Zweites Kapitel

Ankunft mit Hindernissen

 

   

Der Mond schien hell vom tiefschwarzen Nachthimmel. Seine Scheibe war zu drei Vierteln voll. Es war eine milde, und bis auf vereinzelte Cumuli wolkenlose Sommernacht. Der See lag still und beinahe spiegelglatt da. Nur gelegentlich kräuselte ein Lufthauch seine Oberfläche. Der See war nicht sehr groß. Er lag zwischen dicht bewaldeten Bergen im Osten und dem Dorf im Westen.

Ryō Kitahara saß vorne in dem kleinen Ruderboot. Er hielt eine Laterne. Ihm gegenüber auf der Ruderbank saß sein Freund Kosuke Tanaka. Dieser legte sich mächtig in die Riemen und trieb das Boot rasch voran.

„He! Ryō! Hatten wir nicht ausgemacht, daß wir uns beim Rudern abwechseln?“ fragte er schnaufend. Ryō grinste und sagte: „Du machst das sehr gut. Außerdem sind wir gleich da.“

In der Tat war Kosuke im Gegensatz zu Ryō viel sportlicher und kräftiger gebaut. Er war fast ein halbes Jahr älter als sein Freund, mit dem er die gleiche Klasse in der Oberstufe besuchte. Zur Zeit hatten sie allerdings Sommerferien. Ansonsten hätten sie wohl kaum zu nächtlicher Stunde auf dem See herumrudern können.

„Ein bißchen mehr nach links, noch ungefähr hundert Meter“, kommandierte Ryō.

„Ich hoffe nur, daß dein Großvater Recht hat, und das wirklich eine besonders gute Stelle zum Angeln ist“, brummte Kosuke. „Sonst hätten wir uns die Arbeit sparen und gleich am Ufer angeln gehen können.“

„Nein, die Stelle ist gut. Das ist ein Geheimtip von meinem Opa. Vor zwei Wochen haben wir sechs dicke Karpfen und ein paar schöne Forellen herausgeholt.“

Die Leidenschaft für den Angelsport hatte Ryō von seinem Großvater geerbt. Sein Vater hingegen machte sich gar nichts daraus. Kosuke war auch kein begeisterter Angler, aber dafür aß er gerne frischen Fisch. Außerdem unternahm er gerne etwas gemeinsam mit Ryō. Seit ihrer Kindheit waren die beiden unzertrennliche Freunde.

Sie verbrachten gerade vier Wochen ihrer großen Sommerferien bei Ryōs Großvater auf dem Lande. Selbst wohnten sie einige Kilometer entfernt in der Stadt.

Während Kosuke die Ruder einholte, warf Ryō einen Blick gen Himmel.

„Ich hoffe, daß es noch ein bißchen aufklart“, sagte er. „Zu dieser Jahreszeit kann man mit ein wenig Glück besonders viele Sternschnuppen sehen.“

„Man sieht überhaupt ne Menge Sterne hier. Das ist mir schon früher aufgefallen.“

„Ja, das liegt an der Dunkelheit hier. In der Stadt gibt es zu viele Lichter, die von der Atmosphäre reflektiert werden und den Himmel künstlich aufhellen. Außerdem gibt es eine Menge Abgase und Partikel in der Luft. Aus diesem Grund werden Sternwarten in abgelegenen Gegenden und auf hohen Bergen errichtet. Hier in der Nähe gibt es übrigens auch ein altes Observatorium. Ich glaube, die veranstalten sogar regelmäßig Führungen. Ich werde mal meinen Opa darnach fragen.“

Sie holten ihre Angelruten hervor und begannen die Haken mit Ködern zu bestücken.

„Ein bißchen unheimlich ist es hier schon“, meinte Kosuke. „Ich hätte besser ein Radio mitgenommen.“

„Hast du einen an der Waffel? Wir wollen hier Fische fangen und keine Disco veranstalten“, brummte Ryō kopfschüttelnd.

Schweigend warfen sie die Leinen aus. Eine Zeit lang hörte man nichts außer dem Plätschern der Wellen, welche in regelmäßigen Stößen gegen das Boot schlugen und dem Surren der Spindeln. Während Ryō auf die Wasseroberfläche starrte, wo sich das bleiche Mondlicht mit dem gelben Schein der Laterne mischte, lehnte Kosuke sich zurück und schaute gen Himmel. Die wenigen Quellwölkchen lösten sich auf und gaben allmählich den Blick auf den Sternenhimmel frei.

„Da! Schau! Eine Sternschnuppe!“ rief Kosuke plötzlich. Ryō fuhr zusammen. „Wo denn?“

„Schon vorbei.“

„Und dafür vertreibst du mir alle Fische“, stöhnte Ryō.

„Ich hab’ den Eindruck, daß sie heute ohnehin nicht beißen.“

„Psst!“

Kosuke schwieg und schaute weiter in den Himmel. Zu dumm! dachte er. Jetzt hatte er doch glatt vergessen, sich etwas zu wünschen. Die nächste Sternschnuppe wollte er auf keinen Fall verpassen.

„Da! Schau! Da bewegt sich doch was!“ rief Ryō auf einmal. Kosuke folge seinem Blick. Tatsächlich war dort am Himmel in östlicher Richtung ein kleiner Lichtpunkt auszumachen, der sich rasch vorwärts bewegte.

„Das ist doch keine Sternschnuppe“, meinte Kosuke. „Vielleicht ein Flugzeug, oder ein Satellit. — Da wird doch...“ Kosuke kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden, denn in dem selben Augenblick wurde der Himmel von einem blauweißen Licht taghell erleuchtet. Für eine halbe Sekunde konnte man sogar das Ufer und die Berghänge deutlich erkennen. Dann zerriß ein ohrenbetäubender Donnerschlag die Luft. Eine Druckwelle fuhr über das wasser und ließ das Boot der beiden Jungen beinahe kentern.

„Was um Himmels Willen war das?“ fragte Ryō atemlos. Er sah zu Kosuke hinüber, der sich mit beiden Händen an der Ruderbank festhielt.

„Ein Gewitter. Wir müssen heim, bevor wir noch vom Blitz erschlagen werden“, keuchte er.

„Das war niemals ein Gewitter. Und was ist das dort? Das leuchtet doch etwas im Wasser. Es sieht aus, als wäre etwas auf dem Wasser aufgeschlagen. Rasch! Laß uns hinrudern und nachschauen gehen!“ Kosuke starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Bist du lebensmüde? Wer weiß, was das war. Wir sollten schnellstens ans Ufer zurück.“

 

Es war stockfinster und still. In Kikos Kopf rauschte es und ihr war etwas schwindelig. Ihr Herz schlug rasend schnell. Sie hatte das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Erst jetzt merkte sie, daß sie schon eine ganze Zeit lang die Luft anhielt. Mit tiefen, Atemzügen schnappte sie gierig nach Luft. In der Kapsel war die Energieversorgung zusammengebrochen. Die Beleuchtung war aus und auf der Konsole brannte keine einzige Lampe; der Bildschirm war schwarz. Kiko tastete mit beiden Händen in der engen Kapsel herum. Wo war bloß die Handlampe? Sie wußte, daß es eine gab, aber im Training hatte sie sie nie benützen müssen.

Was war nur geschehen? Irgend etwas mußte schief gelaufen sein, so viel war ihr klar. Ihre „Landung“ war höchst unsanft gewesen. Und nun schwankte die Kapsel nach allen Seiten. Ein dumpfes Gefühl beschlich sie, aber Kiko wollte nicht daran denken. Das wichtigste war im Augenblick, die Stromversorgung wieder in Gang zu setzen.

Bildete sie es sich nur ein, oder begann die Luft wirklich langsam stickig zu werden? Wo befand sich bloß die verflixte Lampe?

„Oh! Ich hab’ ja noch die Anzugslampe!“ fiel es Kiko auf einmal ein. Sie betätigte einen kleinen Schalter auf Brusthöhe ihres Anzuges. Sogleich leuchteten drei kleine, aber ziemlich helle Lämpchen auf ihrem Anzug auf. Sie tauchten die kleine Kapsel in ein schummriges bläuliches Licht. Jetzt erkannte Kiko, daß aus der Konsole vor ihr ein dünner rauchfaden aufstieg. Irgend etwas in der Elektronik schien durchgeschmort zu sein. Das verhieß nichts gutes. Ohne Elektronik konnte sie weder ihre Position bestimmen, noch die Umgebung auf den Sichtschirm bringen. Kiko griff mit beiden Händen nach der Decke, wo sich die Einstiegsluke befand. Auf beiden Seiten der Luke befanden sich kleine Kästchen. Darauf waren zwei verdeckte Schalter angebracht.

Kiko hielt den Atem an und drückte gleichzeitig die beiden vertieften Knöpfe. Ein Lichtblitz flammte auf und ein scharfer Knall ließ sie zusammenfahren. Mit großer Wucht wurden die Verschlußbolzen der Luke weggesprengt und die stählerne Luke flog nach oben weg. Kiko versuchte, nach oben zu schauen, aber ihr Helm ließ es nicht zu, den Kopf so weit in den Nacken zu legen, als daß sie einen Blick nach draußen hätte werden können. Sie löste die Schnallen der Gurte, mit denen sie in dem Sitz festgezurrt war. Mit einem scharfen Zischen entwich die Luft aus dem Schutzpolster, welches ihre Beine und den Unterleib fest umschlossen hatte. Kiko stand vorsichtig auf, wobei sie sich auf die Armlehnen und die Konsole aufstützte.

Kaum hatte sie den Kopf zur Luke hinaus gestreckt, als die Kapsel mächtig ins schlingern kam. Kiko erschrak. Sie war im Wasser gelandet. Das war nicht vorgesehen gewesen; mehr noch: Kikos schlimmster Albtraum hatte sich verwirklicht.

 

Die Worte des Ausbilders klangen ihr noch deutlich in den Ohren: „Die Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Abweichung von den vorberechneten Zielkoordinaten ist äußerst gering. Die Wahrscheinlichkeit einer Landung auf dem Wasser liegt bei weniger als 1:1'000'000. Gleichwohl werden wir heute — nur aus reiner Vorsicht — einen Ausstieg im Wasser trainieren.“ Kiko zuckte zusammen — innerlich bloß, versteht sich. Nach außen ließ sie sich freilich nichts anmerken.

Sie waren zu dritt: Kiko, Kenn Kellog und Sei Ayuhara. Von den zahlreichen Kandidaten der ersten Zeit waren jetzt nur noch sie drei übrig geblieben. Kiko mochte die beiden anderen nicht besonders leiden. Sei machte immer ein mürrisches Gesicht und war äußerst wortkarg. Keiner wurde recht schlau aus ihr. Kenn war ein eingebildeter und höchst arroganter Kerl. Dafür sah er jedoch ziemlich gut aus. Für Kiko hatte er aber meist nur spöttische Blicke und süffisante Bemerkungen übrig. Mit der schweigsamen Sei schien er sich dagegen besser zu verstehen.

Das Wassertraining fand in einem umgebauten ehemaligen Gasometer statt. Der riesige zylindrische Behälter oder das Bauwerk — diese Bezeichnung traf wohl eher auf das gigantische Gebilde zu — war mit Wasser gefüllt und stellte mit rund zwanzig Metern Höhe einen kleinen künstlichen See dar. Helle Lampen erleuchteten dieses unheimliche Bauwerk über und unter der Wasseroberfläche.

Kiko hatte eine panische Angst vor Wasser. Nicht eigentlich vor dem Wasser selbst, sondern vor großen und tiefen Wasserflächen. Sie konnte daher auch nicht schwimmen. Natürlich hatte sie das bei der Bewerbung und in den Interviews verschwiegen. Hätte sie es angegeben, so wäre sie mit größter Wahrscheinlichkeit nicht in das Kibou-Programm auf genommen worden.

„Als erstes simulieren wir eine Landung auf der Wasseroberfläche und den kontrollierten ausstieg aus der Kapsel. Später werden wir dann den außerordentlich unwahrscheinlichen Fall, daß die Kapsel leck schlägt und sinkt, simulieren.“ Kiko verspürte ein Zucken im Bauch und eine starke Übelkeit keimte in ihr auf.

„Da die Kapsel wasserdicht ist, wird sie an der Oberfläche treiben. Ihr Schwerpunkt ist so ausgelegt, daß sie sich von allein in eine aufrechte Position verlagert, so daß die Einstiegsluke nach oben weist. Das Wichtigste ist es, den Frachtbehälter, der sich unter der Sitzschale befindet, zu bergen. Er ist schwimmfähig ausgelegt, so daß er als Auftriebshilfe zu gebrauchen ist. Aus diesem Grunde haben wir auch darauf verzichtet, ein Schlauchboot oder Rettungsweste einzupacken...“ Kikos Kniete fühlten sich mittlerweile schon sehr weich an.

„Wenn Sie mir dann bitte folgen würden...“ sprach der Ausbilder und stieg die eiserne Treppe hoch, welche zu der Plattform über der Wasseroberfläche führte. An einem Schwenkkran unter der Decke hing eine Nachbildung der Kapsel. Ein schmaler, schwankender Steg aus Aluminium-Platten, die von dünnen Drahtseilen zusammengehalten wurden, führte von der Plattform zur Kapsel, die knapp über der Wasseroberfläche schwebte.

Kiko war als letzte mit dem Wassertraining dran. Ihre beiden Kollegen hatten diese Trainingseinheit schon am Tag zuvor absolviert; und wie üblich, war über den Ausgang nichts in Erfahrung zu bringen. Auf diese Weise wußte keiner der Kandidaten, wie er im Vergleich zu seinen Kameraden oder Konkurrenten da stand.

Kikos Blick war starr. Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie hatte das Gefühl, ihre Zunge würde am Gaumen festkleben. Ihre Hände waren dafür ganz feucht und sie spürte, wie der dünne Stoff des leichten Trainingsanzugs auf ihrem Rücken festzukleben begann. Als sie aufgerufen wurde, zuckte sie leicht zusammen. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Mit zusammengekniffenen Augen lief sie über den schmalen Steg und schwang sich behende ins Innere der Übungskapsel. Kaum war die Luke hinter ihr verschlossen worden, da spürte sie auch schon, wie die Kapsel am Kran hochgehievt wurde. Auf der Anzeige vor ihr begannen die Leuchtziffern zu verschwimmen. Kiko schüttelte unwirsch den Kopf. Sie mußte sich zusammen nehmen. Noch fünf Sekunden. Vier — drei — zwei — eins... Ein Hornsignal erscholl und die Kapsel wurde aus ihrer Verankerung ausgeklinkt. Eine Sekunde lang fühlte Kiko den freien Fall als heftiges Ziehen in der Magengegend, dann kam der Aufprall. Mit einem gewaltigen Klatschen prallte die Kapsel auf dem Wasser auf. Die Ausbilder und Techniker hatten sich längst in Sicherheit gebracht. Hinter zwei transparenten Spritzschutzwänden warteten Froschmänner auf ihren Einsatz.

Kiko ging bei dem Aufprall buchstäblich die Luft aus. Für einen Augenblick sah sie bunte Flecken und tanzende Lichter vor Augen. Sie hatte Angst vor dem, was sie draußen erwarten würde, aber sie besann sich auf die hundertfach geübten Bewegungsabläufe. Gurten lösen, eine Hand zum Sitz, mit der anderen sich am Handgriff hochziehen. Die Sicherheitsabdeckung entfernen, den Hebel für die Lukenverriegelung ziehen. Nach dem Absprengen der Luke die Sitzarretierung lösen, den Sitz nach vorn auf die Konsole kippen. Den Frachtbehälter greifen und am Griff hochziehen, den Frachtbehälter auf dem wieder zurückgeklappten Sitz abstellen. Dann aus der Kapsel aussteigen. Sich bäuchlings flach hinlegen. Mit den Füßen in der winzigen Vertiefung auf der Außenseite abstützen und dann mit beiden Händen den Frachtbehälter herausziehen. Anschließend sich mit dem Behälter langsam ins Wasser gleiten lassen. Den Behälter als Schwimmhilfe vor sich herstoßend zum Ufer schwimmen: So sah es der Ablauf vor.

Bis zum Ausstieg klappte auch alles wie vorgesehen. Kiko war zu beschäftigt, um Angst zu haben. Noch ein paar Handgriffe, dann hätte sie es geschafft. Aber kaum hatte sie sich mit den Beinen voran aus der engen Luke geschwunden, als ihre Schwierigkeiten anfingen. Die Kapsel lag höchst instabil im Wasser und bei den heftigen Bewegungen Kikos geriet sie stark ins Schwanken. Kiko hielt sich mit beiden Händen am Rand der Luke fest und tastete mit den Füßen verzweifelt nach der Vertiefung zum Abstützen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie Halt gefaßt hatte. Ihr war bewußt, daß die Ausbilder sie keine Sekunde aus den Augen ließen und jede ihrer Bewegungen akribisch registrierten, und daß sie bei jedem gröberen Fehler die ganze Übung wiederholen müßte — und zwar so lange, bis alles fehlerfrei klappte.

Kiko streckte sich und machte sich so lang sie konnte. Aber sie bekam den Handgriff des Frachtbehälters einfach nicht zu fassen. Wie war das möglich? So klein war sie doch auch nicht. Als ihre Fingerspitzen endlich den Griff ertasteten, stieß sie sich mit den Füßen ab und bekam den Frachtbehälter zu fassen. Sie zog daran. Der Behälter war ungewöhnlich schwer. Endlich gab er nach. Kiko hatte ihn zur Hälfte aus der Luke bugsiert, als die Kapsel endgültig das Gleichgewicht verlor. Sie kippte nach vorne. Kiko versank rücklings im Wasser. Der Frachtbehälter stieß ihr gegen den Kopf und drückte sie unter Wasser. Kiko schluckte Wasser. Sie konnte nichts sehen. Das Wasser brannte in ihren Augen und ihrer Nase. Sie mußten husten, bekam keine Luft mehr und der Frachtbehälter zog sie unerbittlich in die Tiefe. „Wieso schwimmt das verdammte Ding nicht?“ fragte sie sich. In ihren Lungen brannte es. Sie ließ den Behälter los. Sie hatte die Orientierung verloren. Wo war oben, wo unten? Auf einmal fühlte sie sich gepackt und eisernem griff festgehalten. Nach schier endlosem Kampf unter Wasser spürte sie auf einmal wieder Luft auf ihrem Gesicht. Röchelnd schnappte sie nach Luft und hustete eine Menge Wasser aus. Kaum hatte der Froschmann sie auf der Plattform abgelegt, mußte sie sich heftig übergeben. So sah also das Ende ihres Traumes aus, dachte sie...

Doch zu ihrer größten Überraschung hatte man sie nicht aus dem Projekt entlassen. Wie sich herausstellte, stimmte etwas mit dem Frachtbehälter nicht. Er war versehentlich mit zuviel Gewicht gefüllt worden, so daß er nicht mehr schwimmfähig war. Das Wassertraining wurde eingestellt, und Kiko brauchte die Übung nicht mehr zu wiederholen.

 

Kiko holte tief Luft. So lange sie ruhig sitzen blieb, konnte ihr nichts geschehen. Die Kapsel schaukelte sanft im Wasser. Wahrscheinlich war sie in einem See gelandet, denn auf dem Meer wäre der Wellengang viel stärker. Kiko überlegte fieberhaft, was sie jetzt tun sollte. Irgendwann müßte sie ja aussteigen. Wer garantierte ihr, daß der Frachtbehälter diesmal schwimmen würde? Und wie sollte sie ohne Schwimmhilfe ans Ufer gelangen? Sie könnte natürlich bis zum Morgen warten und hoffen, daß sie von jemandem entdeckt und gerettet würde. Aber wie sollte sie ihre Anwesenheit und die Existenz der Kapsel erklären? Es durfte doch niemand etwas von ihrer Mission erfahren. Und es durfte auf keinen Fall etwas von der Zukunftstechnologie entdeckt werden. Außerdem gab es da auch noch den Selbstzerstörungsmechanismus der Kapsel. Zwar könnte sie ihn mit einem Schalter vorübergehend anhalten, aber da die Elektronik ausgefallen war, konnte sie  nicht wissen ob diese Funktion noch zur Verfügung stand. Allerdings wäre es genau so möglich, daß die automatische Selbstzerstörung  gar nicht funktionierte. Doch für diesen Fall gab es die Möglichkeit, sie manuell in Gang zu setzen.

Kiko hielt einen Augenblick inne. War da nicht ein Geräusch auf dem Wasser zu vernehmen gewesen? Sie hielt den Atem an und lauschte angestrengt in die Nacht hinein. Nein, da war kein verdächtiges Geräusch, nur die Wellen, die gegen die Kapsel schlugen. Kiko zog sich am Haltegriff hoch und löste die Arretierung des Sitzes. Sie zog den Frachtbehälter hoch. Es ging ganz leicht. Das Gewicht schien in Ordnung zu sein. Erneut hielt Kiko inne und lauschte. Jetzt vernahm sie leise Stimmen. Da draußen waren Leute. War die Kapsel etwa in die Nähe des Ufers getrieben worden? Sie kletterte auf die Konsole und streckte den Kopf durch die Luke. Die Ufer des Sees waren weit entfernt. Das konnte sie im Mondlicht gut erkennen. Am weiter entfernten Ufer befand sich eine Ortschaft. Auf der anderen Seite befanden sich einige vereinzelt stehende Häuser, welche im Dunkeln lagen nur mehr zu erahnen waren. In einigen Fenstern brannte noch Licht. Es konnte also noch nicht allzu spät in der Nacht sein. Da die Anzeige auf der Konsole nicht funktioniert, konnte sie weder die Uhr — und was noch viel wichtiger war — den Kalender ablesen.

Kikos Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt konnte sie das kleine Ruderboot erkennen, welches noch ungefähr fünfzig Meter von der Kapsel entfernt lag und sich zielstrebig näherte. Sie fragte sich gerade, wie die Leute in dem Boot ihre Kapsel überhaupt hatten ausfindig machen können, wo sie doch über keine Positionslichter verfügte und auch nicht sehr hoch aus dem Wasser ragte. Wahrscheinlich reflektierte die glänzende Metalloberfläche genügend Mondlicht um sich gegen die dunkle Wasserfläche hervorzuheben.

„Verdammter Mist!“ fluchte sie leise. Sie riß an dem Griff des Frachtbehälters und zog ihn hoch. Wer immer da draußen war, er durfte sie nicht entdecken. Jetzt durfte sie keine Zeit mehr verlieren. Sie löste den Schutzdeckel von dem Auslöser für die Selbstzerstörung der Kapsel. Um den Mechanismus in Gang zu setzten, mußte sie den dreieckigen Knopf zuerst ein Stück herausziehen, dann nach links bis zum Anschlag drehen und anschließend hineindrücken. Dann blieb ihr noch genau eine Minute für die Selbstzerstörung. Zwar hatte sie die Selbstzerstörung einer Kapsel während ihrer Ausbildung nie ausprobiert, aber aus dem Handbuch, welches die Funktion beschrieb, wußte sie, daß es höchst ungesund wäre, sich bei diesem Vorgang in der Kapsel aufzuhalten.

Kiko setzte den Mechanismus in Gang. Dann zog sie den Frachtbehälter aus der Luke. Sie ließ ihn über den Rand der Luke die gewölbte Außenseite der Kapsel hinab gleiten. Kiko holte tief Luft, dann ließ auch sie sich in das schwarze Wasser gleiten. Der Transportbehälter schwamm tatsächlich an der Oberfläche. Kaum war Kiko im Wasser, als das kalte Seewasser durch die Halsöffnung in ihren Anzug eindrang. Sie zuckte zusammen und schnappte krampfhaft nach Luft. Das Wasser war viel kälter als sie es nach der warmen Lufttemperatur erwartet hatte. Sie stieß sich mit den Füßen von der Kapsel ab und schwamm so rasch sie konnte in Richtung des nächstgelegenen Ufers. Dabei hielt sie sich mit der linken Hand am Frachtbehälter fest, während sie mit dem rechten Arm kräftig ruderte. Irgendwie hatte sie jedoch das Gefühl, nicht so recht vorwärts zu kommen. Als sie den Kopf nach der Kapsel wandte, befand sich diese noch immer in gefährlicher Nähe. Gleichzeitig gewahrte sie das Ruderboot, in dem augenscheinlich zwei Personen saßen, sich der Kapsel nähern. Kiko schätzte, daß die Kapsel in rund zwanzig Sekunden in Flammen aufgehen müßte. Bis dahin würde das Boot die Kapsel erreicht haben. Kiko stöhnte auf. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sie war doch erst vor wenigen Minuten gelandet und schon war so viel schief gelaufen. Wenn die Kapsel in der Nähe des Bootes explodierte, dann würde dies verheerende Folgen haben. Unbeteiligte Personen würden in  der Vergangenheit zu Tode kommen. Die Auswirkungen auf den Zeitablauf wagte sie sich gar nicht erst vorzustellen. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie mußte sich bemerkbar machen und die Leute von der Kapsel weglocken.

„Hallo! Hier bin ich!“ rief sie so laut sie konnte und winkte mit der freien Hand. Gleichzeitig versuchte, sie den Abstand von der Kapsel zu vergrößern. Erleichtert stellte sie fest, daß das Boot abdrehte und sich nun ebenfalls von der Kapsel weg bewegte. Kiko winkte und rief noch einmal, bevor sie mit aller Kraft weiter schwamm. Vielleicht, so hoffte sie, könnte sie das Ufer vor dem Boot erreichen und im Wald verschwinden.

Ein ohrenbetäubender Knall zerriß die Luft und ein greller Feuerschein loderte über das Wasser. Kiko spürte, wie sie ein heiße Druckwelle von hinten erfaßte. Sie wandte sich um und konnte gerade noch einen schwarzen Schatten ausmachen, der auf sie zu schoß. Dann traf sie etwas heftig am Kopf und alles wurde schwarz.

 

„Da!“ rief Ryō aufgeregt. „Da treibt etwas im Wasser. Es glänzt wie Metall. Vielleicht ist es ein Flugzeug oder etwas ähnliches. Es könnte sogar ein abgestürzter Satellit sein.“ Kosuke brummte verdrießlich und legte sich in die Riemen.

„Jetzt setz dich wieder hin, sonst kentern wir noch! Vielleicht ist ja ein UFO abgestürzt“, sagte er.

„Ja? Meinst du wirklich?“ fragte Ryō aufgeregt. Den spöttischen Ton ist Kosukes Stimme hatte er gar nicht mitbekommen. „Na los! Kannst du nicht schneller rudern?“

„Du kannst es gerne selber versuchen“, erwiderte Kosuke verdrießlich. Da er mit dem Rücken zum Bug saß, konnte er natürlich nicht sehen, wovon sein Freund sprach.

Sie waren noch gute fünfzehn Meter von dem Gebilde im Wasser entfernt, als plötzlich eine weibliche stimme um Hilfe rief.

„Meine Güte! Es gibt Überlebende!“ rief Ryō und wurde ganz bleich.

„Halten Sie durch! Wir retten Sie!“ rief er.

„Du hattest recht“, sagte Kosuke, „da muß wirklich ein Flugzeug abgestürzt sein.“ Er ruderte so schnell er konnte, obwohl ihm inzwischen die Arme weh taten.

„Mehr nach links — noch weiter!“ rief Ryō. Kosuke drehte das Boot und ruderte in die angegebene Richtung, die Ryō ihm anzeigte. Langsam entfernten sie sich von dem silbern schimmernden Gebilde. Ryō erhob sich wieder und hielt die Laterne hoch. „Da! Ich kann sie sehen! Noch ungefähr zehn Meter“, sagte er. In diesem Augenblick gab es eine laute Detonation.

Die Explosion war zum Glück nicht sehr heftig. Sie zerriß lediglich die äußere Hülle der Kapsel, die in großen Stücken wie Baumrinde wegflog. Danach zündete die Hauptladung. Hierbei handelte es sich um eine Art von Thermit, welcher die Kapsel, die zu einem großen Teil aus einer Aluminium-Magnesium-Legierung bestand in Brand setzte. Innerhalb von fünfzehn Sekunden brannte die Kapsel in einer gleißend hellen Stichflamme aus. Geschmolzenes Metall floß zischend und spratzelnd ins Wasser, welches in unmittelbarer Nähe des Brandes zu kochen schien. Große dichte Rauch- und Dampfschwaden erfüllten die Luft und versperrten die Sicht.

Die Druckwelle der ersten Explosion riß Ryō von den Füßen. Er prallte gegen Kosuke, der glücklicher Weise  sicher auf der Ruderbank saß und sich an den Riemen festhielt, dann stürzte er kopfvoran ins Wasser.

Prustend und spuckend tauchte er wieder auf.

„Um Himmels Willen! Was ist geschehen?“ rief Kosuke. „Wo ist die Frau? Ich kann sie nicht mehr sehen.“ Ryōs Laterne war ins Wasser gefallen und untergegangen. Aber der Feuerschein der brennenden Kapsel war so hell wie eine riesige Bogenlampe, so daß er ein weites Gebiet taghell ausleuchtete.

„Da ist sie!“ rief Ryō. „Gleich hab’ ich sie.“ Er schwamm so schnell er konnte. Nach wenigen Augenblicken war er bei Kiko, die leblos im Wasser trieb. Halb lag sie auf dem Frachtbehälter, dessen Griff sie noch immer fest umklammert hielt. Ryō packte sie und zog sie mitsamt Frachtbehälter in Richtung des Bootes. Kiko war zum Glück nicht bewußtlos, aber doch so benommen, daß sie sich kaum rührte. Daher war es für Ryō nicht weiter schwierig, sie in Schlepptau zu nehmen. Am Boot angelangt, versuchte Ryō Kikos Hand von dem Behälter zu lösen.

„Sie müssen loslassen!“ befahl er. Aber es half nichts. Kiko hielt die Kiste eisern fest. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden jungen, Kiko und den Frachtbehälter ins Boot zu hieven.

„Wie geht es Ihnen? Können Sie mich verstehen?“ fragte Ryō. Kiko stöhnte und murmelte etwas unverständliches.

„Wie viele Überlebende gibt es?“ fragte Kosuke. Er packte Kiko bei den schultern und rüttelte sie heftig.

„Sind da draußen noch andere Leute?“ fragte er eindringlich. Kiko schlug endlich die Augen auf und starrte mit leerem Blick in den Himmel. Kosuke wiederholte seine Frage. Kiko schloß die Augen.

„Nein, neun, ich bin allein — keine anderen“, sagte sie schließlich matt.

„Gott sei Dank! Keine Toten“, flüsterte Ryō erleichtert.

„Wir müssen sie ins Dorf bringen“, sagte Kosuke und griff nach den Rudern.

„Ja, bestimmt kommt gleich Hilfe“, sagte Ryō und meinte zu Kiko: „Halten Sie durch. Wir bringen Sie ins Krankenhaus. Die Feuerwehr wird gleich da sein Dort am Ufer sind Boote. Sie werden in wenigen Augenblicken bei uns sein.“

Kiko riß die Augen weit auf. Sie richtete sich auf und rief. „Nein, kein Krankenhaus! Ich muß hier weg.“ Sie machte tatsächlich Anstalten wieder ins Wasser zu springen, doch Ryō hielt sie fest.

„Die Ärmste. Sie steht unter Schock. Wo bleiben denn die Boote und die Feuerwehr?“

„Nein, bitte, niemand darf erfahren, daß ich hier bin. Könnt Ihr mich nicht irgendwo am Ufer absetzen?“ fragte Kiko flehend und versuchte, sich Ryōs Armen zu entwinden.

„Das geht doch nicht. Sie sind verletzt. Sie müssen sich behandeln lassen. Außerdem...“

„Versteht Ihr das denn nicht? Ich bin in einer geheimen Mission hier. Ich darf nicht entdeckt werden.“

„Wie bitte?“ Ryō machte ein verdutztes Gesicht. Aber Kosuke gab ihm durch eine unmißverständliche Geste zu verstehen, was er von Kikos Aussage und ihrem Geisteszustand hielt.

Kiko seufzte. Sie zog den Reißverschluß ihres Anzuges, der von der rechten Schulter quer über die Brust zu linken Hüfte verlief, auf und kramte im Inneren des Anzuges.

„Jetzt kommt es wohl auch nicht mehr darauf an“, meinte sie und brachte einen länglichen metallisch glänzenden Gegenstand zum Vorschein, der wie eine Pistole aussah — und es auch war. Kiko entsicherte die Waffe und hielt sie Ryō an den Kopf.

„Los, Rudere!“ befahl sie Kosuke, der sie entsetzt anstarrte. „Und du machst keinen Mucks!“ befahl sie Ryō. „Wird’s bald!“ rief sie. Kosuke nahm die Ruder und lenkte das Boot in Richtung Ufer.

„Nicht da hin! Dort hin, wo es dunkel ist“, befahl sie. „Zum Wald!“

Langsam entfernten sie sich von dem brennenden Wrack der Kapsel. Durch den Rauch und die Flammen konnten sie undeutlich erkennen, wie sich vom Dorf her ein Dutzend Fischerboot der Unglücksstelle näherten.

„Los! Schneller! Sie dürfen uns nicht sehen!“

Kosukes Arme schmerzten höllisch, aber er biß die Zähne aufeinander und ruderte so schnell er konnte. Derweil saß Ryō zitternd und bibbernd auf der mittleren Bank. Ryō fror jämmerlich. Er klatschnaß und im Boot gab es nichts, womit er sich hätte zudecken oder aufwärmen können. Das lauwarme Metall der Pistolenmündung in seinem Gesicht ließ ihn auch nicht gerade wärmer werden. Nach einer endlos scheinenden Fahrt durch die Nacht, grub sich der Kiel des Bootes endlich knirschen in den Kies am Ostufer des Sees.

„Wir sind da“, sagte Kosuke atemlos und rieb sich die wunden Hände. „Was jetzt?“

„Ich steige hier aus. Ihr werdet wieder zurückrudern und geht nach Hause. Versucht nicht, mir zu folgen und erzählt keinem, daß Ihr mich getroffen habt. Am besten vergeßt Ihr alles, was Ihr heute Nacht gesehen und erlebt habt.“

Kiko bedeutete Ryō, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie hob den Frachtbehälter auf und schleuderte ihn ans Ufer ins Gras. „Also dann: auf Nimmerwiedersehen! — Und danke für die Rettung!“ fügte sie hinzu. Sie sprang aus dem Boot — und stürzte der Länge nach zu Boden, wo sie regungslos liegen blieb.

„Hoffentlich ist sie tot!“ sagte Ryō und sah Kosuke an.

 

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