Ankunft mit Hindernissen
Der
Mond schien hell vom tiefschwarzen Nachthimmel. Seine Scheibe war zu drei
Vierteln voll. Es war eine milde, und bis auf vereinzelte Cumuli wolkenlose
Sommernacht. Der See lag still und beinahe spiegelglatt da. Nur gelegentlich kräuselte
ein Lufthauch seine Oberfläche. Der See war nicht sehr groß. Er lag zwischen
dicht bewaldeten Bergen im Osten und dem Dorf im Westen.
Ryō
Kitahara saß vorne in dem kleinen Ruderboot. Er hielt eine Laterne. Ihm gegenüber
auf der Ruderbank saß sein Freund Kosuke Tanaka. Dieser legte sich mächtig in
die Riemen und trieb das Boot rasch voran.
„He!
Ryō! Hatten wir nicht ausgemacht, daß wir uns beim Rudern abwechseln?“
fragte er schnaufend. Ryō grinste und sagte: „Du machst das sehr gut. Außerdem
sind wir gleich da.“
In
der Tat war Kosuke im Gegensatz zu Ryō viel sportlicher und kräftiger
gebaut. Er war fast ein halbes Jahr älter als sein Freund, mit dem er die
gleiche Klasse in der Oberstufe besuchte. Zur Zeit hatten sie allerdings
Sommerferien. Ansonsten hätten sie wohl kaum zu nächtlicher Stunde auf dem See
herumrudern können.
„Ein
bißchen mehr nach links, noch ungefähr hundert Meter“, kommandierte Ryō.
„Ich
hoffe nur, daß dein Großvater Recht hat, und das wirklich eine besonders gute
Stelle zum Angeln ist“, brummte Kosuke. „Sonst hätten wir uns die Arbeit
sparen und gleich am Ufer angeln gehen können.“
„Nein,
die Stelle ist gut. Das ist ein Geheimtip von meinem Opa. Vor zwei Wochen haben
wir sechs dicke Karpfen und ein paar schöne Forellen herausgeholt.“
Die
Leidenschaft für den Angelsport hatte Ryō von seinem Großvater geerbt.
Sein Vater hingegen machte sich gar nichts daraus. Kosuke war auch kein
begeisterter Angler, aber dafür aß er gerne frischen Fisch. Außerdem
unternahm er gerne etwas gemeinsam mit Ryō. Seit ihrer Kindheit waren die
beiden unzertrennliche Freunde.
Sie
verbrachten gerade vier Wochen ihrer großen Sommerferien bei Ryōs Großvater
auf dem Lande. Selbst wohnten sie einige Kilometer entfernt in der Stadt.
Während
Kosuke die Ruder einholte, warf Ryō einen Blick gen Himmel.
„Ich
hoffe, daß es noch ein bißchen aufklart“, sagte er. „Zu dieser Jahreszeit
kann man mit ein wenig Glück besonders viele Sternschnuppen sehen.“
„Man
sieht überhaupt ne Menge Sterne hier. Das ist mir schon früher aufgefallen.“
„Ja,
das liegt an der Dunkelheit hier. In der Stadt gibt es zu viele Lichter, die von
der Atmosphäre reflektiert werden und den Himmel künstlich aufhellen. Außerdem
gibt es eine Menge Abgase und Partikel in der Luft. Aus diesem Grund werden
Sternwarten in abgelegenen Gegenden und auf hohen Bergen errichtet. Hier in der
Nähe gibt es übrigens auch ein altes Observatorium. Ich glaube, die
veranstalten sogar regelmäßig Führungen. Ich werde mal meinen Opa darnach
fragen.“
Sie
holten ihre Angelruten hervor und begannen die Haken mit Ködern zu bestücken.
„Ein
bißchen unheimlich ist es hier schon“, meinte Kosuke. „Ich hätte besser
ein Radio mitgenommen.“
„Hast
du einen an der Waffel? Wir wollen hier Fische fangen und keine Disco
veranstalten“, brummte Ryō kopfschüttelnd.
Schweigend
warfen sie die Leinen aus. Eine Zeit lang hörte man nichts außer dem Plätschern
der Wellen, welche in regelmäßigen Stößen gegen das Boot schlugen und dem
Surren der Spindeln. Während Ryō auf die Wasseroberfläche starrte, wo
sich das bleiche Mondlicht mit dem gelben Schein der Laterne mischte, lehnte
Kosuke sich zurück und schaute gen Himmel. Die wenigen Quellwölkchen lösten
sich auf und gaben allmählich den Blick auf den Sternenhimmel frei.
„Da!
Schau! Eine Sternschnuppe!“ rief Kosuke plötzlich. Ryō fuhr zusammen.
„Wo denn?“
„Schon
vorbei.“
„Und
dafür vertreibst du mir alle Fische“, stöhnte Ryō.
„Ich
hab’ den Eindruck, daß sie heute ohnehin nicht beißen.“
„Psst!“
Kosuke
schwieg und schaute weiter in den Himmel. Zu dumm! dachte er. Jetzt hatte er
doch glatt vergessen, sich etwas zu wünschen. Die nächste Sternschnuppe wollte
er auf keinen Fall verpassen.
„Da!
Schau! Da bewegt sich doch was!“ rief Ryō auf einmal. Kosuke folge seinem
Blick. Tatsächlich war dort am Himmel in östlicher Richtung ein kleiner
Lichtpunkt auszumachen, der sich rasch vorwärts bewegte.
„Das
ist doch keine Sternschnuppe“, meinte Kosuke. „Vielleicht ein Flugzeug, oder
ein Satellit. — Da wird doch...“ Kosuke kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu
vollenden, denn in dem selben Augenblick wurde der Himmel von einem blauweißen
Licht taghell erleuchtet. Für eine halbe Sekunde konnte man sogar das Ufer und
die Berghänge deutlich erkennen. Dann zerriß ein ohrenbetäubender
Donnerschlag die Luft. Eine Druckwelle fuhr über das wasser und ließ das Boot
der beiden Jungen beinahe kentern.
„Was
um Himmels Willen war das?“ fragte Ryō atemlos. Er sah zu Kosuke hinüber,
der sich mit beiden Händen an der Ruderbank festhielt.
„Ein
Gewitter. Wir müssen heim, bevor wir noch vom Blitz erschlagen werden“,
keuchte er.
„Das
war niemals ein Gewitter. Und was ist das dort? Das leuchtet doch etwas im
Wasser. Es sieht aus, als wäre etwas auf dem Wasser aufgeschlagen. Rasch! Laß
uns hinrudern und nachschauen gehen!“ Kosuke starrte ihn mit weit
aufgerissenen Augen an. „Bist du lebensmüde? Wer weiß, was das war. Wir
sollten schnellstens ans Ufer zurück.“
Es
war stockfinster und still. In Kikos Kopf rauschte es und ihr war etwas
schwindelig. Ihr Herz schlug rasend schnell. Sie hatte das Gefühl, gleich
ersticken zu müssen. Erst jetzt merkte sie, daß sie schon eine ganze Zeit lang
die Luft anhielt. Mit tiefen, Atemzügen schnappte sie gierig nach Luft. In der
Kapsel war die Energieversorgung zusammengebrochen. Die Beleuchtung war aus und
auf der Konsole brannte keine einzige Lampe; der Bildschirm war schwarz. Kiko
tastete mit beiden Händen in der engen Kapsel herum. Wo war bloß die
Handlampe? Sie wußte, daß es eine gab, aber im Training hatte sie sie nie benützen
müssen.
Was
war nur geschehen? Irgend etwas mußte schief gelaufen sein, so viel war ihr
klar. Ihre „Landung“ war höchst unsanft gewesen. Und nun schwankte die
Kapsel nach allen Seiten. Ein dumpfes Gefühl beschlich sie, aber Kiko wollte
nicht daran denken. Das wichtigste war im Augenblick, die Stromversorgung wieder
in Gang zu setzen.
Bildete
sie es sich nur ein, oder begann die Luft wirklich langsam stickig zu werden? Wo
befand sich bloß die verflixte Lampe?
„Oh!
Ich hab’ ja noch die Anzugslampe!“ fiel es Kiko auf einmal ein. Sie betätigte
einen kleinen Schalter auf Brusthöhe ihres Anzuges. Sogleich leuchteten drei
kleine, aber ziemlich helle Lämpchen auf ihrem Anzug auf. Sie tauchten die
kleine Kapsel in ein schummriges bläuliches Licht. Jetzt erkannte Kiko, daß
aus der Konsole vor ihr ein dünner rauchfaden aufstieg. Irgend etwas in der
Elektronik schien durchgeschmort zu sein. Das verhieß nichts gutes. Ohne
Elektronik konnte sie weder ihre Position bestimmen, noch die Umgebung auf den
Sichtschirm bringen. Kiko griff mit beiden Händen nach der Decke, wo sich die
Einstiegsluke befand. Auf beiden Seiten der Luke befanden sich kleine Kästchen.
Darauf waren zwei verdeckte Schalter angebracht.
Kiko
hielt den Atem an und drückte gleichzeitig die beiden vertieften Knöpfe. Ein
Lichtblitz flammte auf und ein scharfer Knall ließ sie zusammenfahren. Mit großer
Wucht wurden die Verschlußbolzen der Luke weggesprengt und die stählerne Luke
flog nach oben weg. Kiko versuchte, nach oben zu schauen, aber ihr Helm ließ es
nicht zu, den Kopf so weit in den Nacken zu legen, als daß sie einen Blick nach
draußen hätte werden können. Sie löste die Schnallen der Gurte, mit denen
sie in dem Sitz festgezurrt war. Mit einem scharfen Zischen entwich die Luft aus
dem Schutzpolster, welches ihre Beine und den Unterleib fest umschlossen hatte.
Kiko stand vorsichtig auf, wobei sie sich auf die Armlehnen und die Konsole
aufstützte.
Kaum
hatte sie den Kopf zur Luke hinaus gestreckt, als die Kapsel mächtig ins
schlingern kam. Kiko erschrak. Sie war im Wasser gelandet. Das war nicht
vorgesehen gewesen; mehr noch: Kikos schlimmster Albtraum hatte sich
verwirklicht.
Die
Worte des Ausbilders klangen ihr noch deutlich in den Ohren: „Die
Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Abweichung von den vorberechneten
Zielkoordinaten ist äußerst gering. Die Wahrscheinlichkeit einer Landung auf
dem Wasser liegt bei weniger als 1:1'000'000. Gleichwohl werden wir heute —
nur aus reiner Vorsicht — einen Ausstieg im Wasser trainieren.“ Kiko zuckte
zusammen — innerlich bloß, versteht sich. Nach außen ließ sie sich freilich
nichts anmerken.
Sie
waren zu dritt: Kiko, Kenn Kellog und Sei Ayuhara. Von den zahlreichen
Kandidaten der ersten Zeit waren jetzt nur noch sie drei übrig geblieben. Kiko
mochte die beiden anderen nicht besonders leiden. Sei machte immer ein mürrisches
Gesicht und war äußerst wortkarg. Keiner wurde recht schlau aus ihr. Kenn war
ein eingebildeter und höchst arroganter Kerl. Dafür sah er jedoch ziemlich gut
aus. Für Kiko hatte er aber meist nur spöttische Blicke und süffisante
Bemerkungen übrig. Mit der schweigsamen Sei schien er sich dagegen besser zu
verstehen.
Das
Wassertraining fand in einem umgebauten ehemaligen Gasometer statt. Der riesige
zylindrische Behälter oder das Bauwerk — diese Bezeichnung traf wohl eher auf
das gigantische Gebilde zu — war mit Wasser gefüllt und stellte mit rund
zwanzig Metern Höhe einen kleinen künstlichen See dar. Helle Lampen
erleuchteten dieses unheimliche Bauwerk über und unter der Wasseroberfläche.
Kiko
hatte eine panische Angst vor Wasser. Nicht eigentlich vor dem Wasser selbst,
sondern vor großen und tiefen Wasserflächen. Sie konnte daher auch nicht
schwimmen. Natürlich hatte sie das bei der Bewerbung und in den Interviews
verschwiegen. Hätte sie es angegeben, so wäre sie mit größter
Wahrscheinlichkeit nicht in das Kibou-Programm auf genommen worden.
„Als
erstes simulieren wir eine Landung auf der Wasseroberfläche und den
kontrollierten ausstieg aus der Kapsel. Später werden wir dann den außerordentlich
unwahrscheinlichen Fall, daß die Kapsel leck schlägt und sinkt, simulieren.“
Kiko verspürte ein Zucken im Bauch und eine starke Übelkeit keimte in ihr auf.
„Da
die Kapsel wasserdicht ist, wird sie an der Oberfläche treiben. Ihr Schwerpunkt
ist so ausgelegt, daß sie sich von allein in eine aufrechte Position verlagert,
so daß die Einstiegsluke nach oben weist. Das Wichtigste ist es, den Frachtbehälter,
der sich unter der Sitzschale befindet, zu bergen. Er ist schwimmfähig
ausgelegt, so daß er als Auftriebshilfe zu gebrauchen ist. Aus diesem Grunde
haben wir auch darauf verzichtet, ein Schlauchboot oder Rettungsweste
einzupacken...“ Kikos Kniete fühlten sich mittlerweile schon sehr weich an.
„Wenn
Sie mir dann bitte folgen würden...“ sprach der Ausbilder und stieg die
eiserne Treppe hoch, welche zu der Plattform über der Wasseroberfläche führte.
An einem Schwenkkran unter der Decke hing eine Nachbildung der Kapsel. Ein
schmaler, schwankender Steg aus Aluminium-Platten, die von dünnen Drahtseilen
zusammengehalten wurden, führte von der Plattform zur Kapsel, die knapp über
der Wasseroberfläche schwebte.
Kiko
war als letzte mit dem Wassertraining dran. Ihre beiden Kollegen hatten diese
Trainingseinheit schon am Tag zuvor absolviert; und wie üblich, war über den
Ausgang nichts in Erfahrung zu bringen. Auf diese Weise wußte keiner der
Kandidaten, wie er im Vergleich zu seinen Kameraden oder Konkurrenten da stand.
Kikos
Blick war starr. Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie hatte das Gefühl, ihre Zunge würde
am Gaumen festkleben. Ihre Hände waren dafür ganz feucht und sie spürte, wie
der dünne Stoff des leichten Trainingsanzugs auf ihrem Rücken festzukleben
begann. Als sie aufgerufen wurde, zuckte sie leicht zusammen. Sie durfte sich
nichts anmerken lassen. Mit zusammengekniffenen Augen lief sie über den
schmalen Steg und schwang sich behende ins Innere der Übungskapsel. Kaum war
die Luke hinter ihr verschlossen worden, da spürte sie auch schon, wie die
Kapsel am Kran hochgehievt wurde. Auf der Anzeige vor ihr begannen die
Leuchtziffern zu verschwimmen. Kiko schüttelte unwirsch den Kopf. Sie mußte
sich zusammen nehmen. Noch fünf Sekunden. Vier — drei — zwei — eins...
Ein Hornsignal erscholl und die Kapsel wurde aus ihrer Verankerung ausgeklinkt.
Eine Sekunde lang fühlte Kiko den freien Fall als heftiges Ziehen in der
Magengegend, dann kam der Aufprall. Mit einem gewaltigen Klatschen prallte die
Kapsel auf dem Wasser auf. Die Ausbilder und Techniker hatten sich längst in
Sicherheit gebracht. Hinter zwei transparenten Spritzschutzwänden warteten
Froschmänner auf ihren Einsatz.
Kiko
ging bei dem Aufprall buchstäblich die Luft aus. Für einen Augenblick sah sie
bunte Flecken und tanzende Lichter vor Augen. Sie hatte Angst vor dem, was sie
draußen erwarten würde, aber sie besann sich auf die hundertfach geübten
Bewegungsabläufe. Gurten lösen, eine Hand zum Sitz, mit der anderen sich am
Handgriff hochziehen. Die Sicherheitsabdeckung entfernen, den Hebel für die
Lukenverriegelung ziehen. Nach dem Absprengen der Luke die Sitzarretierung lösen,
den Sitz nach vorn auf die Konsole kippen. Den Frachtbehälter greifen und am
Griff hochziehen, den Frachtbehälter auf dem wieder zurückgeklappten Sitz
abstellen. Dann aus der Kapsel aussteigen. Sich bäuchlings flach hinlegen. Mit
den Füßen in der winzigen Vertiefung auf der Außenseite abstützen und dann
mit beiden Händen den Frachtbehälter herausziehen. Anschließend sich mit dem
Behälter langsam ins Wasser gleiten lassen. Den Behälter als Schwimmhilfe vor
sich herstoßend zum Ufer schwimmen: So sah es der Ablauf vor.
Bis
zum Ausstieg klappte auch alles wie vorgesehen. Kiko war zu beschäftigt, um
Angst zu haben. Noch ein paar Handgriffe, dann hätte sie es geschafft. Aber
kaum hatte sie sich mit den Beinen voran aus der engen Luke geschwunden, als
ihre Schwierigkeiten anfingen. Die Kapsel lag höchst instabil im Wasser und bei
den heftigen Bewegungen Kikos geriet sie stark ins Schwanken. Kiko hielt sich
mit beiden Händen am Rand der Luke fest und tastete mit den Füßen verzweifelt
nach der Vertiefung zum Abstützen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie Halt
gefaßt hatte. Ihr war bewußt, daß die Ausbilder sie keine Sekunde aus den
Augen ließen und jede ihrer Bewegungen akribisch registrierten, und daß sie
bei jedem gröberen Fehler die ganze Übung wiederholen müßte — und zwar so
lange, bis alles fehlerfrei klappte.
Kiko
streckte sich und machte sich so lang sie konnte. Aber sie bekam den Handgriff
des Frachtbehälters einfach nicht zu fassen. Wie war das möglich? So klein war
sie doch auch nicht. Als ihre Fingerspitzen endlich den Griff ertasteten, stieß
sie sich mit den Füßen ab und bekam den Frachtbehälter zu fassen. Sie zog
daran. Der Behälter war ungewöhnlich schwer. Endlich gab er nach. Kiko hatte
ihn zur Hälfte aus der Luke bugsiert, als die Kapsel endgültig das
Gleichgewicht verlor. Sie kippte nach vorne. Kiko versank rücklings im Wasser.
Der Frachtbehälter stieß ihr gegen den Kopf und drückte sie unter Wasser.
Kiko schluckte Wasser. Sie konnte nichts sehen. Das Wasser brannte in ihren
Augen und ihrer Nase. Sie mußten husten, bekam keine Luft mehr und der
Frachtbehälter zog sie unerbittlich in die Tiefe. „Wieso schwimmt das
verdammte Ding nicht?“ fragte sie sich. In ihren Lungen brannte es. Sie ließ
den Behälter los. Sie hatte die Orientierung verloren. Wo war oben, wo unten?
Auf einmal fühlte sie sich gepackt und eisernem griff festgehalten. Nach schier
endlosem Kampf unter Wasser spürte sie auf einmal wieder Luft auf ihrem
Gesicht. Röchelnd schnappte sie nach Luft und hustete eine Menge Wasser aus.
Kaum hatte der Froschmann sie auf der Plattform abgelegt, mußte sie sich heftig
übergeben. So sah also das Ende ihres Traumes aus, dachte sie...
Doch
zu ihrer größten Überraschung hatte man sie nicht aus dem Projekt entlassen.
Wie sich herausstellte, stimmte etwas mit dem Frachtbehälter nicht. Er war
versehentlich mit zuviel Gewicht gefüllt worden, so daß er nicht mehr schwimmfähig
war. Das Wassertraining wurde eingestellt, und Kiko brauchte die Übung nicht
mehr zu wiederholen.
Kiko
holte tief Luft. So lange sie ruhig sitzen blieb, konnte ihr nichts geschehen.
Die Kapsel schaukelte sanft im Wasser. Wahrscheinlich war sie in einem See
gelandet, denn auf dem Meer wäre der Wellengang viel stärker. Kiko überlegte
fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Irgendwann müßte sie ja aussteigen. Wer
garantierte ihr, daß der Frachtbehälter diesmal schwimmen würde? Und wie
sollte sie ohne Schwimmhilfe ans Ufer gelangen? Sie könnte natürlich bis zum
Morgen warten und hoffen, daß sie von jemandem entdeckt und gerettet würde.
Aber wie sollte sie ihre Anwesenheit und die Existenz der Kapsel erklären? Es
durfte doch niemand etwas von ihrer Mission erfahren. Und es durfte auf keinen
Fall etwas von der Zukunftstechnologie entdeckt werden. Außerdem gab es da auch
noch den Selbstzerstörungsmechanismus der Kapsel. Zwar könnte sie ihn mit
einem Schalter vorübergehend anhalten, aber da die Elektronik ausgefallen war,
konnte sie nicht wissen ob diese
Funktion noch zur Verfügung stand. Allerdings wäre es genau so möglich, daß
die automatische Selbstzerstörung gar
nicht funktionierte. Doch für diesen Fall gab es die Möglichkeit, sie manuell
in Gang zu setzen.
Kiko
hielt einen Augenblick inne. War da nicht ein Geräusch auf dem Wasser zu
vernehmen gewesen? Sie hielt den Atem an und lauschte angestrengt in die Nacht
hinein. Nein, da war kein verdächtiges Geräusch, nur die Wellen, die gegen die
Kapsel schlugen. Kiko zog sich am Haltegriff hoch und löste die Arretierung des
Sitzes. Sie zog den Frachtbehälter hoch. Es ging ganz leicht. Das Gewicht
schien in Ordnung zu sein. Erneut hielt Kiko inne und lauschte. Jetzt vernahm
sie leise Stimmen. Da draußen waren Leute. War die Kapsel etwa in die Nähe des
Ufers getrieben worden? Sie kletterte auf die Konsole und streckte den Kopf
durch die Luke. Die Ufer des Sees waren weit entfernt. Das konnte sie im
Mondlicht gut erkennen. Am weiter entfernten Ufer befand sich eine Ortschaft.
Auf der anderen Seite befanden sich einige vereinzelt stehende Häuser, welche
im Dunkeln lagen nur mehr zu erahnen waren. In einigen Fenstern brannte noch
Licht. Es konnte also noch nicht allzu spät in der Nacht sein. Da die Anzeige
auf der Konsole nicht funktioniert, konnte sie weder die Uhr — und was noch
viel wichtiger war — den Kalender ablesen.
Kikos
Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt konnte sie das
kleine Ruderboot erkennen, welches noch ungefähr fünfzig Meter von der Kapsel
entfernt lag und sich zielstrebig näherte. Sie fragte sich gerade, wie die
Leute in dem Boot ihre Kapsel überhaupt hatten ausfindig machen können, wo sie
doch über keine Positionslichter verfügte und auch nicht sehr hoch aus dem
Wasser ragte. Wahrscheinlich reflektierte die glänzende Metalloberfläche genügend
Mondlicht um sich gegen die dunkle Wasserfläche hervorzuheben.
„Verdammter
Mist!“ fluchte sie leise. Sie riß an dem Griff des Frachtbehälters und zog
ihn hoch. Wer immer da draußen war, er durfte sie nicht entdecken. Jetzt durfte
sie keine Zeit mehr verlieren. Sie löste den Schutzdeckel von dem Auslöser für
die Selbstzerstörung der Kapsel. Um den Mechanismus in Gang zu setzten, mußte
sie den dreieckigen Knopf zuerst ein Stück herausziehen, dann nach links bis
zum Anschlag drehen und anschließend hineindrücken. Dann blieb ihr noch genau
eine Minute für die Selbstzerstörung. Zwar hatte sie die Selbstzerstörung
einer Kapsel während ihrer Ausbildung nie ausprobiert, aber aus dem Handbuch,
welches die Funktion beschrieb, wußte sie, daß es höchst ungesund wäre, sich
bei diesem Vorgang in der Kapsel aufzuhalten.
Kiko
setzte den Mechanismus in Gang. Dann zog sie den Frachtbehälter aus der Luke.
Sie ließ ihn über den Rand der Luke die gewölbte Außenseite der Kapsel hinab
gleiten. Kiko holte tief Luft, dann ließ auch sie sich in das schwarze Wasser
gleiten. Der Transportbehälter schwamm tatsächlich an der Oberfläche. Kaum
war Kiko im Wasser, als das kalte Seewasser durch die Halsöffnung in ihren
Anzug eindrang. Sie zuckte zusammen und schnappte krampfhaft nach Luft. Das
Wasser war viel kälter als sie es nach der warmen Lufttemperatur erwartet
hatte. Sie stieß sich mit den Füßen von der Kapsel ab und schwamm so rasch
sie konnte in Richtung des nächstgelegenen Ufers. Dabei hielt sie sich mit der
linken Hand am Frachtbehälter fest, während sie mit dem rechten Arm kräftig
ruderte. Irgendwie hatte sie jedoch das Gefühl, nicht so recht vorwärts zu
kommen. Als sie den Kopf nach der Kapsel wandte, befand sich diese noch immer in
gefährlicher Nähe. Gleichzeitig gewahrte sie das Ruderboot, in dem
augenscheinlich zwei Personen saßen, sich der Kapsel nähern. Kiko schätzte,
daß die Kapsel in rund zwanzig Sekunden in Flammen aufgehen müßte. Bis dahin
würde das Boot die Kapsel erreicht haben. Kiko stöhnte auf. Das durfte doch
alles nicht wahr sein! Sie war doch erst vor wenigen Minuten gelandet und schon
war so viel schief gelaufen. Wenn die Kapsel in der Nähe des Bootes
explodierte, dann würde dies verheerende Folgen haben. Unbeteiligte Personen würden
in der Vergangenheit zu Tode
kommen. Die Auswirkungen auf den Zeitablauf wagte sie sich gar nicht erst
vorzustellen. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie mußte sich bemerkbar machen und
die Leute von der Kapsel weglocken.
„Hallo!
Hier bin ich!“ rief sie so laut sie konnte und winkte mit der freien Hand.
Gleichzeitig versuchte, sie den Abstand von der Kapsel zu vergrößern.
Erleichtert stellte sie fest, daß das Boot abdrehte und sich nun ebenfalls von
der Kapsel weg bewegte. Kiko winkte und rief noch einmal, bevor sie mit aller
Kraft weiter schwamm. Vielleicht, so hoffte sie, könnte sie das Ufer vor dem
Boot erreichen und im Wald verschwinden.
Ein
ohrenbetäubender Knall zerriß die Luft und ein greller Feuerschein loderte über
das Wasser. Kiko spürte, wie sie ein heiße Druckwelle von hinten erfaßte. Sie
wandte sich um und konnte gerade noch einen schwarzen Schatten ausmachen, der
auf sie zu schoß. Dann traf sie etwas heftig am Kopf und alles wurde schwarz.
„Da!“
rief Ryō aufgeregt. „Da treibt etwas im Wasser. Es glänzt wie Metall.
Vielleicht ist es ein Flugzeug oder etwas ähnliches. Es könnte sogar ein
abgestürzter Satellit sein.“ Kosuke brummte verdrießlich und legte sich in
die Riemen.
„Jetzt
setz dich wieder hin, sonst kentern wir noch! Vielleicht ist ja ein UFO abgestürzt“,
sagte er.
„Ja?
Meinst du wirklich?“ fragte Ryō aufgeregt. Den spöttischen Ton ist
Kosukes Stimme hatte er gar nicht mitbekommen. „Na los! Kannst du nicht
schneller rudern?“
„Du
kannst es gerne selber versuchen“, erwiderte Kosuke verdrießlich. Da er mit
dem Rücken zum Bug saß, konnte er natürlich nicht sehen, wovon sein Freund
sprach.
Sie
waren noch gute fünfzehn Meter von dem Gebilde im Wasser entfernt, als plötzlich
eine weibliche stimme um Hilfe rief.
„Meine
Güte! Es gibt Überlebende!“ rief Ryō und wurde ganz bleich.
„Halten
Sie durch! Wir retten Sie!“ rief er.
„Du
hattest recht“, sagte Kosuke, „da muß wirklich ein Flugzeug abgestürzt
sein.“ Er ruderte so schnell er konnte, obwohl ihm inzwischen die Arme weh
taten.
„Mehr
nach links — noch weiter!“ rief Ryō. Kosuke drehte das Boot und ruderte
in die angegebene Richtung, die Ryō ihm anzeigte. Langsam entfernten sie
sich von dem silbern schimmernden Gebilde. Ryō erhob sich wieder und hielt
die Laterne hoch. „Da! Ich kann sie sehen! Noch ungefähr zehn Meter“, sagte
er. In diesem Augenblick gab es eine laute Detonation.
Die
Explosion war zum Glück nicht sehr heftig. Sie zerriß lediglich die äußere Hülle
der Kapsel, die in großen Stücken wie Baumrinde wegflog. Danach zündete die
Hauptladung. Hierbei handelte es sich um eine Art von Thermit, welcher die
Kapsel, die zu einem großen Teil aus einer Aluminium-Magnesium-Legierung
bestand in Brand setzte. Innerhalb von fünfzehn Sekunden brannte die Kapsel in
einer gleißend hellen Stichflamme aus. Geschmolzenes Metall floß zischend und
spratzelnd ins Wasser, welches in unmittelbarer Nähe des Brandes zu kochen
schien. Große dichte Rauch- und Dampfschwaden erfüllten die Luft und
versperrten die Sicht.
Die
Druckwelle der ersten Explosion riß Ryō von den Füßen. Er prallte gegen
Kosuke, der glücklicher Weise sicher
auf der Ruderbank saß und sich an den Riemen festhielt, dann stürzte er
kopfvoran ins Wasser.
Prustend
und spuckend tauchte er wieder auf.
„Um
Himmels Willen! Was ist geschehen?“ rief Kosuke. „Wo ist die Frau? Ich kann
sie nicht mehr sehen.“ Ryōs Laterne war ins Wasser gefallen und
untergegangen. Aber der Feuerschein der brennenden Kapsel war so hell wie eine
riesige Bogenlampe, so daß er ein weites Gebiet taghell ausleuchtete.
„Da
ist sie!“ rief Ryō. „Gleich hab’ ich sie.“ Er schwamm so schnell er
konnte. Nach wenigen Augenblicken war er bei Kiko, die leblos im Wasser trieb.
Halb lag sie auf dem Frachtbehälter, dessen Griff sie noch immer fest
umklammert hielt. Ryō packte sie und zog sie mitsamt Frachtbehälter in
Richtung des Bootes. Kiko war zum Glück nicht bewußtlos, aber doch so
benommen, daß sie sich kaum rührte. Daher war es für Ryō nicht weiter
schwierig, sie in Schlepptau zu nehmen. Am Boot angelangt, versuchte Ryō
Kikos Hand von dem Behälter zu lösen.
„Sie
müssen loslassen!“ befahl er. Aber es half nichts. Kiko hielt die Kiste
eisern fest. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden jungen, Kiko und den
Frachtbehälter ins Boot zu hieven.
„Wie
geht es Ihnen? Können Sie mich verstehen?“ fragte Ryō. Kiko stöhnte und
murmelte etwas unverständliches.
„Wie
viele Überlebende gibt es?“ fragte Kosuke. Er packte Kiko bei den schultern
und rüttelte sie heftig.
„Sind
da draußen noch andere Leute?“ fragte er eindringlich. Kiko schlug endlich
die Augen auf und starrte mit leerem Blick in den Himmel. Kosuke wiederholte
seine Frage. Kiko schloß die Augen.
„Nein,
neun, ich bin allein — keine anderen“, sagte sie schließlich matt.
„Gott
sei Dank! Keine Toten“, flüsterte Ryō erleichtert.
„Wir
müssen sie ins Dorf bringen“, sagte Kosuke und griff nach den Rudern.
„Ja,
bestimmt kommt gleich Hilfe“, sagte Ryō und meinte zu Kiko: „Halten Sie
durch. Wir bringen Sie ins Krankenhaus. Die Feuerwehr wird gleich da sein Dort
am Ufer sind Boote. Sie werden in wenigen Augenblicken bei uns sein.“
Kiko
riß die Augen weit auf. Sie richtete sich auf und rief. „Nein, kein
Krankenhaus! Ich muß hier weg.“ Sie machte tatsächlich Anstalten wieder ins
Wasser zu springen, doch Ryō hielt sie fest.
„Die
Ärmste. Sie steht unter Schock. Wo bleiben denn die Boote und die Feuerwehr?“
„Nein,
bitte, niemand darf erfahren, daß ich hier bin. Könnt Ihr mich nicht irgendwo
am Ufer absetzen?“ fragte Kiko flehend und versuchte, sich Ryōs Armen zu
entwinden.
„Das
geht doch nicht. Sie sind verletzt. Sie müssen sich behandeln lassen. Außerdem...“
„Versteht
Ihr das denn nicht? Ich bin in einer geheimen Mission hier. Ich darf nicht
entdeckt werden.“
„Wie
bitte?“ Ryō machte ein verdutztes Gesicht. Aber Kosuke gab ihm durch eine
unmißverständliche Geste zu verstehen, was er von Kikos Aussage und ihrem
Geisteszustand hielt.
Kiko
seufzte. Sie zog den Reißverschluß ihres Anzuges, der von der rechten Schulter
quer über die Brust zu linken Hüfte verlief, auf und kramte im Inneren des
Anzuges.
„Jetzt
kommt es wohl auch nicht mehr darauf an“, meinte sie und brachte einen länglichen
metallisch glänzenden Gegenstand zum Vorschein, der wie eine Pistole aussah —
und es auch war. Kiko entsicherte die Waffe und hielt sie Ryō an den Kopf.
„Los,
Rudere!“ befahl sie Kosuke, der sie entsetzt anstarrte. „Und du machst
keinen Mucks!“ befahl sie Ryō. „Wird’s bald!“ rief sie. Kosuke nahm
die Ruder und lenkte das Boot in Richtung Ufer.
„Nicht
da hin! Dort hin, wo es dunkel ist“, befahl sie. „Zum Wald!“
Langsam
entfernten sie sich von dem brennenden Wrack der Kapsel. Durch den Rauch und die
Flammen konnten sie undeutlich erkennen, wie sich vom Dorf her ein Dutzend
Fischerboot der Unglücksstelle näherten.
„Los!
Schneller! Sie dürfen uns nicht sehen!“
Kosukes
Arme schmerzten höllisch, aber er biß die Zähne aufeinander und ruderte so
schnell er konnte. Derweil saß Ryō zitternd und bibbernd auf der mittleren
Bank. Ryō fror jämmerlich. Er klatschnaß und im Boot gab es nichts, womit
er sich hätte zudecken oder aufwärmen können. Das lauwarme Metall der
Pistolenmündung in seinem Gesicht ließ ihn auch nicht gerade wärmer werden.
Nach einer endlos scheinenden Fahrt durch die Nacht, grub sich der Kiel des
Bootes endlich knirschen in den Kies am Ostufer des Sees.
„Wir
sind da“, sagte Kosuke atemlos und rieb sich die wunden Hände. „Was
jetzt?“
„Ich
steige hier aus. Ihr werdet wieder zurückrudern und geht nach Hause. Versucht
nicht, mir zu folgen und erzählt keinem, daß Ihr mich getroffen habt. Am
besten vergeßt Ihr alles, was Ihr heute Nacht gesehen und erlebt habt.“
Kiko
bedeutete Ryō, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie hob den Frachtbehälter auf
und schleuderte ihn ans Ufer ins Gras. „Also dann: auf Nimmerwiedersehen! —
Und danke für die Rettung!“ fügte sie hinzu. Sie sprang aus dem Boot — und
stürzte der Länge nach zu Boden, wo sie regungslos liegen blieb.
„Hoffentlich
ist sie tot!“ sagte Ryō und sah Kosuke an.
*
*
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