zäune in mehreren Reihen hintereinander angelegt, welche einen ziemlich soliden Eindruck machten und mit dicken Pfählen fest im Untergrund verankert waren. Anfangs konnte er sich keinen Reim darauf machen. Erst später sollte er erfahren, was es damit auf sich hatte. Diese Verbauungen sollten im Winter die Schneemassen aufhalten und verhüten, daß sich Schneebretter lösten und als Lawinen von ungeheurer Zerstörungskraft ins Tal hinabstürzten, wobei sie alles was sich auf ihrer Bahn befindet mit sich reißen. Eine solche Lawine konnte im schlimmsten Falle sogar eine breite Schneise in die Fichtenwälder reißen, welche zum Teil ebenfalls als Schutz eigens aufgeforstet worden waren.

Wilo konnte sich gar nicht vorstellen, was eine richtige Schneelawine ausrichten konnte, bis ihm einer der Dorfbewohner eine Stelle im Hang zeigte, wo vor einigen Jahren eine große Lawine herunter gekommen war. Auf einer Breite von gut fünfzig Metern und einer Länge von mehreren hundert hatten die Schneemassen alle Bäume mitsamt ihren flachen Wurzeln herausgerissen. Wo einst dunkle Nadelbäume standen, schien jetzt der nackte Felsen hervor. Es würde viele Jahre dauern, bis diese Narbe verheilt wäre.

Nach mehreren Stunden kehrte Wilo abends ins Dorf zurück. Obzwar die Sonne längst hinter den Bergkämmen verschwunden war, und es sogleich merklich kühler wurde, blieb es noch lange hell.

Wilo war gerade im Begriffe, in die Herberge einzutreten, als sich ihm ein Mann in der gewöhnlichen Arbeitskleidung der Bergbauern in den Weg stellte.

»Ihr habt nach Rognar gefragt?« redete er Wilo an. »Was wollt Ihr von ihm?«

»Das will ich ihm lieber selbst sagen«, erwiderte Wilo. Als der andere daraufhin schwieg fügte er hinzu: »Ich habe ein Empfehlungsschreiben aus Carlan.«

Der Mann schien einen Augenblick lang zu überlegen; schließlich sagte er: »Ich werde Euch zu ihm führen. Seid Ihr allein?« Wilo nickte.

»Dann folgt mir!« befahl er und ging zügig voraus.

Er führte Wilo zum Ende des Dorfes, wo ein kleiner, windschiefer Stall direkt in den Hang hineingebaut war, so daß er keine Rückwand besaß. Er bedeutete Wilo draußen auf ihn zu warten, während er hineinging.

Durch die Ritzen der grob zusammengefügten Holzbretter konnte Wilo erkennen, wie drinnen ein Licht angezündet wurde. Er vernahm ein leises Gemurmel. Offenbar befand sich noch mindestens eine weitere Person in dem Stall.

Es wurde merklich dunkler und Wilo fing an zu frieren. Er schlug seinen Mantel, den er bisher über dem Arm getragen hatte  um die Schultern und knöpfte ihn zu.

Wenig später kam der Mann, mit dem er gesprochen hatte in Begleitung eines anderen, älteren Mannes und eines kleinen isabellfarbigen Pferdchens heraus.

»Ich hoffe, es macht Euch nichts aus, wenn wir Euch bis wir dort sind die Augen verbinden«, sagte der ältere und zog ein riesiges blau-weiß gemustertes Schnupftuch aus der Tasche. Er faltete es zu einer breiten Binde und band diese sorgfältig um Wilos Kopf. Nachdem er sich davon vergewissert hatte, daß Wilo nun nichts mehr sehen konnte, hieß er ihn auf das Pferd steigen, wobei ihm der andere behilflich war.

Wilo gehorchte wortlos, obgleich ihm diese Sache ein wenig ungeheuer vorkam. Die beiden Unbekannten führten das Pferd auf schmalen wegen und Pfaden bergwärts. An dem Geräusch der Hufe und der Haltung des Tieres konnte Wilo erkennen, daß es auf felsigem Grund steil bergauf ging. Mehrmals mußte er sich an der Mähne festhalten, als das Tier mit kraftvollen und erstaunlich sicheren Schritten manchen steile Anhöhe nahm.

Je höher sie hinaufstiegen, desto mulmiger wurde ihm zumute. Er stellte sich die schmalen felsigen Pfade und die tiefen Abgründe vor, und bei jedem Stein, der sich unter den Hufen des Pferdes löste und talwärts verschwand, ohne daß er einen Aufprall vernahm, zuckte er zusammen.

Nach beinahe zwei Stunden Marsches, während denen sie nur drei Mal eine kurze Verschnaufpause einlegten, langten sie endlich an ihrem Ziele an.

Das Geräusch der Schritte veränderte sich plötzlich; es bekam einen dumpfen Widerhall und auch die Luft roch auf einmal anders. Sie mußten sich irgendwo im Inneren der Erde befinden, wahrscheinlich in einer Höhle, wie Wilo vermutete. Als er endlich absteigen durfte und ihm die Augenbinde abgenommen wurde, fühlte er sich sehr erleichtert.

Anfangs hatte er Schwierigkeiten sich zu orientieren, dann aber erkannte er, daß er sich in einer riesigen Höhle befand. Das unterirdische Gewölbe war so hoch und weit, daß er die Decke nicht erkennen konnte, obgleich in regelmäßigen Abständen Pechfackeln an den Wänden angebracht waren. Sie waren inzwischen nicht mehr allein; ein Dutzend bewaffneter Männer umringte sie und starrte Wilo mit unverhohlener Neugier an.

Ein kräftiger Mann von ungefähr vierzig Jahren löste sich aus der Gruppe und trat vor Wilo hin.

»Ihr wollt mich sprechen? Ich bin Rognar«, sagte er.

Wilo stellte ich vor und überreichte Rognar das versiegelte Schreiben des Mittelsmannes aus Carlan. Rognar nahm den Brief an sich und sprach: »Seid willkommen! Ruht Euch aus. Man wird Euch zu Essen und zu Trinken geben. Später werden wir reden.«

Wilo bedankte sich und ließ sich durch die Höhle führen. Gleich hinter dem gut geschützten und bewachten Eingang befanden sich die Ställe für die Pferde, große aus Brettern gezimmerte Pferche. Es handelte sich dabei ausnahmslos um jene kleinwüchsigen, ungemein ausdauernde und trittsichere Rasse von Gebirgspferden, welche seit Jahrhunderten als Saumtiere in dieser Gegend gezüchtet wurden und zu denen auch das Tier gehörte, welches ihn hinauf getragen hatte. Weiter hinten wurden auch andere Tiere, vornehmlich Ziegen, eine Handvoll Schafe und einiges an Kleinvieh gehalten.

Neben der großen Haupthöhle, welche sich auf über hundert Metern Länge durch den Berg zog, gab es mehrere kleinere Gänge, welche von dem Hauptgang abzweigten und in ein unterirdisches Labyrinth von Gängen, Höhlen und Spalten führten, in denen jeder unkundige sich rasch rettungslos verirren würde und elendiglich verschmachten müßte, wenn er nicht vorher in eine der bodenlosen Spalten fiele.

Viele der breiteren Gänge und auch die große Höhle selber waren durch Bretterwände und Verschläge unterteilt und dienten den verschiedensten Zwecken. Die ganze Anlage glich einem unterirdischen Bunker.

Es gab Schlafräume, Vorratskammern, eine Werkstatt mit einer Schmiede, eine Küche, eine Waffenkammer, sowie zahlreiche Aufenthaltsräume und viele andere Einrichtungen mehr, welche Wilo vorläufig nicht zu Gesichte bekam.

Wie viele Männer und Frauen sich hier aufhielten, mochte er nicht feststellen, aber es durften an die hundert sein.

Seine Ankunft löste eine gewaltige Aufruhr aus, denn es war bereits mehrere Wochen her, seit die letzte Nachricht aus dem Süden eingetroffen war, und ein jeder wollte dem Fremden aus dem fernen Carlan — eine Stadt, welche die allermeisten von ihnen nur vom Hörensagen kannten — sehen und seinen Berichten lauschen.

Wilo wurde in die »große Halle«, wie die Haupthöhle genannt wurde, dort, wo sie am höchsten und am weitesten war, geführt. In der Mitte brannte ein gewaltiges Lagerfeuer in einer Einfassung aus zusammengefügten Felssteinen. Der Rauch zog nach oben ab, wo er irgendwo im Dunkeln verschwand. Wahrscheinlich gab es dort Spalten, welche mit der Außenwelt in Verbindung standen und die für einen gewissen Luftzug sorgten, denn die Luft in der Höhle war frisch und klar.

Wilo bekam den besten Platz am Feuer angeboten und man reichte ihm eine Schale mit einer heißen, lecker duftenden und würzig schmeckenden Suppe und ein großes Stück frischen Brotes. Anscheinend wurde hier auch regelmäßig gebacken. Gespannt warteten alle darauf, daß Wilo seine Mahlzeit beendete und endlich zu berichten anfinge. Voller Ungeduld scharte sich eine Gruppe junger Leute um ihn, dessen jüngste beinahe noch Kinder waren. Wilo fragte sich, was das wohl für Menschen waren, und was für ein Schicksal sie an einen Ort wie diesen verschlagen hatte, denn nicht alle sahen aus wie die Menschen aus den Bergen.

Kaum hatte Wilo den letzten Bissen hinabgeschluckt und die Schüssel beiseite gestellt, als er von allen Seiten mit Fragen bestürmt wurde. Der ärmste kam kaum damit nach, auf alle Fragen eine Antwort zu geben, obgleich er die meisten Fragen mit »ich weiß es nicht« beantworten mußte, denn viele wollten von ihm wissen, wie es um ihre Heimatdörfer und -Städte bestellt sei, oder ob es Nachricht von ihren Verwandten gäbe.

 

Endlich aber kehrte Rognar, der innerhalb der Gruppe so etwas wie ein Anführer zu sein schien, obgleich Wilo bislang keine Anzeichen einer strengen hierarchischen Ordnung hatte erkennen können.

Rognar bedeutete den aufgeregt durcheinanderschwatzenden Leuten Ruhe zu geben, damit er mit Wilo sprechen könne. Als es einigermaßen stille war, setzte Rognar sich zu ihm und hub wiefolgt zu sprechen an:

»Nach dem, was in dem Brief steht, seid Ihr ein bedeutender Mann in Carlan und habt trotz Eures jugendlichen Alters beachtliches geleistet. Aber sagt! wie kommt es, daß Ihr ganz allein unterwegs seid?«

Wilo berichtete von dem Unfall auf der Landstraße und meinte, daß es sicherer und besser gewesen sei, sich allein hierher zu durchzuschlagen, als mit einem auffälligen und langsamen Begleittroß.

Ja, es sei wahr, daß Carlan erobert und völlig unter die Kontrolle der Rebellen, beziehungsweise der königlich-arkanischen Verwaltung gestellt worden sei.

»Dann stimmt es also, was man sich erzählt, daß ein Retter erschienen ist, der uns von dem Regenten befreien wird?« fragte einer ehrfürchtig.

»Habt Ihr ihn gesehen, den rechtmäßigen König und Retter von Arkanien?« wollte ein anderer wissen. Wilo bejahte lächelnd.

»Wie sieht er aus?« fragte eine junge Frau.

»Als ob es darauf ankäme!« rief ein junger Mann ärgerlich, der offenbar der Verlobte jener Frau war.

»Ich bin hierher gekommen«, sagte Wilo, um die Rede endlich auf den Punkt zu bringen, »um euch um eure Unterstützung im Kampfe gegen Tiras zu bitten.«

Auf einmal wurde es sehr stille in der großen Höhle.

»Wir sind dabei ein Heer aufzustellen, um auf die Hauptstadt zu marschieren.«

»Wißt Ihr was das bedeutet?« fragte Rognar und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Der Regent verfügt über ein gewaltiges Heer und über sie schrecklichsten Zauberkräfte. Hier in den Bergen haben wir eine sichere Zuflucht gefunden, hier können uns seine Truppen nicht aufspüren. Aber für einen Angriff auf die Hauptstadt wären wir nie und nimmer gerüstet.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Wilo heftig. »Ihr wäret nicht allein. Wenn ihr euch mit unseren Truppen vereinigt, dann werden sich andere anschließen. Die Tage von Tiras’ Herrschaft sind endgültig gezählt. Und was seine angeblichen Zauberkräfte anbetrifft, so hat Prinz Peter bewiesen, das die für unbesiegbar geltenden Schattenkrieger leicht zu besiegen und zu vernichten sind. Prinz Peter besitzt das sagenhafte Zauberschwert von König Brunnar und bald wird er im Besitze des allmächtigen Königsszepters mit dem Blauen Kristall sein. Außerdem haben wir den mächtigsten und weisesten Zauberer von ganz Arkanien auf unserer Seite…«

»Gibt es das denn wirklich? Ich dachte, die Sache mit dem Schwert und dem Szepter sei nur eine alte Legende«, meinte einer skeptisch.

»Es gibt diese Dinge wirklich. Ich habe das Schwert selber gesehen und es in Händen gehalten und seine Macht gespürt.«

Im Augenblick hielt Wilo es freilich für klüger, nichts von dem Verlust des Schwertes zu erwähnen. Hätte er gewußt, wie es um den armen Peter zur Zeit stand, hätte er vielleicht selber alle Hoffnung verloren. So aber redete er voller Inbrunst und Feuereifer auf die Leute ein.

»Ich bitte Euch, Rognar! Als Anführer der Rebellen, überlegt es Euch gut und sprecht mit Euren Leuten darüber!« bat Wilo sein Gegenüber.

Rognar lächelte geheimnisvoll und sagte: »Ich bin nicht der Anführer der Rebellen, sondern nur der Anführer dieser Ortsgruppe. Aber Ihr werdet unseren Führer noch persönlich kennen lernen. Er ist im Augenblick unterwegs, aber wir erwarten ihn in Kürze zurück. Wenn Ihr solange hier als unser Gast bleiben wolltet.«

»Ich nehme Eure Gastfreundschaft gerne an, aber meine Sachen sind noch unten in der Herberge…«

»Wir haben alles hierher schaffen lassen«, meinte Rognar und grinste bedeutungsvoll.

Während der folgenden Tage lernte Wilo viel über das verborgene Leben der Rebellen in ihrem alpinen Versteck und erfuhr von ihren mannigfaltigen Aktionen. Erst vor einigen Wochen war es ihnen gelungen, einen Steuereintreiber des Regenten, trotz starken Geleitschutzes zu überfallen und auszurauben. Die Beute wurde an die ärmsten der Dorfbewohner verteilt und zum Ankauf von Getreide und Wintervorräten gebraucht.

Wilo erfuhr, daß es in beinahe jedem Dorf einige Mitglieder der Widerstandsbewegung gab. Früher seien sie nur lose miteinander verbunden gewesen und ihre Aktionen hätten sich nur gerade auf die nähere Umgebung ihrer Heimatdörfer beschränkt, berichtete Rognar. Als aber vor zwei Jahren eine Gruppe junger Ritter und Edelleute aus dem Süden zu ihnen gestoßen war und sie in vielen Dingen unterwiesen hatten, so etwa in der militärischen Organisation, in der Kunst der Kriegführung, als sie ihnen viele nützliche Informationen über die Organisation der Regierungstruppen und militärischen Einrichtungen des Staates, mitgeteilt hatten, da begannen sie, sich ebenfalls zu organisieren und zu starken Kampfverbänden und schlagkräftigen Stoßtrupps zu verbünden. Sie knüpften Kontakte zu anderen Gruppen aus entfernteren Tälern und schlossen sich in Bezirks- und Provinzverbänden zusammen. Am Ende wurde ein gemeinsamer Anführer gewählt, der dem Kommandostab vorstand, welcher die gemeinsamen Aktionen plante und leitete. Auf diese Weise hatten sie sich im Laufe der Zeit zu einer ernsten Bedrohung für die Herrschaftsansprüche des Regenten in den drei alpinen Nordprovinzen des reiches entwickelt.

Wilo, der inzwischen das Vertrauen der Untergrundkämpfer genoß, durfte sich in der ganzen unterirdischen Festung frei bewegen. Da ihm die Zeit bis zur Rückkehr des Anführers lang zu werden begann, versuchte er, sich so gut es ging nützlich zu machen.

Am Abend des folgenden Tages sollte seine Geduld endlich belohnt werden. Kurz nach Einbruch der Dämmerung kam eine Abteilung Reiter an.

Die soeben Ankommenden zogen sich gleich nach ihrer Ankunft in einen von der Haupthöhle separierten Raum zurück, wo Rognar sich alsbald zu ihnen gesellte.

Wilo, der die Männer nur flüchtig zu sehen bekommen hatte, war es nicht möglich gewesen, zu erkennen, welcher von ihnen der Anführer war. Wahrscheinlich würde man ihn aber bald herein bitten, sobald die Reiter sich ein wenig ausgeruht und mit Rognar gesprochen hätten.

Diese Besprechung schien aber länger zu dauern, als Wilo es erwartet hatte, denn während gut zwei Stunden ließ man ihn draußen warten.

Irgendwie fand er, daß er sich in einer recht unerquicklichen Lage befand. Nicht daß man ihn in irgend einer Weise schlecht oder unhöflich behandelt hätte — im Gegenteil — aber während er in Carlan ein wichtiger und berühmter Mann war, der überall im Mittelpunkt einer jeden Gesellschaft stand, war hier im Norden unbekannt und wurde dementsprechend wie ein ganz gewöhnlicher Abgesandter behandelt. Immerhin genoß er die Aufmerksamkeit und Macht eines Würdenträgers noch nicht so lange, daß sie ihm bereits zu Kopfe gestiegen wäre. Er war sich im klaren, daß diese Äußerlichkeiten nicht wichtig waren und daß er sich der ihm übertragenen Macht und Privilegien erst einmal würdige erweisen mußte, bevor er ihrer zu Recht genießen durfte. Aber die langen Jahre des Herumschweifens ohne Ziel und Sinn und die bittere Erfahrung, daß man als mittelloser Adliger weder von den Angehörigen seines Standes, noch vom gemeinen Volke als ihm zugehörig betrachtet wurde, hatten ihn den Wert der gesellschaftlichen Achtung und des allgemeinen Wohlgelittenseins gelehrt. Aus diesem Grunde fiel es ihm, bei allem intellektuellen Verständnis für die Situation, auf der emotionalen Ebene dennoch schwer, sich mit der indifferenten Haltung dieser Menschen ihm gegenüber abzufinden.

Als Wilo schon beinahe die Hoffnung aufgegeben hatte, noch am selben Abend dem geheimnisvollen Anführer vorgestellt zu werden, trat Rognar endlich an ihn heran und bat ihn, ihm zu folgen.

Rognar führte ihn in den hinteren Teil der Höhle, wo eine Bretterwand einen etwa drei auf fünf Meter großen Raum abtrennte. Der Raum enthielt einen großen Tisch, mehrere Stühle und einige Kerzenleuchter. Auf dem Tisch standen Krüge und Becher mit Wein und ein großer Laib Brot. Auf den Stühlen saßen mehrere jüngere Männer.

Bei Wilos Eintreten erhoben sie sich höflich und der Mann am Kopfende des Tisches begrüßte ihn und bot ihm einen Stuhl an. Dieser Mann schien tatsächlich der Anführer zu sein, obgleich er kaum in Wilos Alter war. In der Tat war er sogar einige Jahre jünger. Wilo schätzte ihn auf knappe zwanzig. Was ihn aber am meisten erstaunte, war die ungeheure Ähnlichkeit mit einer ihm wohlbekannten Person. Der junge Mann, der soeben aufgestanden war, um ihm die Hand zu schütteln, war das genaue männliche Ebenbild zu Alissandra. Da waren die gleichen großen, ausdrucksstarken, dunklen Augen, die entschlossenen Brauen, das spitze Kinn, welches bei ihm ohne die weibliche Rundung noch härter und entschlossener wirkte, das dichte schwarzbraune Haar und der helle, beinahe ein wenig blasse Teint.

Wilos überraschter Blick war seinem Gegenüber nicht entgangen. Er sah ihn fragend an.

»Ihr seid wohl der Prinz von Antal, wie ich annehme?« eröffnete Wilo seine Rede.

Diese Worte ließen den Prinzen voller Erstaunen die Stirne runzeln.

»Ich darf bemerken, daß Ihr eurer Schwester ungemein ähnlich seht, deren Bekanntschaft zu machen ich unlängst die Ehre hatte.«

»Ihr sprecht von Alissandra? Ihr habt sie gesehen, mit ihr gesprochen? Wie geht es ihr? Habt Ihr auch meinen Vater gesehen?«

Wilo schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte nicht das Vergnügen die Bekanntschaft Eure werten Eltern zu machen, aber…« er verstummte abrupt.. Konnte es sein, daß Albert noch nichts von der geplanten Vermählung seiner Schwester mit dem Prinzregenten wußte. Wenn dies der Fall war, dann hatte er jetzt die höchst unerfreuliche Aufgabe, ihm dies noch anderes mitzuteilen.

Er setzte sich auf den angebotenen Stuhl und ließ sich einen Becher kühlen Weines einschenken, aus dem er mehrere langsame Schlucke trank. Dann hub er an zu reden und berichtete den atemlos lauschenden Zuhörern, was er gemeinsam mit Alissandra, Peter und der kleinen Tamina erlebt hatte. Er berichtete Albert auch von Alissandras Flucht aus dem elterlichen Schloß und von Peters Ankunft und Erwählung zum König — wobei er einige Details ausließ, wie etwa die Umstände seines ersten Zusammentreffens mit Alissandra.

Zwischendurch wurde er von Prinz Albert unterbrochen, der bei einigen Punkten seiner Schilderung präzise Zwischenfragen stellte. Schließlich berichtete er wie sie den alten Callidon besucht hatten.

»Callidon lebt noch? Seit so vielen Jahren hat man nichts mehr von ihm gehört. Da wird meine Lissi sich aber mächtig gefreut haben. Sie hat den Alten immer sehr gerne leiden mögen.«

»Ich war leider nicht persönlich dabei. Ich war zu der Zeit in Carlan… Aus diesem Grunde kann ich auch nichts genaues sagen, über die Umstände ihrer Entführung…«

Albert wurde sichtlich bleich und ergriff die Tischplatte mit beiden Händen und hielt sie fest umklammert.

»Alissandra ist in den Händen des Regenten?« flüsterte er atemlos.

»Wir müssen sie retten! Ich werde sogleich mit Euch aufbrechen.«

»Bitte Hoheit, besinnt Euch!« mahnte einer der Genossen in der Runde.

»Ein solcher Entschluß ist leicht zu begreifen und wir alle fühlen mit Euch. Aber diese Angelegenheit erfordert ein besonnenes Handeln. Es geht schließlich um die Interessen vieler Menschen.«

»Ihr habt natürlich recht, aber ich sprach nur von mir selber. Ich kann Euch nur bitten, mir Eure Hülfe und Unterstützung zu gewähren, aber gleichgültig, wie Ihr Euch entscheidet, werde ich auf dem raschesten Wege in die Hauptstadt reiten um meine Schwester zu retten.« das war deutlich.

Wilo berichtete ihnen von seinen Bemühungen in Carlan ein Heer aufzustellen. Wenn es den Rebellen hier im Norden ebenfalls gelänge, eine Streitmacht aufzubauen, denn könnte man den Marsch nach Tirania wagen. Bestimmt würden sich ihnen unterwegs weitere Leute anschließen.

»Wo befindet sich der geheimnisvolle Retter?« fragte Albert.

»Er ist bereits unerkannt in die Hauptstadt gereist. Ich hoffe, daß er bald zu uns zurückkehren wird, um unser Heer anzuführen«, erklärte Wilo.

Die anderen Ritter um Albert berieten sich die ganze Nacht lang. Gelegentlich wurde die Debatte recht hitzig geführt, und ihr Ausgang stand lange Zeit offen. Immer wieder mußte Wilo Fragen beantworten.

Am frühen Morgen endlich war die Entscheidung gefallen: Die Anführer der Ortsgruppen sollten ihre Männer sammeln. Man wollte sich am Zusammenfluß zweier kleinerer Flüsse, etwa fünfzig Meilen südlich von Flimsdorf treffen. Albert sollte das Heer anführen und nach Süden marschieren, während Wilo mit einem Geleitschutz auf dem kürzesten Wege nach Carlan reiten und dort seine Truppen sammeln und nach Norden in Richtung der Hauptstadt führen wollte.

Noch am selben Tage brachen sie auf. Es lag ein weiter Weg vor ihnen.

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