von
Tenryu
Erstes
Kapitel
Die Mission
Kiko
Tamarin stieg langsam die achtundzwanzig Stufen des stählernen Gerüstes
hinauf. Ihre Schritte erzeugten einen dumpfen hohlen Klang, der in der riesigen
Halle kaum einen Widerhall verursachte. Sie sah nach oben und konnte unter den
gleißend hellen Scheinwerfern nur einen dunklen Umriß der Kapselspitze
ausmachen. In gut eineinhalb Stunden würde sie mit ungefähr hunderttausend
Metern pro Sekunde in einen Hypertunnel katapultiert werden. Wenn die
Berechnungen stimmten, dann würde die Reise nur ungefähr eine Millisekunde
dauern. Länger würde ihr Körper diese ungeheure Beschleunigung auch nicht
aushalten. Kiko vermied es allerdings, länger über solche Details
nachzudenken. Sie hatte sich für diese Mission freiwillig gemeldet; und jetzt
gab es kein Zurück mehr. Ihre Finger waren klamm und kribbelten ein wenig,
dennoch ließ sie sich nichts anmerken und stieg weiter die schmalen
Metallstufen hinauf.
Oben
angelangt blieb sie einen Augenblick auf der winzigen Plattform stehen und warf
einen letzten Blick nach unten in den Hangar. Wo in den vergangenen Tagen noch
gut hundert Arbeiter und Techniker emsig beschäftigt gewesen waren, herrschte
jetzt eine beinahe gespenstige Stille. Nur gerade ein halbes Dutzend Leute waren
noch mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. In wenigen Minuten, wenn die
Kapsel versiegelt war, würden auch sie verschwinden und sich in dem vier
Kilometer entfernten unterirdischen Kontrollzentrum in Sicherheit bringen.
Dennoch war Kiko Tamarin nicht wirklich allein, denn eine Vielzahl an
Videokameras ließ sie keine Sekunde aus dem Blick.
Sie
schaute auf die große Anzeigetafel, welche in der Mitte des Hangars von der
Decke hing. Die Anzeige stand auf 10398. So viele Sekunden blieben ihr noch auf
dieser Welt. Die Anzeige zählte langsam und unerbittlich rückwärts.
Aus
einem Lautsprecher auf der kleinen Plattform kam ein Knacken. Eine weiche Männerstimme
fragte: „Alles in Ordnung, Kiko? Du mußt jetzt einsteigen.“
Kiko
wandte sich um und nickte in Richtung der Plattform-Kamera. Dann schwang sie
sich geschmeidig durch die enge kreisrunde Öffnung der Kapsel. Man sah, daß
sie diese Bewegung hundert Mal geübt hatte.
Die
Kapsel war in ihrem Inneren sehr eng. So eng, daß Kiko kaum hinein paßte,
obgleich sie von recht zierlicher Gestalt war. Der Sitz war so perfekt in die
Kapsel eingepaßt, daß Kiko mit der Kapsel zu verschmelzen schien. Kaum hatte
sie die richtige Sitzposition eingenommen und die x-förmigen Haltegurte mittels
einer Schließe über der Brust verbunden und festgezurrt, als die untere Hälfte
ihres Körpers sogleich von einer aufblasbaren Polsterung umhüllt und fest
eingeschlossen wurde. Sie konnte jetzt nur noch den Kopf und die Arme bewegen.
Zum Glück neigte sie nicht zur Platzangst, denn in dieser Enge würde es kaum
ein Mensch längere Zeit aushalten.
Kiko
holte tief Luft. Sie hatte das Gefühl damit gleich die ganze Luft aus der
Kapsel zu saugen. Sie sah auf die kleine Steuerkonsole direkt vor ihr.
Eigentlich hatte die Konsole keine Steuerfunktion, denn alles, was Kiko zu tun
hatte, war, den Start-Countdown mittels eines Schalters in Gang zu setzen.
Danach gab es für sie nichts mehr zu tun. Die Anzeigen auf der Konsole sahen
zwar beeindruckend aus, aber für Kiko war nur die Zeitanzeige interessant. Das
Gerät zeigte zwei Zeiten an: die gegenwärtige und die Zielzeit. alle anderen
Einstellungen wurden im Kontrollzentrum vorgenommen, von wo auch die
Startsequenzen in den Bordcomputer eingespeist werden.
„Alles
in Ordnung, Kiko?“ meldete sich die Stimme von vorhin aus dem winzigen
Lautsprecher in der Konsole. Kiko betätigte einen Schalter und auf dem kleinen
Multifunktionsmonitor vor ihr erschien das Gesicht von Silverthorn, dem
Vizedirektor der Raum&Zeit-Agentur.
„Ich
bin bereit, Mr. Silverthorn“, sagt Kiko mit fester Stimme.
„Gut,
dann werden wir die Kapsel jetzt versiegeln!“
Kiko
wandte den Kopf nach oben. Durch die enge runde Öffnung konnte sie nichts
erkennen, außer den hellen Scheinwerfern; aber einen feinen kühlen Luftzug
nahm sie wahr. In der Kapsel-Öffnung erschien das Gesicht eines der Techniker.
Er reichte Kiko den Helm, der zu ihrem Anzug gehörte, hinab. „Viel Glück!“
sagte er und klopfte zweimal gegen die Kapsel. Dann wurde die Luke verschlossen.
Mit einem lauten dumpfen Klang rasteten die Verschlußbolzen ein. sogleich verspürte
Kiko einen leichten Unterdruck in den Ohren. Sie setzte den Helm auf und
versiegelte den Verschluß am Halsring ihres Anzuges. Der Anzug, den Kiko trug,
war ein luftdichter Druckanzug, ähnlich einem Astronautenanzug, jedoch viel
leichter und ohne dessen aufwendiger Isolierung.
Die
Kapsel war nun hermetisch versiegelt. Die Kommunikation mit der Außenwelt
erfolgte jetzt über Lautsprecher und Mikrophon in Kikos Helm. Nachdem die
Luftversorgung und das Interface-Kabel ihres Anzugs mit der Kapsel verbunden
waren, gab es vorläufig nichts mehr für sie zu tun. Von jetzt an lag alles in
den Händen der Techniker im Kontrollzentrum. Ganz leise vernahm Kiko das
Aufheulen der Alarmsirene. Dies war das Zeichen, den Hangar zu räumen. Jetzt
war sie ganz allein. Irgendwie kam ihr die Situation, in der sie sich befand,
unwirklich vor. Wie lange war es her, seit sie für das „KIBOU“-Projekt
ausgewählt worden war? Sechs Monate? Nicht lange, aber für Kiko schon fast
eine Ewigkeit. Mit jenem Tag, als sie die Bestätigung ihrer Bewerbung und die
Mitteilung über die Aufnahme in das Programm erhalten hatte, hatte sich ihr
Leben radikal verändert...
Seit
mehr als drei Monaten lag das Faltblatt von der R&Z-Agentur auf dem winzigen
Tisch in Kikos Zimmer. Es war Anfang Juli; die Temperatur war ein bißchen
gefallen, aber der Dauerregen, der seit mehr als zwei Wochen anhielt, machte die
Luft drückend schwül. Kiko saß auf dem Boden und warf einen Blick nach dem
Kalender an der Wand. Das Kalenderbild zeigte einen weißen Sandstrand mit
Palmen und ein Meer von unglaublich grünblauer Farbe. Es war Kikos
Lieblingsbild. Irgendwann würde sie auch an einen solchen Ort fahren. Das war
ihr großer Traum.
Im
Augenblick jedoch hatte sie ganz andere Sorgen. Der Monat war noch jung, aber
ihr Geld war fast aufgebraucht. Die Miete für das winzige Zimmer hatte sie
gerade noch zusammenkratzen können, aber zum Leben blieb jetzt kaum noch etwas
übrig. Kiko streckte sich und griff nach dem Prospekt. Unzählige Male hatte
sie ihn schon gelesen. Wahrscheinlich hätte sie seinen Inhalt sogar auswendig
aufsagen können.
Auf
der letzten Seite war ein Abschnitt rot unterstrichen. Kiko sah erneut zum
Kalender hinüber. Nur noch drei Tage bis zum Ablauf der Bewerbungsfrist. Sie
faltete den inzwischen schon recht abgegriffenen Prospekt auseinander. Den
Fragebogen hatte sie schon zur Hälfte ausgefüllt. Aber dann hatte sie der Mut
verlassen. Warum sollten die von der R&Z-Agentur ausgerechnet sie
einstellen? Bestimmt hätten nur Wissenschaftler und außergewöhnlich erfahrene
Spezialisten eine Chance.
Drei
Wochen später stand ein Vertreter der R&Z-Agentur in der Tür. Kiko hatte
es doch getan: sie hatte den Fragebogen vollständig ausgefüllt und die
Bewerbung abgeschickt. Zuerst hatte sie es gar nicht glauben mögen und an einen
dummen Scherz gedacht, doch der Ausweis des Agenten war echt und er hatte
obendrein ihre Unterlagen dabei. Kiko hatte es geschafft. Sie hatte die
Vor-Auswahl bestanden. Nun sollte sie auf ihre Eignung hin persönlich getestet
werden.
Die
Tests dauerten einen halben Tag. Sie bestanden aus schriftlichen Tests und aus
einem Leistungstest. Kiko bestand beide — zu ihrem nicht geringen Erstaunen.
Dennoch erhielt sie schließlich eine Absage. Die R&Z-Agentur stellte
einhundert Leute ein; beworben hatten sich jedoch viertausend. Als sie die
Nachricht erhielt, waren alle ihre Hoffnungen auf einen Schlag vernichtet. Ihren
alten Job hatte sie erst vor ein paar Wochen verloren. Das schäbige Zimmer, das
sie bewohnte, konnte sie sich nicht mehr leisten und so stand sie kurz davor,
obdachlos zu werden.
Das
Gebäude der R&Z-Agentur war ein unscheinbarer grauer Betonklotz, der schon
bessere Zeiten gesehen hatte. Er befand sich am östlichen Rande der Stadt.
Dahinter erstreckten sich Felder und Lagerschuppen. Es war eine ziemlich öde
und unwirtliche Gegend. Um so mehr war Kiko überrascht, als sie das Innere des
Gebäudes sah. Hier war alles vom Feinsten. Eine solche luxuriöse Ausstattung
kannte sie eigentlich nur aus dem Fernsehen. Zuerst hatte sie sich über sich
selbst geärgert, daß sie den weiten Weg auf sich genommen hatte, nur um ihre
Absage persönlich entgegen zu nehmen. Jetzt aber war sie besserer Dinge.
Vielleicht würde sogar ein kleiner Imbiß für sie herausspringen, hoffte sie
wenigstens.
Einen
Imbiß gab es freilich nicht für sie, dafür aber die Mitteilung, daß sie in
ein neues Sonderprojekt aufgenommen worden sei...
Ein
schrilles Pfeifen riß Kiko aus ihren Erinnerungen. Eine der roten Lampen auf
der Steuerkonsole ihrer Kapsel blinkte hell und rasch. Kiko betätigte einen
Schalter und das Lämpchen verlosch sogleich. Die Startkonfiguration war
soeben in den Computer der Kapsel übertragen worden. Da die Kapsel über keinen
eigenen Antrieb verfügte und sich somit auch nicht steuern ließ — im Grunde
war sie nicht mehr als ein Behälter — wäre dies eigentlich gar nicht
notwendig gewesen. Die Kapsel hätte nicht einmal einen eigenen Computer benötigt.
Daß man trotzdem einen eingebaut hatte, lag vor allem daran, daß die
Wissenschaftler Daten sammeln und speichern wollten, um bei einem Fehlschlagen
der Mission die Fehler analysieren zu können. Dies freilich hatte man Kiko
nicht gesagt.
Kiko
sah auf die Zeitanzeige. Noch etwas mehr als zwei Stunden bis zum Start...
Als
man sie einstellte, hatte niemand Kiko gesagt, für was für eine Art Projekt
sie auserwählt worden war. Kiko wurde durch ein Labyrinth von Fluren und
Treppen geführt. Am Ende fand sie sich in einem großen, hellen, aber sonst
ziemlich in Grau gehaltenen Büro wieder. Ein groß gewachsener Mann mit
pechschwarzem, straff nach hinten gekämmten Haar saß in einem riesigen Sessel
mit hoher Rückenlehne. Er trug einen modischen Anzug. Die Krawatte war auf der
Hemdbrust aufgedruckt — wie es seit einigen Jahren der Mode entsprach. Tatsächlich
trug kaum noch jemand richtige Krawatten — außer bei hochoffiziellen Anlässen.
Kiko
fühlte sich ein wenig unbehaglich, als sie von dem Mann schweigend und mit prüfender
Miene von Kopf bis Fuß gemustert wurde. Schließlich stellte er sich ihr als
Mr. Silverthorn vor. Er war einer der vier Vizedirektoren der R&Z-Agentur.
Er beglückwünschte Kiko zur Aufnahme in das „KIBOU“-Projekt. Worum es sich
hierbei handelte, erfuhr Kiko jedoch nicht. Sie fragt auch nicht darnach. Alles,
was mit der RZA zu tun hatte, war von einem Nimbus des Geheimnisvollen und Rätselhaften
umgeben.
Kiko
erhielt ein Quartier in dem Ausbildungszentrum der RZA. Dieses befand sich auf
dem Lande. Es lag inmitten eines dichten Waldgebietes, welches ebenfalls zu dem
Gelände der Agentur gehörte und für Außenstehende Sperrgebiet war. Bei ihrer
Ankunft erfuhr sie, daß sie nicht die einzige auserwählte war. Zwölf andere
Bewerber waren in das „Kibou“-Projekt aufgenommen worden. Wie sie, wußten
auch die anderen nicht bescheid, um was für eine Art von Projekt es sich dabei
handelte; und dabei sollte es auch während den ersten sechs Wochen ihres
Trainings bleiben. Während dieser ganzen Zeit durften sie das Gelände nicht
verlassen.
Ihr
Training bestand in erster Linie aus hartem physischen Training. Hinzu kam
Ausbildung im Gebrauch von Feuerwaffen, Kampfkunst und Kurse in verschiedensten
naturwissenschaftlichen Disziplinen. Kiko haßte diese Kurse am meisten. Sie fühlte
sich sogleich in ihre Schulzeit zurückversetzt. Sie war in der Schule nicht
besonders gut gewesen und nach dem Ende der obligatorischen Schulzeit
abgegangen. Den Besuch einer höheren Lehranstalt hätte sie sich ohnehin nicht
leisten können und für eines der ebenso seltenen wie begehrten Stipendien
reichten ihre Zensuren nicht aus.
Nach
sechs Wochen war das Grundtraining beendet. Drei der Bewerber wurden
aussortiert. Kiko war zu ihrer Überraschung nicht dabei. Für die verbleibenden
neun Kandidaten ging das Training in die zweite Runde. Es wurden umfangreiche
medizinische Tests durchgeführt. Daneben mußten sie sich unzähligen
psychologischen Tests unterziehen. Der theoretische Unterricht wurde um zwei
weitere Fächer erweitert: Geschichte des 20. Jahrhunderts und Technologie.
Mr.
Silverthorn oder einen anderen höheren Beamten der RZA bekamen die Kandidaten während
dieser Zeit nicht zu Gesicht. Kiko begann sich langsam zu fragen, ob es wirklich
so klug gewesen war, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Was mochte das
Projekt „Kibou“ beinhalten? Vielleicht die Reise zu einem fremden Planeten.
Aus den Unterrichtseinheiten hatte Kiko gelernt, daß es in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts in mehreren Staaten der erde umfangreiche
Weltraumfahrtprogramme gegeben hatte. Mond und Mars waren bereits von mehreren
Raumschiffen besucht worden. Vielleicht wollte man wieder ein solches Programm
auf die Beine stellen. Aber wozu wurde dann eine derartige Geheimniskrämerei
betrieben? Außerdem verfügte doch kein Land mehr über die für ein derartiges
Vorhaben notwendigen Ressourcen. Oder handelte es sich doch um etwas ganz
anderes, das auf dieser abgelegenen Basis vorbereitet wurde? Kiko hoffte, daß
sie wenigstens so lange dabei bleiben würde, bis sie erführe, um was es sich
bei „Kibou“ handelte. In der Zwischenzeit blieb ihr nichts anderes übrig,
als beim Training ihr Bestes zu geben und den Lauf der Dinge abzuwarten.
Wenigstens wurde ihre Arbeit hier gut bezahlt — außerordentlich gut sogar.
Selbst wenn sie am Ende nicht für die Mission ausgewählt würde, hätte sie in
den paar Monaten mehr verdient als in den vergangenen zwei Jahren.
Noch
eine Stunde. In der Kapsel wurde es langsam immer wärmer; so kam es Kiko
zumindest vor. Vielleicht lag es auch nur an dem Anzug, den sie trug. Ihr Rücken
fing an ein bißchen weh zu tun. Nur noch eine Stunde. Warum begann sie sich auf
einmal so unwohl zu fühlen? Sie hatte sich freiwillig gemeldet. Sie wußte
genau, was geschehen würde — geschehen sollte. Sie war bereits, ihren Auftrag
zu erfüllen — mit allen seinen Konsequenzen. Sie war gut ausgebildet und nach
einem aufwendigen auswahlverfahren als die Beste für diese Mission ausgewählt
worden.
Ein
Ruck ging durch die Kapsel. Die anzeige verriet ihr, daß die Kapsel nun
automatisch in die Abschuß-Position manövriert wurde. Die Kapsel neigte sich
langsam in die Horizontale. Nachdem Kiko bislang gewissermaßen auf dem Rücken
gelegen hatte, befand sie sich nun in einer aufrechten Position. Ein dumpfer,
hohler, metallischer Klang verriet das Einrasten der Kapsel in der Startrampe.
Von jetzt an war die Kapsel technisch abschußbereit. Die mächtigen Ringspulen,
welche die Kapsel umgaben, wurden eingeschaltet. Die Kapsel wurde dabei leicht
angehoben und schwebte nun regungslos zwischen den Ringen. Kiko schloß die
Augen. Ihre Nase juckte, aber wegen dem Helm konnte sie sich nicht kratzen. Sie
seufzte leise und versuchte, das Jucken zu ignorieren.
Vor
genau sechs Monaten hatte Kiko eine weitere Hürde in dem Auswahlverfahren der
RZA gemeistert. Es verblieben jetzt noch sechs Kandidaten. Sie wurden alle in
den Konferenzraum der Akademie beordert. Dort trafen sie neben Silverthorn, den
sie seit dem Tag ihrer Ankunft nicht mehr gesehen hatten, einen freundlich
dreinblickenden älteren, weißhaarigen Mann, sowie einige ihrer Ausbilder.
Auf
den Gesichtern der Kandidaten konnte man die Anspannung lesen. Jetzt war endlich
der Augenblick gekommen, da sie erfahren sollten, wofür sie auserwählt und
ausgebildet worden waren.
Die
Veranstaltung dauerte gute drei Stunden. Der alte Mann wurde ihnen von
Silverthorn als Dr. Mallineaux vorgestellt. Er war der wissenschaftliche Leiter
des Kibou-Projekts. Dr. Mallineaux erhob sich langsam von seinem Sitz und trat
an das Rednerpult. Er schob seine altmodische Zwickerbrille nach vorne und
musterte die Kandidaten über den goldenen Rand derselben. Mit leiser aber
fester Stimme begann er zu sprechen. Er drückte einen Knopf auf dem Pult und
sogleich erschienen auf der großen Leinwand über seinem Kopf Bilder und
Grafiken. Kiko und ihre Kameraden starrten mit offenen Mündern auf die Tafel.
Als Dr. Mallineaux seinen Vortrag beendet hatte, herrschte ein atemloses
Schweigen in dem Raum.
Am
nächsten Tag waren nur noch drei Kandidaten übrig. Die Hälfte der Bewerber
hatte sich dazu entschlossen, auf eine weitere Teilnahme am Kibou-Projekt zu
verzichten. Kiko war unter den drei verbleibenden. Unter anderen Umständen hätte
vielleicht auch sie einen Rückzieher gemacht...
Von
nun an blieb die Gruppe zusammen. Alle erhielten die gleiche Ausbildung. Einer
von ihnen würde am Ende die Mission allein bestreiten, die anderen waren die
Reserve-Besetzung.
Der
Alarm riß Kiko unsanft aus ihren Erinnerungen. Sie schaute auf das Display: Nur
noch eine halbe Stunde. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo sie ihre letzte und
endgültige Entscheidung treffen mußte: in der Mitte der Konsole, unterhalb des
Bildschirmes befand sich unter einer durchsichtigen Schutzklappe ein roter
Knopf. Damit wurde die Startsequenz ausgelöst. Wenn er einmal gedrückt worden
war, gab es kein Zurück mehr. Von jenem Zeitpunkt an lief der Countdown
automatisch ab. Nur noch das Kontrollzentrum könnte dann noch den Start
abbrechen. Aber in diesem Falle wäre Kiko für viele Stunden in der Kapsel
gefangen, denn die Beschleunigungsringe mußten vollständig entladen werden,
bevor sich jemand der Kapsel nähern könnte. Ob jedoch der Sauerstoff in der
Kapsel so lange reichen würde, wußte keiner, auch Kiko nicht. Je länger sie
darüber nachdachte, desto mehr hatte sie den Eindruck, daß bei diesem Projekt
so manches nicht ganz zu Ende gedacht worden sei.
Auf
dem Bildschirm erschien erneut das Gesicht von Silverthorn. „Es ist soweit,
Kiko! Hast du irgend welche Bedenken? Du weißt, es ist die letzte Gelegenheit,
den start abzubrechen.“ Kiko schüttelte langsam den Kopf. „Nein, Mr.
Silverthorn. Ich werde den Auftrag erfüllen. Das schulde ich Ihnen, dem Doktor,
der RZA und der ganzen Welt.“
„Dann
wünsche ich dir alles Gute!“ Silverthorn hielt einen Daumen hoch, dann
verschwand er vom Schirm. Dafür erschien das Gesicht von Dr. Mallineaux. Er
wirkte sehr angespannt, was angesichts der riesigen Verantwortung, die er als
Leiter des Kibou-Projekts trug, nicht erstaunlich war.
„Ich
kann dir nicht viel mehr sagen, als daß ich dir aus ganzem Herzen alles Gute
und viel Erfolg wünsche. Die Hoffnung der ganzen Menschheit ruht auf deinen
Schultern. Aber das soll dich nicht bange machen. Ich weiß, daß du es schaffen
kannst. Und ich habe mir alle Mühe gegeben, daß der Beschleuniger und die
Kapsel funktionieren werden. Ich weiß, die Zeit wird langsam knapp. Deshalb höre
ich auch schon auf. Good luck, Kiko!“
„Danke,
Dr. Mallineaux! Danke euch allen!“ sagte Kiko leise. Sie schraubte vorsichtig
den Sicherheitsdeckel von der Konsole ab. Mit einem leisen Knacken brach das
Siegel. Kiko drückte den roten Knopf bis zum Anschlag.
Für
einen Sekundenbruchteil erloschen alle Lichter in der Kapsel und auf der
Konsole. Danach leuchtete das ganze Display rot. Sämtliche Außenverbindungen
wurden gekappt. Die Kapsel lief nun mit eigenen Energieversorgung. Die Anzeige
stand bei 1789.
Als
Kiko zum ersten Mal vor der Kapsel stand, war sie nicht sonderlich beeindruckt.
Dieses kleine blanke Metall-Ei sollte das Wunder der Technik sein, von dem alle
in der RZA so schwärmten? Dr. Mallineaux bemerkte den Ausdruck in Kikos Gesicht
und schüttelte den Kopf. Das eigentliche Wunder der Technik war nicht die
Kapsel, sondern die Abschuß-Vorrichtung. Die Apparatur war riesig. Sie füllte
einen ganzen Hangar aus. Insgesamt waren es zwölf große Beschleunigungsspulen.
Um diese mit der notwendigen Energie zu versorgen hatte man zehn Kilometer
entfernt eigens ein Kernkraftwerk errichtet. Diese Anlage beeindruckte Kiko
sehr. Aber neben dem Staunen über die Wunder der Technik lag noch ein anderer
Ausdruck in ihren Augen: Angst.
Angst
verspürte Kiko in diesem Augenblick keine, aber eine schleichende Beklemmung
nahm doch langsam von ihr Besitz. Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen. Jetzt war
es für einen Rückzieher ohnedies zu spät. Kiko vermochte weder den Start
abzubrechen, noch konnte sie mit dem Kontrollzentrum in Verbindung treten. Auch
die Kapsel ließ sich von innen ohne weiteres nicht mehr öffnen. Zwar wäre
Kiko theoretisch in der Lage, die Luke der Kapsel aufzusprengen, aber außen war
die Kapsel von den mächtigen Beschleunigungsspulen umgeben. Ihre starken
elektromagnetischen Felder wären für jedes Lebewesen absolut tödlich. Warum
hatte sie sich ausgerechnet für diese Mission beworben, fragte sie sich einen
Augenblick lang; doch sie kannte die Antwort — und akzeptierte sie.
Es
war die einzige Möglichkeit. Das Schicksal der Welt lag in ihren Händen. Sie
war als einzige der Kandidaten am besten für die Mission geeignet.
Noch
fünfzehn Minuten. Es wurde immer wärmer. Kiko schwitzte. Sie hätte sich gerne
an einem halben Dutzend Stellen gekratzt, aber das ging leider nicht.
Nachdem
Kiko den ersten Schock beim Anblick der Beschleunigungsanlage und bei der Erläuterung
ihrer Funktion überwunden hatte, ließ der zweite nicht lange auf sich warten:
Die Kapsel, mit der sie befördert werden sollte, war ein Einzelstück. Es gab
keine zweite. Sollte die Mission fehlschlagen, war keine Rettung möglich. Es
gab nur einen einzigen Versuch.
Kiko
bereute nichts. Die Zeit bei der RZA war die beste ihres Lebens gewesen. Was
immer in den nächsten 380 Sekunden geschehen sollte, sie war bereit, es
hinzunehmen.
So
rasch die Zeit in den vergangenen Stunden verflogen war, so langsam vergingen
die letzten Minuten. Kiko saß aufrecht und angespannt in der Kapsel. Ihre Hände
lagen auf den Handgriffen, die auf beiden Seiten der Konsole angebracht waren.
Ihr Blick war geradeaus auf den Bildschirm gerichtet. Wäre Kiko religiös, so wäre
dies der richtige Zeitpunkt für ein letztes Gebet gewesen. So aber saß sie nur
das, den Kopf seltsam leer.
Noch
100 Sekunden.
Die
Reise würde nicht lange dauern, hatte man ihr gesagt. Eigentlich sollte sie
davon gar nichts spüren. Sobald die Instrumente und der Bordcomputer grünes
Licht gaben, müßte sie manuell die Öffnung der Luke veranlassen. Dann würden
drei kleine Sprengladungen die Eisenbolzen durchtrennen, mit denen die runde
Einstiegsluke versiegelt war. Unter ihrem Sitz befanden sich zwei Behälter mit
Ausrüstungsgegenständen. Diese galt es unter allen Umständen zu bergen. Hierfür
blieben ihr genau fünfzehn Minuten, dann würde sich die Kapsel selbst zerstören.
Wie diese Selbstzerstörung genau funktionieren sollte, war sich Kiko nicht ganz
im Klaren, aber allein der Gedanke daran, daß sie womöglich auf einer
ansehnlichen Menge Sprengstoffes saß, machten ihre Lage nicht gerade
erquicklicher.
Das
Gefährlichste war der Eintritt in den Hypertunnel. Wenn er gelänge, dann wäre
alles gut. Dann könnte nichts mehr schief gehen. Innerhalb eines
Sekundenbruchteils würde sie entweder alles heil überstanden haben, oder in
ihre einzelnen Atome zerlegt worden sein; das hatten ihr die Wissenschaftler der
RZA einhellig bestätigt.
Noch
10 Sekunden.
Kiko
hielt die Luft an. Ihre Finger krallten sich in die Griffe.
Noch
8 Sekunden.
Auf
die Technik war Verlaß.
Noch
6 Sekunden.
Sie
hatte keine Angst.
Noch
4 Sekunden.
Verdammt!
Was machte sie hier?
Noch
2 Sekunden.
Nein!
Noch
1 Sekunde.
!!!
Alles
wird weiß.
Aus!
* *
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