Achtes Kapitel

 

Kirina in der Falle

 

 

Unter ungeheurer Anstrengung gelang es Kirina, ihr linkes Bein einige Zentimeter zu bewegen. Bei jeder noch so geringen Muskelanstrengung fuhr ihr ein prickelnder Schmerz durch alle Glieder. Es war, als würden ihr ständig Tausende winziger Nadelstiche versetzt. So unangenehm dieser Zustand auch war, so fühlte sie sich doch sehr erleichtert, denn er bedeutete, daß die Wirkung der TED-Strahlung nachließ und sie bald wieder fähig wäre aufzustehen und zu gehen. Vielleicht wäre sie in einigen Stunden sogar in der Lage, die Verfolgung der Flüchtigen wieder aufzunehmen.

Ein Geräusch an der Eingangsluke ließ sie aufhorchen. Waren die beiden Jungen schon wieder zurück?

»Nick, Robbi, seid ihr schon wieder da?« rief sie. An Stelle einer Antwort hörte sie nur ein leises Schnaufen. Schwere Schritte tappten die Metallstufen hinauf.

»Ich hoffe, ich störe nicht zu dieser späten Stunde«, ließ sich eine unangenehme Stimme vernehmen.

»Pillar! Was tun Sie denn hier?« rief Kirina erschrocken.

»Keine Bewegung! Lasse deine Hände schön auf der Konsole. Ich würde nur ungern ein Loch in diesen schönen Körper brennen.«

»Wie — wie haben Sie es geschafft herein zu kommen? Der Eingang ist doch…« sie verstummte, als sie das kleine silberne Kästchen sah, das der Doktor in die Höhe hielt.

»Hiermit ist es ganz einfach. Dein junger Freund war so freundlich, es mir zu überlassen, nachdem ihn der ARCON höflich darum gebeten hatte.«

»Was habt ihr ihm getan? Wenn ihr ihm etwas getan habt, dann werde ich euch betrafen. Ich lasse nicht zu…«

»Halt den Mund! Es geht dem jungen Mann gut; ihm wurde kein Haar gekrümmt, wie man hierzulande sagt — noch nicht. Zuerst aber bist du dran. Ich bin es leid, daß du dauernd meine Pläne vereitelst. Ich habe dir daher etwas mitgebracht.«

Er zog mit der linken Hand ein zylindrisches Gefäß aus der Manteltasche, während er mit der Rechten einen Photonenstrahler auf Kirina gerichtet hielt. Vorsichtig, das Mädchen keine Sekunde aus den Augen verlierend, trat er an sie heran. Er hielt ihr das Glas vor die Nase. Kirinas Augen weiteten sich. Sie versuchte zurückzuweichen, aber ihr Körper wollte ihr noch nicht recht gehorchen. Ihre verzweifelten Anstrengungen weckten Pillars Aufmerksamkeit.

»Da stimmt doch etwas nicht mit dir. Könnte es sein, daß du nicht aufstehen kannst? Nicht gehen, dich gar nicht wehren?« Es sah sie forschend an. Dann hellte sich seine Miene auf. Er setzte ein breites, gemeines Grinsen auf.

»Du hast dich mit deinem eigenen TED außer Gefecht gesetzt? Oder war es einer der beiden Jungen?«

Kirina antwortete nicht. Sie sah ihn nur trotzig an und biß die Zähne aufeinander. Pillar stellte das Glas auf die Konsole und drehte Kirinas Sessel einige Male im Kreis herum.

»Mal sehen, wie stark die Wirkung noch anhält und wieviel du schon wieder spürst. Tut das weh?« fragte er und trat ihr heftig gegen das Schienbein. Kirina verzog keine Miene.

»Offenbar nicht. Und das?« Er versetzte ihr einen kurzen Schlag in den Magen. Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. Aber es drang kein Laut von ihren Lippen. Pillar kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Ich habe gelesen, daß die Wirkung von oben her nachläßt.« Er packte einen ihrer Zöpfe und zog ihren Kopf empor. Kirina verzog schmerzhaft das Gesicht, sagte aber keinen Ton, sondern preßte die Lippen fest aufeinander. Befriedigt von seinen Versuchen ließ Pillar von ihr ab.

»Bestens, dann werde ich den hier gar nicht brauchen«, sagte er und steckte den Strahler ein und nahm das Glas wieder zur Hand.

»Irgendwo hatte ich doch… ah, da! ja!« Er fischte in der anderen Manteltasche nach einer Greifzange.

»So, dann wollen wir mal. Wo soll ich sie ansetzen? Etwas weiter unten, wo es nicht weh tut, oder im Gesicht? — Ich denke am besten ist die Nase dafür geeignet. Das geht schnell und schmerzvoll.«

Aus Kirinas Gesicht war alle Farbe gewichen. Sie versuchte verzweifelt aufzustehen, irgendwie auf die Beine zu kommen. Inzwischen hatte der Doktor das Gefäß geöffnet und die Psyllion mit der Zange herausgenommen. Er hielt sie in die Höhe und streichelt mit der anderen Hand vorsichtig über den fahlgrauen Wurmleib.

»Aber wieso…?« Kirina traute ihren Augen nicht.

»Ich habe ein Mittel gefunden, das die Psyllion nicht ausstehen können. Damit habe ich mich geimpft. Auf diese Weise bin ich immun und kann gefahrlos mit ihnen umgehen. Da schau her!« Er näherte die Psyllion seinem eigenen Gesicht. Kirina konnte sehen, wie der Wurm sich wand und von dem Gesicht weg strebte.

»Und jetzt umgekehrt.« Er näherte die Zange Kirinas Gesicht. Die Psyllion reckte und streckte sich nach Kirinas Nase. Sein kleines, zähniges Maul schnappte gierig auf und zu.

»Bitte! Warum tun Sie das? Was haben Sie davon, mich zu töten?« Pillar betrachtete sie aufmerksam. Der Anblick ihrer weit aufgerissenen Augen mit den großen Pupillen, in denen sich die nackte Angst spiegelte, befriedigte ihn ungemein.

»Abgesehen davon, daß es mir ganz einfach Spaß macht, hübsche, junge Mädchen zu quälen, habe ich gar nicht vor, dich umzubringen. Wenn du dich nicht zu heftig wehrst, dann wird dir nicht viel geschehen und du kannst lange Zeit mit der Psyllion leben. Das hier ist eine Mutation. Sie wird dich nicht auffressen — naja, ein bißchen schon, aber nicht zu sehr — sondern sie wird dafür sorgen, daß du gefügig wirst. Du wirst bald auf unserer Seite stehen. He, he, he.« Sein grausames Lachen drang ihr durch Mark und Bein und erschreckte sie fast noch mehr als seine Worte. Dieser Mann war wirklich geisteskrank.

»Willst du noch etwas sagen, bevor ich anfange, oder soll ich deinen Freunden noch irgend welche Grüße bestellen?«

»Aldo! Ich gebe dir den Befehl…« Pillars Hand legte sich auf ihren Mund, bevor sie aussprechen konnte. Er betätigte einige Schalter auf der Steuerungskonsole.

»Deinen elektronischen Freund wirst du nicht mehr brauchen. Und jetzt: Sag’ schön ›Gute Nacht!‹«

Er setzte die Psyllion auf Kirinas Nasenrücken ab. Im Bruchteil einer Sekunde war die winzige Kreatur in einem der Nasenlöcher verschwunden. Kirina schnaubte und schüttelte den Kopf. Aber das half alles nichts.

Sie hatte sich fest vorgenommen, Pillar ihre Angst nicht spüren zu lassen, sondern ihrem Schicksal geduldig entgegenzutreten, aber das erwies sich in diesem Augenblick als unmöglich. Vielleicht hätte sie es fertig gebracht, einem Erschießungskommando lächelnd entgegenzutreten, aber die Psyllion war eine so unheimliche, unfaßbare Bedrohung, daß sie sich nicht mehr zurückhalten konnte. Schreiend und weinend wand sie sich aus dem Sessel. Unter Aufbietung aller Kräfte, schaffte sie es sogar für einen Augenblick auf ihren Beinen zu stehen, bevor sie zusammenbrach und zu Boden stürzte.

Dr. Pillar konnte sich einer gewissen Bewunderung nicht entziehen.

»Mach’s gut, Kirina. Ich freue mich schon auf unsere baldige enge Zusammenarbeit. Ich bin davon überzeugt, daß du mir genau so wertvoll werden wirst wie der ARCON.« Er imitierte spöttisch den Gruß der Sternenflotte und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie! Bitte! Können Sie nicht den Navigator wieder einschalten. Ich hätte gerne jemanden zum Reden.« Kirina lag auf der Seite. Aus ihrer Nase rann ein dünner Blutfaden. Ihr Gesicht zuckte unkontrolliert.

»Von mir aus. Aber ich werde die Hauptsteuerung abschalten.« Pillar hantierte an der Konsole. Wenig später erschien das vertraute Gesicht des ALDO auf allen Sichtschirmen.

»Aldo! Kannst du mich hören?«

»Ja, Kirina, was ist geschehen?«

»Ist er fort? Dann verriegele den Einstieg und…«

»Das kann ich leider nicht tun. Die Hauptsteuerung ist abgeschaltet. Ich habe keinen Zugriff auf die Computer-Interfaces.«

»Dann befehle ich dir hiermit, die Sauerstoffgeneratoren und die übrigen Versorgungssystemen abzuschalten.«

»Das kann ich nicht tun. Solange die Mannschaft an Bord ist, müssen die Versorgungssysteme in Betrieb bleiben. Ich kann deinen Befehl nicht ausführen. Das verhindert meine Programmierung. — Kirina, was ist? Warum schreist du?«

»Ich schreie, weil es weh tut, du Blechkopf! Wenn du wüßtest, wie das tut, würdest du auch schreien, aber dazu fehlt dir der Kopf.«

»In diesem Falle bin ich froh, daß ich keinen Kopf habe, der mir weh tun könnte.«

»Aldo! Ich will, daß du alles was du wahrnimmst und was ich sage oder tue, aufzeichnest.«

 

Die Explosion war so heftig, daß Robert eine Weile lang gar nichts mehr hörte. Er hatte das Gefühl, ihm sei das Trommelfell geplatzt. Vorsichtig lugte er über den Rand des Straßengrabens. Der schwarze Kastenwagen am Straßenrand stand in Flammen und brannte lichterloh. Einige der Männer saßen orientierungslos auf der Erde, der Anführer war nicht zu sehen.

Was war mit Nick geschehen? Er war doch nicht etwa bei der Explosion verletzt worden? Dieser Gedanke flößte Robert einen tüchtigen Schrecken ein. Dann aber besann er sich. Vor der Explosion hatte er doch einen Lichterblitz gesehen. Das konnte nur Nicks Photonenstrahler gewesen sein. In diesem Fall durfte er annehmen, daß sein Freund sich in sicherer Entfernung von dem Fahrzeug befunden haben mußte. Wie sollte er ihn aber finden? Die Männer waren noch immer da und es würde nicht lange dauern, bis sie sich wieder aufgerappelt hätten und die Verfolgung erneut aufnähmen; nur diesmal entsprechend vorsichtiger und wütender.

Nein, Nick würde dasselbe denken. Es war also besser, sich getrennt aus dem Staub zu machen. Wenn die Kerle sie erwischten, dann gäbe es riesigen Ärger. Immerhin hatten sie Regierungsbeamte angegriffen und ein Fahrzeug in Brand geschossen. Darauf stand Zuchthaus. Robert bekam weiche Knie. Sein Gehör stellte sich nach und nach wieder ein, so daß er durch das Prasseln der Flammen und das Knacken des heißen Metalles die Stimmen seiner Verfolger vernehmen konnte. Er beschloß, daß es das beste sei, zu Kirinas Untertasse zurückzukehren.

 

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