Zehntes Kapitel

 

Verloren?

 

 

Doktor Pillar schien bei bester Laune zu sein. Fröhlich vor sich hinsummend lief er leichtfüßig durch die Werkhalle, die sein improvisiertes Laboratorium darstellte. Von dem Dutzend Psyllion, die ursprünglich in dem Transportbehälter enthalten waren, hatte eine den Transport nicht überlebt, eine weitere war von Kirina im Keller des Lagerhauses vernichtet worden und eine dritte steckte in ihrem Körper. Damit blieben noch neun übrig, die darauf warteten, in einen jungen, gesunden menschlichen Körper eindringen zu können.

Kirina hatte inzwischen den unglücklichen Robert vom Haken genommen und ihn neben den jetzt ebenfalls an Händen und Füßen gefesselten Nick in eine Ecke gesetzt. Im Flüsterton tauschten die beiden ihre Erlebnisse aus.

»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Nick leise.

»Vielleicht haben wir Glück und die Regierungsbeamten finden uns hier«, erwiderte Robert.

»Darauf würde ich nicht spekulieren. Erstens suchen die in einer ganz anderen Richtung und zweitens habe ich deren Wagen in die Luft gejagt. Von einer Psyllion infiziert werden ist zwar nicht besonders angenehm, aber auf zwanzig Jahre Zuchthaus kann ich ebenfalls gut verzichten.«

»Wir müssen Kirina retten, Nick« sagte Robert.

»Wir müssen zuerst einmal uns retten«, meinte Nick, dem Kirinas Behandlung noch in den Knochen steckte. »Wie fest sitzen deine Fesseln? Glaubst du, du könntest sie lockern?«

Robert schüttelte den Kopf. »Keine Chance, Nick. Wenn sie wenigstens einen Strick benutzt hätten, aber diese Kette ist zu stabil. Außerdem macht sie einen fürchterlichen Lärm, wenn du sie bewegst.«

Nick seufzte. Zum Glück war der ARCON nicht in der Nähe. Der Doktor würde, von seiner Pistole einmal abgesehen, nicht allzu viele Schwierigkeiten bereiten, aber Kirina würde ein harter Brocken werden.

»Hast du eine Ahnung was die gerade treiben?« fragte Nick.

»Sie bauen eine Sendeanlage zusammen, mit der sie die Psyllion und damit deren Wirte beeinflussen können.«

»Jetzt reicht es mir aber mit dem Geschwätz, da hinten!« rief Dr. Pillar. »Kirina, stopfe ihnen das Maul!«

»Jawohl, Doktor.« Sie fand zwei nicht besonders saubere Lappen, welche sie von der Werkbank mitnahm.

»Kirina! Bitte erinnere dich! Wir waren einmal Freunde. Du mußt versuchen, dich gegen den Einfluß der Psyllion zu wehren«, flehte Robert und sah sie beschwörend an.

Kirina zauderte. Sie hielt einen Augenblick inne und schien sich zu besinnen. Das Zucken in ihrem Gesicht verstärkte sich. Ihr Mund verzog sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Für einen winzigen Augenblick schien wieder ein Feuer in ihren Augen zu leuchten. Ihre Hände verkrampften sich.

»Ich — ich — kann nicht…« Von einem heftigen Krampf geschüttelt sank sie zu Boden und wand sich auf der Erde.

»Du sollst dich doch nicht wehren, Kirina. Ich habe dir gesagt, daß das nichts bringt — im Gegenteil, das macht es nur viel schlimmer«, sagte der Doktor mit einem betont liebenswürdigen Tonfall in der Stimme.

»Jawohl, Doktor.« Kirina stand wieder auf; der Anfall war vorüber. Die Psyllion hatte gesiegt. Ihr Blick war wieder leer und kalt, wie zuvor.

Nick stieß Robert sachte an, sorgfältig darauf bedacht, die Kette nicht zu laut klirren zu lassen. Robert hielt das Gesicht abgewandt. Er ertrug es nicht, Kirina derart leiden zu sehen. Immerhin war es seine Schuld, daß sie durch ihren hilflosen Zustand ein so leichtes Opfer der Psyllion hatte werden können.

Nick mußte ihn erneut stupsen, diesmal heftiger. Als Robert zu ihm hinüber schaute, deutete Nick mit dem Kopf vor sich auf den Boden. Er wagte es nicht zu sprechen, aus Furcht, die Aufmerksamkeit des Doktors auf sich zu lenken.

Robert folgte seinem Blick und sah, was Nick meinte: Bei ihrem Anfall hatte Kirina etwas verloren. Während sie sich auf dem Boden wälzte war ihr eine kleine Blechflasche mit einem rüsselförmigen Aufsatz aus der Tasche gerutscht. Es war das Kältespray, das sie Robert zur Bekämpfung der Psyllion gegeben hatte.

»Versuche, da heran zu kommen«, flüsterte Nick kaum hörbar. Aber Robert hatte ihn bereits verstanden. Das Spray konnte zwar ihre Fesseln nicht lösen, aber für irgend etwas wäre es bestimmt zu gebrauchen. In ihrer Lage durften sie nicht wählerisch sein, was die Mittel zu ihrer Rettung anbetraf.

Unendlich vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter rückte Robert nach vorne. Wenn er die Beine ausstreckte, könnte er vielleicht die Flasche erreichen. Er streckte die Beine waagerecht aus und versuchte mit den Fußspitzen die Flasche zu berühren. Mehrmals mußte er eine Pause einlegen, denn diese Übung war sehr anstrengend und er war von der vergangenen Nacht noch sehr ausgelaugt.

Beim vierten Versuch endlich hatte er Glück. Es gelang ihm, die Flasche zu erreichen und sie behutsam, Millimeter für Millimeter zu sich heran zu ziehen. Nick rutschte ein Stück nach vorne und drehte sich zur Seite. Es gelang ihm, die Flasche in die Finger zu bekommen.

»Und was nun?« fragte Robert.

»Wir müssen sie dazu kriegen, daß sie uns losbinden. Sag, du müßtest auf die Toilette oder sowas.«

»He! Sie, Doktor! Wenn Sie uns schon für ihre schändlichen Zwecke mißbrauchen wollen, dann könnten Sie uns auch etwas zu essen geben. Schließlich müssen wir doch bei Kräften bleiben, wenn wir ihnen als Sklaven dienen sollen«, rief Robert und versuchte dabei möglichst seine Furcht zu verbergen.

Dr. Pillar blickte von seiner Arbeit auf. Er schien irritiert zu sein.

»Ihr wollt essen? Ich habe aber jetzt nichts für euch. Wartet, bis der ARCON zurück ist. Ich werde ihn etwas besorgen schicken.«

»Kann das nicht das Mädchen erledigen?« fragte Nick. Vielleicht würde der Doktor darauf eingehen. Dann wäre Kirina aus dem Weg. Mit dem Doktor alleine könnten sie besser fertig werden. Außerdem kämen sie nicht in die Verlegenheit, gegenüber dem Mädchen allenfalls Gewalt anwenden zu müssen.

»Meinetwegen. Wenn ihr dann endlich Ruhe gebt. — Kirina! Geh und besorge den beiden etwas zu essen. Aber beeile dich. Wenn der ARCON zurückkommt, dann werde ich dich brauchen.«

»Jawohl, Doktor. Aber ist das klug, wenn Sie mit den Jungen allein bleiben?«

Der Doktor schien nachdenklich.

»Doktor Pillar! Sie werden sich doch nicht von der Kleinen belehren lassen. Ein Mann von Ihrer überragenden Intelligenz und außergewöhnlichen Fähigkeiten sollte sich nicht so von einem vorlauten Mädchen für dumm erklären lassen«, rief Nick, der versuchte, die richtige Dosis an Schmeichelei zu finden, um Pillar in seinem ursprünglichen Entschluß zu bestärken.

»Hhm! Du hast recht. — Kirina, Ich habe dir einen Befehl gegeben! Deine Aufgabe ist es zu gehorchen und nicht ungefragt zu reden.«

Kirina nickte stumm und ging hinaus. Nick wartete eine Minute, bis er sicher war, daß sie das Gebäude verlassen hatte. Jetzt kam Plan B an die Reihe.

»Doktor Pillar!«

»Was ist denn jetzt schon wieder. Kann man hier nicht in Ruhe arbeiten. Wenn das so weiter geht, werde ich nie mehr fertig.«

»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie bei Ihrer wichtigen Arbeit gestört haben sollte. Aber ich muß dringend auf die Toilette.«

»Du mußt warten, bis Kirina zurück ist.«

»Es ist aber dringend. Ich werde Sie bestimmt nicht mehr stören.«

Der Doktor nahm den Strahler vom Tisch und kam auf Nick zu.

»Du! Rücke zur Seite!« rief er und gab Robert einen Tritt, so daß dieser auf die Seite fiel.

Das zahle ich dir heim! dachte Nick. Pillar zog ihn an der Kette hoch und hielt ihm den Strahler an den Kopf.

»Eine falsche Bewegung und du bist deinen Kopf los!« zischte er.

»Dann wäre ich aber ziemlich nutzlos für Sie.«

»Das macht nichts. Auf diesem Planeten gibt es ein schier unerschöpfliches Reservoir an Sklaven. Milliarden warten nur darauf, mir zu dienen.« Er lockerte die Fesseln an Nicks Handgelenken. Endlich war er frei, zumindest teilweise.

»Ich kann so nicht gehen.«

»Dann hüpfst du eben!«

»Nanu! Ist das nicht der ARCON dort hinten?« rief Nick mit einem Ausdruck größter Überraschung. Dr. Pillar folgte seinem Blick und starrte in Richtung des schweren Tores der Werkhalle.

Das war der entscheidende Augenblick. Nick zog die Sprühflasche mit dem Kältemittel aus dem Hosenbund, wo er sie unter dem Saum der Jacke verborgen hatte. Er drückte auf den Hebel und verpaßte Pillar eine volle Ladung mitten ins Gesicht.

Der Doktor schrie auf. Sein Gesicht war weiß, voller winziger Eiskristalle. Er preßte beide Hände auf die Wangen. Nick stürzte sich auf ihn und riß ihn zu Boden. Irgendwie schaffte er es, sich den Strahler zu greifen, den Pillar in seiner Qual hatte fallen lassen.

»Jetzt ist es aus, Pillar!« schrie er. Er zielte nach der Psyllion-Kiste, die unter der Werkbank stand und drückte ab. Beim ersten Schuß verfehlte er sie knapp; der Strahl ging neben der Kiste vorbei und traf einen Stahlpfeiler, aus dem er ein gutes Stück herausschmolz. Der zweite Schuß traf. Die Kiste sprang unter einem gewaltigen Funkenregen in Stücke. Pillar heulte auf, als er sah, was geschehen war.

Nick zwang ihn, sich hinter die Werkbank zu stellen, wo er ihn im Visier hatte. Ohne den Doktor aus den Augen zu lassen, machte er sich von den Fußfesseln frei und befreite anschließend Robert.

»Nick! Gib mir den Strahler. Du kannst inzwischen die beiden anderen befreien.« Nick gab ihm den Strahler ohne viel nachzudenken.

»Jetzt ist es aus mit Ihnen, Pillar! Ich werde Sie für das, was Sie mit Kirina angestellt haben bestrafen!« schrie Robert und legte auf den Doktor an, der sich vergeblich hinter die Werkbank zu ducken versuchte.

»Nicht, Rob! Mach das nicht!«

»Wieso nicht? Die Welt muß von diesem Scheusal befreit werden. Wir können ihn nicht den Behörden ausliefern. Die würden ihn doch nur wieder laufen lassen, oder die Regierung würde ihn und sein Wissen für ihre schändlichen Zwecke mißbrauchen, wahrscheinlich, um neue Waffen zu erfinden. — Bleibe stehen, Nick! Du kannst mich nicht davon abhalten.«

Roberts Hand zitterte. Er hielt den Strahler mit beiden Händen fest.

»Wenn Kirina sterben muß, dann er auch.«

»Nein! warte doch. Das Mädchen muß nicht sterben. Es gibt eine Möglichkeit, die Psyllion zu entfernen. Wenn ihr mich gehen laßt, dann verrate ich es euch.«

»Oh nein! Das läuft anders. Wenn Sie es mir nicht verraten, dann werde ich Sie erschießen. Aber nicht auf einmal, sondern Stück für Stück. Erst die Füße, dann die Arme, dann die Knie, und so weiter. Ich zähle bis drei. Dann fange ich an. — Eins — Zwei —«

»Nein! Halt! Ich will es ja sagen. Ich habe ein Mittel gefunden, das die Psyllion fern hält. Wenn man es injiziert, dann verläßt sie den Körper.«

Robert sah ihn erleichtert an. Dann gab es doch eine Rettung für Kirina.

»Wo ist das Mittel?«

»Es ist in…«

In diesem Augenblick ging ratternd das große Tor auf. Kirina kam herein. Sie trug eine große Tüte im Arm.

»Kirina! Du bist gerettet!« rief Nick. »Komm her! Wir haben den Doktor besiegt.«

»Kirina!« rief Pillar streng. »Gehe und nimm ihm den Strahler ab!«

Kirina ließ die Tüte fallen und ging langsam auf Robert zu. Erschrocken starrte dieser abwechselnd auf sie und den Doktor.

»Kirina, höre nicht auf ihn! Bitte, bleib stehen!«

»Sie wird nicht auf dich hören«, sagte Pillar hämisch. »Du hast die Wahl: entweder gibst du ihr den Strahler oder du mußt sie töten.«

Robert brach der kalte Schweiß aus. Er zielte in Kirinas Richtung und feuerte einen Strahl ab, der kurz vor ihren Füßen den Betonboden aufriß. Das Mädchen blieb stehen und schien ein wenig erschrocken zu sein. Aber ein Wort des Doktors genügte, um sie wieder in Bewegung zu setzen.

»Kirina! Auf dem Tisch liegt meine Pistole. Nimm sie!«

Nick versuchte, ihr den Weg abzuschneiden. Er hechtete nach der Werkbank, wo inmitten eines Wustes von Drähten und elektronischen Bauteilen, dem Material für den Sender, die silbern glänzende Waffe lag. Aber Kirina war schneller. Mit der besten Sternenkriegerin der Pexxt konnte Nick es nicht aufnehmen. Sie schnappte sich die Pistole und während sie über die Tischplatte schlitterte, versetzte sie Nick einen Tritt, der ihn zu Boden warf. Sie kniete sich auf ihn, so daß er sich nicht mehr rühren konnte und drückte ihm den Lauf der Waffe in die Wange.

»Kirina, Zähle langsam auf drei. Wenn er junge Mann dort bis dahin den Strahler nicht aus der Hand gelegt hat, dann erschießt du den Blonden! Hast du verstanden?«

»Jawohl, Doktor«, sagte sie heiser. Ihre Nase begann zu bluten, aber sie merkte es gar nicht. Nick betrachtete sie aufmerksam. Noch nie hatte er das Mädchen so genau angeschaut, wie in diesem Augenblick, so schien es ihm.

»Eins«, sagte Kirina.

Sie war wunderschön, fand Nick, wenn auch auf eine unbeschreibliche Art. Ihre Schönheit war nicht eine absolute, wie sie vielleicht durch Symmetrien der Züge und Konvention definiert war. Aber die helle, fast weiße Haut, die von einer beinahe makellosen Beschaffenheit war, das tiefe Braun ihrer Augen, die ungewöhnliche Form ihrer Brauen, die schmale, kleine Nase, deren Flügel bei jedem Atemzug fein vibrierten, die kleinen, leicht spitzen Ohren, deren Muscheln von einem feinen, kaum sichtbaren samtigen Flaum überzogen waren, den man nur im Gegenlicht wahrnehmen konnte, die Form ihrer Lippen, die früher in einem tiefen, lebendigen Rot glänzten, jetzt, fahl und blutleer wirkten, die schneeweißen, etwas zu groß geratenen Schneidezähne mit der winzigen Lücke und die Farbe ihres wahrscheinlich meterlangen, leicht gewellten Haares, das sie in fünf gleich großen Zöpfen zu einem Knoten vereinigt trug, alles das wirkte auf einmal so unendlich anziehend und schön, daß Nick alles willig ertragen wollte, nur für einen einzigen zärtlichen Blick aus ihren Augen, einen einzigen süßen Kuß ihrer heißen Lippen.

»Zwei«, sagte Kirina.

Ihre Stimme, die einst so schön voll und klar geklungen hatte, hörte sich jetzt rauh und heiser an. Aber noch immer löste ihr Klang einen unbeschreiblichen Zauber in ihm aus. Wie gerne würde er ihr stundenlang zuhören, wenn sie von ihrer Welt erzählte, wenn sie eines der alten Lieder ihres Volkes für ihn sänge. Nick spürte den Hauch ihres schnellen Atems fast wie eine Berührung auf seiner Haut. Sie wirkte so unendlich stark und doch so zerbrechlich, so leicht verletzlich, und doch besaß sie die Macht über sein Leben. Was für ein Gefühl! Kurz bevor sie ihn töten würde, begehrte er sie, sehnte er sich mit jeder Faser seines Leibes nach ihr.

»Drei«, sagte Kirina.

Nick schloß die Augen.

»Nein! Nicht!« rief Robert und warf den Strahler weit von sich.

Nick machte die Augen wieder auf.

»Rob, du Idiot! Warum hast du das getan. Das war unsere einzige Chance, den Kerl aufzuhalten«, schrie er.

»Robert schüttelte den Kopf und sagte: »Weißt du eigentlich, was du da sagst? Sie hätte dich ohne mit der Wimper zu zucken erschossen. Was ist los mit dir? In der letzten Zeit benimmst du dich nicht normal. Es gibt immer eine Alternative. Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung, sagt ein altes Sprichwort.«

»Das ist ja rührend«, meldete sich der Doktor zu Wort, der sich von Nicks Angriff wieder erholt hatte. Er sah Nick mit einem giftigen, haßerfüllten Blick tief in die Augen. Jener erwiderte ihn ungerührt.

»Mit dir werde ich mich später noch eingehend beschäftigen. Ich würde dir ja so gerne gleich jetzt und hier den Hals umdrehen, aber vorderhand bis du lebendig nützlicher für mich. — Kirina, binde die beiden wieder fest und hänge sie an den Kran.«

Das Mädchen tat, wie ihr befohlen. Während sie die Ketten festzog, stand Pillar neben ihr und beobachtete scharf jeden Handgriff. Am Ende überzeugte er sich persönlich von dem festen Sitz der Fesseln. Kirina hakte die Kette, mit der die beiden Jungen Rücken an Rücken aneinander gebunden waren in den schweren Kranhaken ein. Mit einem eiskalten Lächeln betätigte Pillar den Mechanismus. Mit einem Rattern setzte sich die Winde unter dem Hallendach in Bewegung und zog die beiden in die Höhe.

Robert stöhnte laut auf, während Nick mit aller Kraft versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen, wie höllisch es in den Armen und Gelenken weh tat.

Als sie ungefähr einen Meter über dem Boden hingen, stoppte Pillar den Motor. Ohne sich nach den beiden unglücklichen Gefangenen noch einmal umzudrehen, wandte er sich sofort der zerstörten Transportkiste zu, in welcher die Psyllion verwahrt wurden. Bei dem Anblick der geschmolzenen und verkohlten Trümmer heulte der Doktor laut auf. Von den Behältern in der Kiste waren alle bis auf einen zerstört und ihr Inhalt vernichtet. Zum Glück für den Doktor — und zum Pech für die Jungen — hatte Pillar zuvor drei der Zylinder aus der Kiste herausgenommen, so daß ihm immerhin noch vier Psyllion übrig geblieben waren.

»Ich bin einmal gespannt, was mir der ARCON schönes mitbringen wird. Es wird langsam Zeit, daß er zurückkommt.«

Die Wartezeit bis zur Rückkehr des Androiden verkürzte der Doktor sich mit einem kleinen Imbiß. Genüßlich verspeiste er die Lebensmittel, welche Kirina in einer nahegelegenen Tankstelle erbeutet hatte. Der arme Tankwart würde sich noch lange an diesen ungewöhnlichen Raubüberfall erinnern. Wie oft kam es schon vor, daß ein Räuber — dazu noch ein so gutaussehender — die Ladenkasse verschmäht und statt dessen einen Beutel voller Lebensmittel mitnimmt.

Draußen vor dem Gebäude wurden Schritte hörbar. Kirina und der Doktor griffen nach ihren Waffen. Aber es war nur der ARCON.

Über der Schulter trug er einen leblosen Körper, den er recht unsanft auf dem Boden ablegte. Der Doktor trat hinzu und besah sich die Beute des Androiden.

»Das ist ja ein Weibchen!« rief er ärgerlich. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nur junge, kräftige Männchen mitbringen. Die bereiten am Anfang zwar ein wenig mehr Schwierigkeiten, dafür aber halten sie länger durch und sind stärker.«

»Der andere ist mir entkommen«, sagte der ARCON langsam. »Ich fand die beiden auf der Landstraße. Das Männchen hat sich tot gestellt und ist dann in ein Fahrzeug gestiegen. Ich hielt es für besser, ihn nicht zu verfolgen, da ich die hier nicht verlieren wollte. Soll ich weitere bringen, Doktor?«

»Nein! Ich habe im Augenblick nicht genügend Psyllion vorrätig. Aber morgen Nacht, können wir vielleicht die in Kirina ernten.«

Robert und Nick zuckten zusammen, als sie die Worte des Doktors vernahmen. Vermehrten sich diese Biester wirklich so rasend schnell? Wie viele Junge mochten wohl zu ernten sein, fragte sich Nick.

»Wenn jedes nur zwei Junge bekommt und sie sich alle vierundzwanzig Stunden vermehren, dann…«

»…Gibt es bald Millionen davon«, vollendete Nick den Gedanken. »In wenigen Tagen ist die ganze Stadt verseucht, in einigen Wochen das ganze Land. Die Leute werden sich nicht schützen können. Man sieht es den Menschen nicht an, wenn sie befallen sind.«

Der Doktor befahl Kirina, das bewußtlose Mädchen zu fesseln und zu knebeln und es zu den anderen Gefangenen zu legen.

»Wir werden es für später aufheben. Zuerst sind die anderen dran. Vier Männchen, vier Psyllion, das geht gerade auf. — ARCON, bereite sie vor. Ich will sogleich damit anfangen. Nicht daß noch etwas dazwischen kommt. Hast du das Geld mitgebracht?«

Der Android griff in das Oberteil seines Overalls und zog Bündel von Banknoten hervor. Erfreut griff der Doktor darnach und betrachtete die Scheine im Licht der Lampe.

»Wieviel mag das wert sein? Hoffentlich reicht es, um in der Stadt eine geeignete Unterkunft zu finden. Ich habe gelesen, daß es in euren Städten riesige Gasthäuser gibt, mit hunderten von Zimmern«, sagte er zu den beiden Jungen gewandt, die am Kran baumelten.

»Sie können kein Hotelzimmer mieten. Dafür brauchen Sie einen Ausweis«, sagte Nick und schwang sich herum, so daß er Pillar ins Gesicht sehen konnte.

»Meinst du so etwas?« fragte der Doktor und zog einen Personalausweis aus der Tasche.

»Das Bild ist vielleicht nicht sehr gut gelungen, aber ich denke es wird gehen.«

»Woher haben Sie…?«

»Das Computer-Archiv des Raumschiffes«, sagte Robert resignierend. Das wäre fatal, wenn Pillar sich in einem der großen Hotels inmitten der Stadt einquartierte. Dort könnte er unbemerkt Tausende von Menschen mit den Psyllion infizieren und erst noch angenehm leben.

»Worauf wartest du noch, ARCON? Beeile dich.«

»Ich höre etwas, Doktor. Es bewegt sich rasch auf unseren Standort zu. Es handelt sich um Motorgeräusche von mindestens zwei Flugmaschinen. Und da sind auch Fahrzeuge. Geschätzte Zeit bis zur Ankunft: zwei Minuten.«

Der Doktor sah ihn irritiert an. Was hatte das zu bedeuten?

»Jetzt ist es aus, Doktor Pillar!« rief Robert und lachte schadenfroh. »Das sind die Leute von der Luftaufklärung. Die sind euch bereits seit gestern auf der Spur. Bestimmt haben sie schon Verstärkung vom Militär bekommen. Wenn sie euch gefunden haben, dann machen sie kurzen Prozeß mit euch.«

»Und mit uns auch, fürchte ich«, sagte Nick leise. »Die wollen bei sowas in der Regel keine Zeugen dabei haben. Da wird doch alles vertuscht. Hinterher heißt es dann, die Fabrik sei abgebrannt, oder ein Flugzeug sei abgestürzt. Alles wird abgeriegelt und die Beweise werden in aller Ruhe beseitigt.«

»Ach du, mit deinem Verschwörungstheorien«, sagte Robert. Insgeheim aber war auch ihm nicht besonders wohl bei dem Gedanken, den Leuten von der Regierung in die Hände zu fallen, ganz besonders nicht nach dem Vorfall in der vergangenen Nacht. Das hieße dann wirklich vom Regen in die Traufe zu kommen.

Der Doktor ballte die Fäuste und stieß einige heftige Flüche in einer Sprache aus, welche die beiden nicht verstehen konnten. Er bekam einen hochroten Kopf und für einen Augenblick sah es wirklich so aus, als würde er gleich platzen.

»Packt alles zusammen!« befahl er Kirina und dem Androiden. Er selber nahm sich der verbliebenen Psyllion an, die er sorgfältig in einen Handkoffer verpackte.

Inzwischen war das Geräusch von sich nähernden Hubschraubern so stark angeschwollen, daß auch die beiden Jungen, deren Gehör um ein Hundertfaches schwächer war, als das des ARCON, es wahrnahmen. Vor der Werkhalle heulten Automotoren auf, Reifen quietschten und eilige Füße rannten über den Hof.

»Los! Raus hier!« befahl der Doktor.

»Was wird aus denen?« fragte Kirina.

»Die holen wir uns später ab.«

Eine verzerrte Stimme aus einem Megaphon schallte über den Hof.

»Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus! Das Gebäude ist umstellt. Sie haben keine Chance. Wenn sie nicht freiwillig heraus kommen, werden wir die Halle stürmen!«

Pillar, Kirina und der ARCON stürmten durch die Halle und strebten mach dem rückwärtigen Ausgang. Der ARCON ging voran, hinter ihm Kirina. Der Doktor wartete als letzter.

Nick und Robert konnten nicht sehen was geschah. Die Fensterscheiben der Werkhalle waren so schmutzig und milchig, daß sie nur Schemen auf dem Hof erkennen konnten. Außerdem hingen sie so ungünstig, daß ihnen der Blick nach hinten verwehrt war.

Schüsse fielen und ein Gewirr von wild durcheinander schreienden Stimmen wurde laut.

»Vorsicht! Die haben Strahlenwaffen!«

»ARCON, mach sie fertig!«

Blitze zuckten auf. Der Lärm von mehreren aufeinanderfolgenden Detonationen erfüllte die Luft. Eine Explosion ließ die Halle erzittern. Von der Decke rieselte Rost und Staub herab.

»Sie haben den Hubschrauber abgeschossen! Achtung, volle Deckung!«

Eine weitere Detonation erschütterte das Gebäude. Das Geräusch des zweiten Hubschraubers war verstummt.

»Feuer frei!«

Die Fensterscheiben zerbarsten. An mehreren Stellen flogen Tränengasgranaten und Rauchbomben herein. Im Nu war die Werkhalle von einem beißenden, undurchdringlichen Qualm erfüllt. Die beiden Jungen bekamen kaum noch Luft. Glücklicherweise verbreitete sich das Gas und der Nebel vornehmlich auf dem Boden der Halle, so daß sie in Höhe ihrer Köpfe noch einigermaßen frei atmen konnten.

»Mein Gott! Was ist das? — Zieht euch zurück, Männer!«

Vereinzelte Schüsse aus einem Sturmgewehr krachten, dann heulten Motoren auf und mit kreischenden Reifen entfernten sich mehrere Fahrzeuge.

Nick und Robert sahen einander voller Entsetzen an, so gut das eben ging, denn sie kehrten einander den Rücken.

»Meinst du, sie kommen noch einmal zurück?« fragte Robert mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen.

»Das ist egal«, meinte Nick sarkastisch und hustete keuchend. »Wenn sie zurückkommen, machen sie uns fertig, wenn nicht werden wir hier oben verschmachten.«

»Es ist so schrecklich still da draußen«, sagte Robert. »Nick, ich — ich wollte dir nur sagen, ganz gleich, was mit uns geschehen wird — ich meine — es war schön, dich zum Freund zu haben. Wir hatten eine gute Zeit miteinander…«

»Sie kommen herein«, sagte Nick und schluckte leer. Guter alter Rob! Er war wirklich ein lieber Kerl.

Durch den Nebel hindurch konnte er undeutlich das Licht einer starken Lampe erkennen.

 

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