Neuntes Kapitel

 

Wer rettet die Welt?

 

 

Beim Betreten des Raumgleiters merkte Robert sofort, daß etwas nicht in Ordnung war. Kirina lag auf dem Boden. Sie sah furchtbar aus. Ihr Gesicht war aschfahl, ihre Augen flackerten wild und auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß.

»Kirina, um Himmels Willen! Was ist geschehen?«

»Die Psyllion. Er hat mich… — Sie ist in mir.« Ihre Stimme erstarb. Ein Zittern lief durch ihren Leib. Von Krämpfen geschüttelt wälzte sie sich auf dem Boden. Robert versuchte sie festzuhalten, aber in ihr steckte eine enorme Kraft.

»Robert! Gib mir bitte den Photonenstrahler.«

»Den hat Nick. Ich habe nur den TED.« Er zog ihn aus dem Gürtel hervor. Kirina sah ihn an und seufzte.

»Der ist nicht stark genug. Dann mußt du es für mich tun. Du mußt…«

Sie konnte nicht weiter sprechen. Ein Hustenanfall unterbrach sie. Robert nahm sie in den Arm. Er klopfte sanft auf ihren Rücken, aber das half nicht viel. Nach mehreren qualvollen Minuten hörte der Husten endlich auf. Aus Kirinas Mund quoll blutiger Schleim.

»Es tut mir leid. Ich habe dein Hemd vollgeschmiert. Ich glaube, sie schläft jetzt, oder ruht sich aus«, flüsterte sie matt.

»Das ist doch ganz egal. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Nimm den TED und töte mich, bitte! Du mußt ihn direkt an die Schläfe halten und mindestens zehn Sekunden lang abdrücken. Ich würde es selber tun, wenn ich es könnte.«

Robert wandte das Gesicht ab. Er biß sich auf die Lippen. Wie könnte er das jemals tun?

»Kirina, bitte! Das kann ich nicht tun. Es muß doch einen Weg geben, wie man dir…«

»Robbi, ich bitte dich! Willst du wirklich zuschauen, wie ich elend zu Grunde gehe? Soll ich dir sagen, was geschehen wird? Sie sucht sich einen geeigneten Ort, um ihre Eier abzulegen. Sie tötet ihren Wirt nicht, sondern lähmt ihn nur und kontrolliert sein Gehirn. Bei Gefahr kann sie ihn zur Flucht antreiben. In vierundzwanzig Stunden schlüpfen die Jungen. Sie fressen den Wirt innerlich auf und schlüpfen nach weiteren vierundzwanzig Stunden heraus, auf der Suche nach einem neuen Opfer. — Ich flehe dich an, wenn dir irgend etwas an mir liegt, dann tue mir das nicht an!« Sie sank erschöpft in den Sessel zurück.

Plötzlich zuckte sie heftig zusammen. Ihr Gesicht verzerrte sich in grenzenlosem Schmerz. Sie versuchte tapfer dagegen anzukämpfen, aber es half nichts. Kirina mußte ihren Schmerz laut heraus schreien. Der Anfall dauerte über zehn Minuten. Danach war sie sehr still. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Atem ging flach und unregelmäßig. Robert sah auf die Waffe in seiner Hand. Seine Finger krallten sich um das kühle, glatte Metall.

Mit zitternden Händen zog er sein Taschentuch hervor. Vorsichtig tupfte er ihr den Schweiß von der Stirn.

»Bitte Kirina, du darfst nicht sterben!« flüsterte er. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest umklammert. Er spürte nicht, wie eine Träne seine Wange herab rann und auf Kirinas Gesicht fiel.

Kirina öffnete sie Augen. Auf ihrem Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck.

»Robbi! weinst du? Etwa um mich? Sei nicht traurig. Weißt du, als ich mich für die Mission bereit gemacht hatte, da wußte ich, daß ich nicht zurückkehren würde. — Es ist schon seltsam. Kaum hat man neue Freunde gewonnen — oder überhaupt welche —, da muß man sie schon wieder verlassen.« Obgleich das Sprechen sie sehr anstrengte, spürte sie dennoch ein starkes Bedürfnis zu reden, sich alles von der Seele zu reden, was sie in der letzten Zeit beschäftigt hatte.

Als sie nach zwanzig Minuten ermattet schwieg, fühlte Robert sich sehr betroffen, aber auch erleichtert.

»Ich werde diesen Schweinehund von Pillar finden und ihn in deinem Namen bestrafen. Und ich werde ein Mittel finden, um dich zu retten. Das verspreche ich dir, Kirina!« preßte er hervor.

»Nein, Robert! Tue das nicht. Du kannst mir nicht helfen. Dr. Pillar hat sich mit einem Mittel immunisiert, daß die Psyllion fernhält. Aber wenn sie erst einmal im Körper sind, dann gibt es keine Rettung mehr. Es hat keinen Sinn, daß du dich meinetwegen unnötig in Gefahr begibst. Bald wird die Spezial-Truppe der Sternenflotte hier eintreffen und die Sache bereinigen. Bis dahin müßt ihr euch von Pillar fernhalten. Wo ist Nick?«

Robert zuckte mit den Schultern. »Wir haben uns unterwegs getrennt«, sagte er. Er hielt es für besser, Kirina nichts von ihrem Zusammentreffen mit den Männern von der Luftaufklärung zu erzählen. In ihrem Zustand würde sie das nur unnötig aufregen.

»Dann gehe jetzt und suche Nick. Mache dir um mich keine Sorgen. Ich habe noch meinen ALDO. Wenn die Psyllion wieder aufwacht, wird sie bald die Kontrolle über meinen Körper übernehmen. Ich werde dann nicht mehr auf eurer Seite kämpfen können.«

Sie sank erschöpft zurück in den weichen Sessel. Robert streichelte ihr zerzaustes Haar mit den fünf kleinen Zöpfen, die mit verschiedenfarbigen Bändern durchflochten waren. Er bettete ihr Haupt behutsam auf ihren Mantel, den er zu diesem Zweck zusammenrollte. Als Kirina eingeschlafen war, verließ er rasch den Raumgleiter. Nach Hause gehen und sich verkriechen, das war das letzte, was er jetzt vorhatte. Den TED in der Rechten und den Visor vor den Augen marschierte er zügig über die Wiesen und Schutthalden in Richtung der Stadt. Irgendwo mußte sich doch der zweite Raumgleiter befinden.

 

Nick rannte so schnell ihn seine Beine trugen, aber der dunkle Wagen hinter ihm war schneller. Er hört die Bremsen quietschen und sah aus den Augenwinkeln wie die Männer aus dem Fahrzeug sprangen und im Halbkreis versuchten, ihm den Weg abzuschneiden. Er sah nicht, wohin er rannte, und so geschah es, daß er, während er sich nach seinen Verfolgern umdrehte, ins Straucheln geriet und zu Boden stürzte. Mit einer Geistesgegenwart, die er sich selber nie zugetraut hätte, gelang es ihm, noch im Fallen den Strahler zu ziehen. Er rollte sich über die linke Schulter ab, was sich als viel schmerzhafter erwies, als es bei den Helden im Fernsehen wirkte, und zielte nach dem Wagen.

Er drückte ab — ein gleißender Blitz, heller als der einer Blitzlichtbirne flammte auf. Am Kühlergrill des Wagens sprangen Bruchstücke ab, wie von einem schweren Projektil getroffen. Sofort stand der Wagen in Flammen. Sekunden später gab es eine Explosion. Nick spürte die Druckwelle der heißen Luft in seinem Rücken. Halb betäubt von der Detonation rannte er in die dunkle Nacht hinaus.

Er hörte erst auf zu rennen, als ihm die Luft ausging. Keuchend blieb er stehen. Er hatte heftiges Seitenstechen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder ein wenig zu Atem gekommen war und sein Puls sich soweit beruhigt hatte, daß er sein Herz wieder in der Brust und nicht mehr im Hals pochen spürte.

Hoffentlich hatten sie Rob nicht erwischt, dachte er. Aber es wäre unmöglich gewesen, seinen Freund zu suchen. Doch Rob war ein pfiffiger Typ. Der würde sich nicht erwischen lassen, sondern die Gelegenheit nutzen.

Aber was nun? Wahrscheinlich wäre es das beste, zu dem Raumgleiter zurück zu gehen. Vielleicht würde er dort auf Robert treffen. Er blickte sich um. Wo war er bloß gelandet? Im Gegensatz zu Robert kannte er sich in dieser Gegend überhaupt nicht aus.

Er lief eine Zeitlang ziellos umher, bis er vor Müdigkeit stehenblieb. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, daß es bereits nach Mitternacht war. Was sollte er jetzt tun? Er hatte völlig die Orientierung verloren. Das beste wäre, wenn er irgend einen Unterschlupf finden würde, wo er bis zum Morgen ausharren könnte.

Nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsches durch die Ödnis traf er endlich auf die Landstraße. Ein Schild am Straßenrand machte ihn darauf aufmerksam, daß es noch zehn Kilometer bis in die Stadt waren. So weit konnte und wollte er nicht mehr gehen. Als er endlich an eine Bushaltestelle kam, ließ er sich schwer auf die Bank im Wartehäuschen fallen. Der nächste Bus würde erst um halb sechs Uhr morgens abfahren.

Nick schlug den Kragen seiner Jacke hoch und steckte die Hände in die Taschen. Er lehnte sich an die Seitenwand des Häuschens und schloß die Augen. Wenn er auch nicht schlafen konnte, so könnte er doch wenigstens ein wenig dösen. Es dauerte keine zehn Minuten, da war er bereits fest eingeschlafen.

 

Robert brauchte nicht lange zu suchen. Mit Hilfe des Visors gelang es ihm rasch, das Energiefeld, das den Raumgleiter umgab und ihn vor neugierigen Blicken schützte, zu orten. Er befand sich in der gleichen Gegend wie Kirinas Raumschiff, ungefähr einen Kilometer südlich auf einer eingezäunten Viehweide. Wenigstens würden hier nicht viele Leute vorbeikommen, so daß die Gefahr entdeckt zu werden gering war. Was er am wenigsten brauchen konnte, war eine weitere Begegnung mit den Regierungsleuten.

Mit bloßen Augen war von der Fliegenden Untertasse nichts auszumachen, außer vielleicht einer etwas eingedrückten Stelle am Boden, wo die Landestützen auflagen. Mit dem Visor vor den Augen hingegen sah Robert deutlich die Umrisse dieser zweiten, größeren Untertasse, die sich in leuchtenden Farben gegen den dunklen Hintergrund abzeichnete.

»Hoffentlich funktioniert die Fernbedienung auch bei diesem Modell«, murmelte er und benutzte das Gerät in der Weise, wie Kirina es ihn gelehrt hatte.

Robert hatte Glück. Es leises Summen ertönte und nach einigen Sekunden begannen sich die Umrisse des Raumschiffes flirrend und verschwommen vor ihm abzuzeichnen. Zuerst sah es aus wie eine Luftspiegelung über einer heißen Sandfläche im Sommer. Dann nahmen die Umrisse rasch an Farbe und Gestalt zu, bis nach etwa fünfzehn Sekunden die Untertasse silbrig schimmernd im fahlen Halbmondlicht vor ihm stand.

Er zog den TED aus der Tasche und näherte sich vorsichtig dem Eingang, der sich soeben leise ratternd auftat. Wachsam schlich er mit der Waffe im Anschlag die Stufen hinauf, so wie er es in unzähligen Kriminalfilmen den Spezialisten der Polizei abgeschaut hatte, wenn irgendwo ein Gebäude gestürmt wurde.

Das Innere der Untertasse glich der ihm bekannten Einrichtung, war aber viel geräumiger. Die Sitze für die Besatzung und Passagiere waren anders angeordnet und zahlreicher. Der Raumgleiter konnte gut ein Dutzend Personen fassen.

Als Robert in den Leitstand trat, fand er, wie er es bereits erwartet hatte, niemanden vor. Der Doktor und der Android hatten den Raumgleiter verlassen und alles brauchbare mitgenommen. Er fand weder Waffen noch Lebensmittel oder andere Hilfsmittel, die im Kampfe gegen die Übeltäter nützlich sein könnten.

Robert beschloß, hier den Rest der Nacht zu verbringen. Zu dieser vorgerückten Stunde wäre es nicht sehr klug, sich auf die Suche nach Nick oder dem Doktor zu machen. Hinzu kam, daß er eine bleierne Müdigkeit in allen Gliedern zu spüren begann, als er sich einen Augenblick lang in einen der bequem gepolsterten Pilotensessel gesetzt hatte. Er achtete sorgfältig darauf, daß die Einstiegsluke fest verschlossen und die Tarnvorrichtung in Betrieb war, als er sich zum Schlafen hinlegte. Morgen früh würde er versuchen, die Telemetrie des Schiffes in Tätigkeit zu setzen, um mit den stärkeren Geräten an Bord den ARCON und damit wahrscheinlich auch den Aufenthaltsort von Pillar zu ermitteln.

Trotz seiner Erschöpfung wollte Robert keinen rechten Schlaf finden. Unruhig wälzte er sich in einem flachen, an Traumbildern reichen Schlummer hin und her. In seinen Träumen war er ständig auf der Flucht. Er hatte den Eindruck gleichzeitig von dem ARCON und dem Doktor verfolgt zu werden; und so schnell er auch lief, so findig er die beiden abzuhängen versuchte, half doch alles nichts. Irgendwie erging es ihm wie dem Hasen und dem Igel. Am Ende erwischte ihn der ARCON und hielt ihn mit eisernen Klauen fest.

Von Schweiß durchnäßt und mit einem starken Gefühl der Beklemmung in der Brust erwachte Robert endlich. Sein Herz raste und er brauchte einige Augenblicke um zu erkennen wo er sich befand.

»Guten Morgen!« sagte eine bekannte Stimme. Robert fuhr in seinem Sessel herum — Hinter ihm stand der ARCON in voller Größe.

Robert versuchte zwar noch, nach dem TED zu greifen, aber noch bevor er die Hand in die Tasche stecken konnte, fühlte er sich von dem ARCON gepackt und so fest gehalten, daß er sich nicht mehr rühren konnte.

»Du kommst mit«, sagte der Android. Das war unmißverständlich. Robert erkannte, daß er diese Einladung nicht abschlagen konnte.

Nachdem der ARCON den TED an sich genommen hatte, ergriff er Roberts Handgelenk und zerrte ihn hinter sich her aus dem Raumgleiter.

Draußen ging gerade die Sonne über dem Horizont auf; ein Anblick, den Robert besonders gern mochte, vor allem, da er ihn als ausgemachter Morgenschläfer äußerst selten zu Gesicht bekam. Heute aber blieb ihm dieser Genuß gründlich versagt. Der ARCON schleifte ihn unerbittlich über die vom Morgentau feuchten Wiesen hinter sich her, ungeachtet seiner Proteste und Bitten. Der ARCON legte ein derartiges Tempo vor, daß Robert keuchend hinter ihm hertraben mußte, wenn er nicht zu Boden gerissen und mitgeschleift werden wollte. Die Kraft und Energie des Androiden war bewundernswert, beziehungsweise fürchterlich — aus Roberts Sicht. Ein Pferd könnte nicht mehr Kraft haben.

Robert verspürte erstaunlicher Weise in diesem Augenblick keine Furcht. Im Gegenteil, er war geradezu neugierig, zu sehen, wo Pillar sein neues Laboratorium aufgebaut haben mochte. Vermutlich würde er sich aber bald anders fühlen, wenn er dem Wahnsinnigen gegenüber stand und der grausamen Prozedur, deren Ergebnis er an Kirina hatte sehen können, entgegen blickte. Hoffentlich würde es Nick gelingen, ihn bald aufzuspüren.

 

Als Nick die Augen aufschlug, sah er zuerst nur den blauen Himmel, dann merkte er, daß eine schwere Hand sich auf seine Schulter gelegt hatte und ihn kräftig schüttelte. Mit einem Schreckensschrei sprang er auf die Füße. Instinktiv nahm er eine Abwehrstellung ein.

»He! was soll denn das? Bist du verrückt?« rief eine tiefe Männerstimme.

Langsam kam Nick zur Besinnung. Er befand sich nicht in Pillars Keller und der Mann, der ihn an der Schulter gepackt hatte war nicht der ARCON, sondern ein freundlich blickender, kräftiger Mann in Arbeitskleidung mit einer großen, blechernen Brotbüchse unter dem Arm.

»Entschuldigung!« stammelte Nick verwirrt. »Ich habe eine schlechte Nacht hinter mir.«

»Ja! So siehst du auch aus«, meinte der Mann mit einem freundlichen Grinsen und fügte hinzu: »Wenn du auf den Bus wartest, der kommt gerade. Was immer du ausgefressen hast, es ist das Beste, du machst dich auf den Weg nach Hause.«

Nick nickte stumm und streckte sich. Ihm war kalt und er hatte ungeheuren Durst. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, erst einmal nach Hause zu fahren, eine heiße Dusche zu nehmen und ausgiebig zu frühstücken. Er stieg in den Bus ein und setzte sich vorn ans Fenster. Der Bus fuhr ziemlich schnell und die Abstände zwischen den Haltestellen waren hier draußen vor der Stadt recht groß. Als der Wagen unvermittelt abbremste und im Schrittempo eine Wagenkolonne passierte, die am rechten Straßenrand stand, mußte Nick sich tief ducken. Am Straßenrand stand ungefähr ein halbes Dutzend schwarzer Limousinen und Kastenwagen. Alle waren ohne Aufschrift, besaßen aber Kennzeichen der Bundesregierung. Die Männer, welche neben den Wagen standen und im Begriffe waren, in die umliegenden Felder auszuschwärmen, sahen nicht besonders vertrauenswürdig aus. Offenbar suchten sie etwas, oder jemanden.

Während die übrigen Fährgäste die Hälse reckten und aus den Fenstern starrten, tat Nick so, als bände er seine Schuhe zu. Beim Anblick der schwarz gewandeten Männer bekam er ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Die Sache begann langsam heiß zu werden. Mit ihren Meßgeräten würden sie früher oder später die beiden Raumgleiter aufspüren — und dann Gute Nacht, Kirina!

Das Frühstück fiel also ins Wasser. Nick stieg an der nächsten Haltestelle aus. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Tankstelle mit Laden. Dort kaufte er sich etwas zu essen und einen Becher Kaffee aus dem Automaten.

Bis zu dem Gelände, wo Kirinas Raumgleiter stand, war es noch ein gutes Stück zu Gehen. Zum Glück suchten die Regierungsleute in der entgegengesetzten Richtung und er hoffte, daß es noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie ihren Irrtum bemerkten und das richtige Gelände zu erforschen begännen.

Leider hatte er es verabsäumt, sich die genaue Stelle zu merken, was aber bei Nacht ohnehin nur schwer zu bewerkstelligen war. So mußte er im Zickzack über die struppige Ebene laufen, bis er auf einmal gegen eine weiche aber unnachgiebige Barriere lief. Das mußte das Kraftfeld sein, welches den Raumgleiter umgab. Fasziniert tastete er mit den Händen nach der Oberfläche des unsichtbaren Gebildes.

Was nun? Das Raumschiff war von einem unsichtbaren und undurchdringlichen Kraftfeld umgeben und zudem selber unsichtbar. Die Fernbedienung zum Ausschalten der Tarnvorrichtung besaß Robert. Nick sah sich nach allen Seiten um. Als er niemanden ausmachen konnte, rief er laut nach Kirina und Robert. Vielleicht könnten sie ihn im Inneren hören. Aber das schien nicht der Fall zu sein, denn sein Rufen und Schreien blieb ohne Erfolg. Enttäuscht setzte er sich in das feuchte Gras. Falls die beiden wirklich in dem Raumgleiter waren und ihn nicht gehört hatten, blieb ihm nur noch eine Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen: der Photonenstrahler. Wenn er einen Schuß auf das Schutzfeld abgäbe, würde das bestimmt eine Reaktion im Inneren auslösen. Aber was wäre, wenn er damit das Kraftfeld durchdränge, am Ende gar das Raumschiff selber beschädigte, oder die Tarnvorrichtung außer Betrieb setzte?

Er verwarf diesen Gedanken wieder. Schon wollte er sich wieder auf den Weg machen, als ihm einfiel, daß er ja ein Funkgerät besaß. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Was war er doch für ein Esel. Er zog den Stift aus der Innentasche seiner Jacke und drückte auf den Knopf.

»Hallo Kirina! Hier ist Nick, Bitte melden!« Aus dem Gerät kam keine Antwort, obgleich die Anzeige auf Funktionsbereitschaft stand. Er versuchte es ein weiteres Mal. Als er den Kommunikator wieder einstecken wollte, hörte er ein Knacken aus dem winzigen Lautsprecher und Kirina antwortete ihm mit heiserer Stimme.

»Wo bist du, Nick?«

»Ich stehe vor dem Raumgleiter und komme nicht hinein.«

»Bleibe da und warte, bis ich komme. Es dauert nicht lange. In einer Viertelstunde bin ich bei dir und hole dich ab.«

»Kirina, wo bist du? Geht es dir wieder gut? Ist Rob bei dir?«

»Warte bis ich komme!« Der Kontakt brach ab.

Nick runzelte die Stirn. Was hatte das zu bedeuten? Wohin war sie gegangen und warum was sie so kurz angebunden? Er ließ sich in das weiche, duftende Heidekraut fallen, das die Ebenen überwucherte. Seine Gedanken schweifen weit umher, trotzdem verging die Zeit sehr schleppend. Er gähnte und streckte seine steifen Glieder. Die Nacht auf der Bank im Freien war alles andere als erholsam gewesen.

Ein leises Rascheln hinter ihm ließ ihn herumfahren. In der letzten Zeit war er sehr schreckhaft geworden. Er sprang auf die Füße und sah Kirina direkt ins Antlitz.

»Gott sei Dank! da bist du ja! Wo ist Rob? Ist er nicht bei dir? Wir haben uns gestern Nacht aus den Augen verloren. Ich hatte gehofft, daß er sich inzwischen bei dir gemeldet hat.«

»Ja, er ist bei uns. Es geht ihm gut. Komm mit. Ich muß dir etwas zeigen«, sagte sie heiser.

Nick betrachtete das Mädchen eingehend. Kirina war sehr blaß und wirkte tief erschöpft. Ihre Augen waren glanzlos und ihre Pupillen sehr klein. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie wirkte völlig verändert. War das die Wirkung der TED-Strahlen oder war irgend etwas anderes geschehen?

»Geht es dir auch gut, Kirina? Du siehst müde aus. Aber wenigstens hast du dich von dem Unfall mit dem TED wieder erholt.«

»Ja!«

Sie hielt Nick am Ärmel fest und zog ihn mit sich. Nachdem sie einige Meter marschiert waren, blieb sie unvermittelt stehen.

»Hast du den Strahler noch?« Nick nickte und zog ihn aus dem Gürtel.

»Gib ihn mir!«

Zögernd legte er die Waffe in Kirinas ausgestreckte Hand. Irgend etwas war mit ihr nicht in Ordnung. Er beschloß, ein Auge auf sie zu haben.

»Wo gehen wir hin?« fragte er.

»Das siehst du, wenn wir dort sind«, war die wenig freundliche Antwort.

Kirina führte ihn in zügigen Schritten über die Ebene, vorbei an der Mülldeponie und dem Autoschrottplatz in Richtung einer ehemaligen Industrieanlage. Das Gelände war sehr weitläufig und unübersichtlich.

Nach einer guten Viertelstunde Fußmarsches, konnte Nick die Türme einer stillgelegten Gießerei ausmachen.

»Sollen wir da hinein?« fragte er, aber Kirina gab keine Antwort, sondern ging ohne den Kopf nach ihm zu wenden weiter.

»Jetzt reicht es mir aber! Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor du mir nicht gesagt hast, wo du hin willst und was wir da drinnen sollen«, rief Nick erzürnt und blieb stehen. Kirina drehte sich um und fixierte ihn mit eiskaltem Blick.

»Du kommst mit, oder…«

»Oder was?« fragte er herausfordernd.

»Du kommst mit mir mit, freiwillig, oder ich zwinge dich.«

»Das wollen wir doch mal sehen!« rief Nick und machte kehrt.

Er kam keine zwei Schritte weit, da wurde er von hinten gepackt und herumgerissen. Er versuchte, Kirina zu packen und festzuhalten, aber sie entwand sich seinem Griff. Ein wohlgezielter Tritt von ihr brachte ihn zu Fall. Blitzschnell rollte er zur Seite und rappelte sich auf. Es gelang ihm, ihrem Schlag auszuweichen. Irgendwie bekam er sie zu fassen. Jetzt war er froh, daß er vor Jahren einmal einige Stunden Unterricht in Judo genommen hatte. Er faßte sie am Arm und warf sie zu Boden. Kirina blieb auf dem Bauch liegen und rührte sich nicht.

Als Nick sich über sie beugte, um nach ihr zu sehen., schnellte sie wie ein gespanntes Gummiband in die Höhe. Sie versetzte ihm einen harten Schlag in den Magen, der ihm die Luft raubte. Nick ging in die Knie und preßte die Augen zusammen. Als er wieder aufstehen konnte, sah er in die Mündung des Photonenstrahlers.

»Kommst du jetzt mit, oder muß ich dich zusammenschießen?«

Unter anderen Umständen hätte Nick es darauf ankommen lassen, da er davon ausging, daß sie niemals fähig gewesen wäre, ihm etwas zu leide zu tun. Aber ein Blick aus ihren kalten, unsteten Augen und das unkontrollierte Zucken in ihrem Gesicht warnten ihn vor jeder unbedachten Bewegung.

»Du gehst voraus«, befahl sie ihm atemlos.

Der Kampf mußte sie sehr viel Kraft gekostet haben, viel mehr als es bei ihrer ausgezeichneten Kondition und ihrer sportlichen Figur zu erwarten gewesen wäre. Nick fragte sich, was mit ihr geschehen war. Zweifellos stand sie unter einem fremden Einfluß.

»Kirina, was haben sie mit dir angestellt? Da steckt doch der Doktor Pillar dahinter, nicht wahr?«

»Der Doktor ist ein guter Freund von mir. Bald wirst auch du so denken. Er hat etwas für dich und deinen Freund, das will er dir jetzt zeigen.«

»Was habt ihr mit Robert gemacht? — Mein Gott! Die Psyllion! — Ist es das?«

Kirina antwortete nicht, sondern stieß ihm schmerzhaft die Spitze des Strahlers in den Rücken. Nick blieb vor einem hohen mit Stacheldraht bewehrten Gittertor stehen.

»Los, rein da!« befahl Kirina.

»Es geht nicht auf. Da ist ein Schloß dran. Außerdem steht auf dem Schild, daß unbefugtes Betreten…«

Ein Blitz, ein Knall und der Geruch von geschmolzenem Stahl erfüllte die Luft. Funken stoben in die Luft. Erschrocken sprang Nick zur Seite. Kirina hatte das Schloß kurzerhand mit dem Strahler aufgesprengt.

»Bist du verrückt? Du hättest mich beinahe getroffen!« schrie er und betrachtete mit Entsetzen die Brandlöcher, welche die Funken in seine Jacke geschmort hatten. Vorsichtig stieß er das Tor auf, darauf achtend den rotglühenden Metallteilen nicht zu nahe zu kommen.

Kirina beachtete ihn nicht, sondern stieß ihn roh vorwärts. Zielstrebig lenkte sie ihn in eine der verlassenen Werkhallen.

Donnernd schlug die schwere Eisentür hinter ihm zu. Ein Licht flammte auf. In dem Halbdunkel der großen Halle konnte Nick, dessen Augen sich erst an die Lichtverhältnisse gewöhnen mußten, keine menschlichen Gestalten erkennen. An einer Kette von einem Lastkran hing etwas herab, das leicht im Luftzug hin und her schwang.

Ein weiteres Licht ging an. Nick hielt den Atem an.

»Nick, bist du das?« fragte eine schwache Stimme. Es war Robert, der an den Händen gefesselt von der Kette hing. Nick lief zu ihm hin.

Sein Freund sah schlimm zugerichtet aus. Robert hatte kaum die Kraft, den Kopf zu heben. Er mußte wohl seit Stunden dort hängen.

»Rob, was haben sie mit dir gemacht?«

»Sie wollten wissen, wo du bist. Aber ich hab’s doch nicht gewußt. Es tut mit leid, Nick. Ich fürchte, wenn ich gewußt hätte, wo sie dich finden konnten, hätte ich es ihnen gesagt.«

»Das ist in Ordnung. Ich hole dich da runter.«

»Das wirst du schön bleiben lassen«, sagte eine Stimme aus dem Dunkeln. Es war der Doktor, der in den Lichtkegel der Lampe trat.

»Gut gemacht, Kirina. Das wäre jetzt der vierte. In ein paar Stunden haben wir alle zusammen.«

Jetzt erst erkannte Nick, daß außer ihnen noch zwei weitere Personen in dem Raum waren. Im Hintergrund lagen zwei junge Männer gefesselt und geknebelt auf einer Werkbank.

»Ja, meine Lieben. Die Psyllion warten auf euch. Ihr habt die Ehre die ersten der neuen Menschheit zu sein, die das Privileg haben werden, mir zu dienen.

Nick erschauerte. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Irgend etwas müßte er jetzt tun. Robert war gefesselt, Kirina stand auf der Gegenseite und außer ihm wußte keiner, was hier vorging.

Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite und sah aus dem Augenwinkel, wie Kirina sich anschickte, auch ihn mit einer Kette zu fesseln.

Jetzt oder nie! dachte er. Er wirbelte auf den Absätzen herum, schlug Kirina den Strahler aus der Hand, der im Schein der Lampen aufblitzend über den Boden schlidderte und im Dunkeln verschwand. Kirina machte einen Satz nach der Waffe. Nick wollte ihr zuvorkommen, als ein scharfer Knall die Luft zerriß.

Dr. Pillar stand hinter ihm mit einer großkalibrigen Pistole in der Hand, aus deren vernickelten Lauf eine dünne, bläuliche Rauchfahne aufstieg.

»Schrecklich primitiv, diese ballistischen Waffen, aber trotzdem sehr effizient«, meinte er, mehr zu sich selber.

Nick ließ den Kopf hängen und biß sich auf die Unterlippe. Nun war alles verloren. Und wer sollte jetzt die Welt retten?

 

 

Vorheriges Kapitel

Seitenanfang

Nächstes Kapitel

Titelseite/Inhaltsverzeichnis

Home

© 2002 FIE. All rights reserved. - Stand: 06. Januar 2002 06:29